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Corona-Jahr 2020: "Untersterblichkeit" in Deutschland

Studie ermittelt höhere Sterblichkeit für Spanien und Schweden. Wie kann man zu einer gesünderen Gesellschaft kommen?

Es ist Herbst. Kälteres und nasseres Wetter erleichtert den Erkältungsviren die Verbreitung. Wie erwartet steigt nun auch wieder die Anzahl der positiven Coronatests.

Laut Zahlen des RKI sind nun ziemlich genau zwei Drittel der Deutschen vollständig geimpft [1]. Zusätzlich wurden rund 1,5 Millionen Auffrischungsimpfungen vergeben.

Allerdings zeigt ein Vergleich nach Bundesländern deutliche Unterschiede: Im Nordwesten (sowie Berlin und dem Saarland) ist die Impfquote mit 66 bis 76 Prozent besonders hoch. Im Südosten liegt sie jedoch zwischen 56 und 64 Prozent.

Bei den Impfungen in Deutschland gibt es ein Nordwest- und Südost-Gefälle. Quelle: RKI (Stand vom 22.10.)

Während auf Bundesebene diskutiert wird, die "pandemische Lage" auslaufen zu lassen, streitet man sich andernorts darüber, ob 2G- oder 3G-Maßnahmen für Veranstaltungen besser geeignet sind. Mit anderen Worten: Werden auch Menschen, die weder geimpft, noch als genesen registriert sind, mit einem negativen Testergebnis zugelassen?

Sterblichkeit im Corona-Jahr 2020

In diesem Klima mit seinen weiterhin offenen Fragen und Unsicherheiten berichtete nun die Universität Duisburg-Essen (Motto: "Offen im Denken") von einer Studie aus dem eigenen Haus: Mediziner um Priv.-Doz. Dr. Dr. Bernd Kowall vom Institut für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie am Universitätsklinikum Essen haben die Sterbezahlen Deutschlands im Jahr 2020 mit denen Spaniens und Schwedens verglichen [2] (vgl. Studie: 2020 sind weniger Menschen in Deutschland gestorben [3]).

Spanien wurde von der Pandemie besonders hart getroffen. Schweden begegnete ihr bekanntermaßen mit vergleichsweise leichten Regeln: Hier setzte man anfangs auf ein möglichst schnelles Erreichen der "Herdenimmunität".

Die Studie der Essener Mediziner wurde extern begutachtet und ist online erschienen [4]. Ein besonderer Clou besteht darin, auch Trends in der Altersentwicklung und Lebenserwartung der Bevölkerung mitzuberücksichtigen.

Bei den Todesursachen streitet man sich darum, ob jemand "an" oder "mit" dem Coronavirus gestorben ist. Auch wenn wir gerne die Ursache benennen wollen, kommen im echten Leben oft mehrere Faktoren zusammen. Diese Schwierigkeit umgeht die neue Studie, indem sie schlicht die Sterbezahlen von 2020 mit den Vorjahren 2016 bis 2019 vergleicht.

Untersterblichkeit in Deutschland

Das Ergebnis dürfte viele überraschen: Wenn man die zunehmende Alterung der Gesellschaft berücksichtigt, sind in Deutschland im Jahr 2020 2,4 Prozent weniger Menschen gestorben, als man es aufgrund der Vorjahre erwartet hätte. Anders so in Schweden und Spanien: Hier ließ sich eine Übersterblichkeit von rund 3 beziehungsweise 15 Prozent feststellen.

Die Studie verglich Deutschland (grün), Schweden (rot) und Spanien (blau). Die Linien zeigen die kumulierte Sterblichkeitsrate je Woche für das Jahr 2020. Bei 1 wären genausoviele Menschen gestorben, wie man es aufgrund der Altersstruktur und der Daten der Jahre 2016 bis 2019 erwartet hätte. Für Deutschland bleibt der Wert darunter, für Schweden und Spanien seit dem Ausbruch der Coronapandemie darüber. Quelle: Kowall B, Standl F, Oesterling F, Brune B, Brinkmann M, Dudda M, et al. (2021) Excess mortality due to Covid-19? A comparison of total mortality in 2020 with total mortality in 2016 to 2019 in Germany, Sweden and Spain. PLoS ONE 16(8): e0255540. Lizenz: CC-BY 4.0 [5]

Diese Untersterblichkeit könnte laut den Medizinern damit zu tun haben, dass aufgrund der Coronamaßnahmen vom März bis Juni 2020 18 Prozent weniger Menschen bei Verkehrsunfällen ums Leben kamen. Auch seien in den beiden Wintern kaum Menschen an der saisonalen Grippe gestorben. Und von denen, die 2020 an oder mit Corona gestorben sind, hätten viele das Jahr ohne die Virusinfektion aufgrund anderer Erkrankungen wahrscheinlich nicht überlebt.

Für die anderen Länder verweisen Kowall und Kollegen auf die wissenschaftliche Fachdiskussion: In Schweden habe man wohl die Möglichkeit der Pflegeheime überschätzt, angemessen auf die Pandemie zu reagieren. In Spanien habe ein großer Mangel an Ärzten, Pflegepersonal, Test- und Schutzausrüstung zu einer schlechten Ausgangslage geführt.

Unterm Strich ist Deutschland damit vergleichsweise gut durch die Coronapandemie gekommen. Im Jahr 2020 hat sich die Lebenserwartung in der Bevölkerung laut der Studie weder nennenswert verbessert, noch verschlechtert. Und das trotz der schwersten Pandemie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs!

Gesellschaftliche Interpretation

Demnach scheint das Coronavirus in Deutschland auf ein relativ gut funktionierendes Gesundheitssystem gestoßen zu sein. Das lag zu einem wesentlichen Teil natürlich am harten Einsatz der Menschen in den Pflege- und Heilberufen. Dafür noch einmal: Hut ab! Dazu kamen Schutzmaßnahmen, um die Verbreitung des Virus einzudämmen.

Im Einzelfall kann man natürlich darüber streiten, welche Maßnahmen wirklich nötig waren. Die Bundesländer haben mitunter verschiedene Wege gewählt. So sieht es das föderale System vor. Zudem haben Gerichte korrigierend eingegriffen, wenn Verbote zu weit gefasst oder nicht gut genug begründet waren.

Nun wurde beispielsweise in den Tagesthemen vom 22.10. mit dem Musiker Clueso darüber gesprochen, ob bei Kulturveranstaltungen 3G- oder die strengeren 2G-Regeln [6] gelten sollten. Reicht es, ein negatives Testergebnis vorzuweisen?

Doch welchen Sinn hat diese Diskussion? Erstens wissen wir inzwischen, dass auch geimpfte und genesene Menschen das Coronavirus übertragen können. Zudem war von Anfang an klar, dass die Impfstoffe nicht zu 100 Prozent schützen.

Zweitens weist ein negativer PCR-Test nach, dass bei der getesteten Person keine Virenbestandteile gefunden wurden. Man könnte also argumentieren, dass ein Testergebnis sogar ein besserer (weil aktuellerer) Unbedenklichkeitsnachweis ist als der Impfstatus.

Insofern kann man es nicht ganz von der Hand weisen, wenn jemand 2G-Regeln als indirekten Impfzwang wahrnimmt. Und unter Ausklammerung von Kindern unter 12 Jahren, für die noch kein Impfstoff zugelassen ist, hat sich bisher rund ein Drittel der Bevölkerung nicht für die (vollständige) Impfung entschieden. Das muss in einer Demokratie auch berücksichtigt werden.

Alternative: Beteiligung an den Kosten

Der Autor hat sich bekanntermaßen mehrmals gegen eine Impfpflicht ausgesprochen, um die gesellschaftliche Spaltung nicht voranzutreiben (Wie wahrscheinlich ist eine Coronavirus-Impfpflicht? [7]). In einer Gesellschaft freier Bürgerinnen und Bürger sollten neutrale Aufklärung und die freie Entscheidung die Mittel erster Wahl sein.

Allerdings geht Freiheit auch mit Verantwortung einher: Deshalb könnte man den Vorschlag diskutieren, Erwachsene, die sich nicht impfen lassen wollen, im Falle einer schweren Covid-Erkrankung an den Behandlungskosten zu beteiligen. Natürlich sollte das nicht für arme Menschen gelten - oder für diejenigen, die sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen können.

Das würde die Freiheit von niemandem einschränken. Aber wer trotz Verfügbarkeit zugelassener Impfstoffe trotzdem schwer erkrankt, würde die finanziellen Folgen seiner individuellen Entscheidung selbst tragen und nicht der Allgemeinheit aufbürden. Weiterhin würde das Gesundheitssystem niemanden abweisen, der Hilfe braucht.

Die Studienautoren weisen auch noch einmal auf die Bedeutung von Vorerkrankungen für die Schwere des Covid-Verlaufs hin: Menschen mit Bluthochdruck, Diabetes, Fettleibigkeit und Herz-Kreislauferkrankungen hätten ein erhöhtes Risiko für schwere Krankheitsverläufe.

Viele dieser Erkrankungen sind "Wohlstandserkrankungen" und gehen mit einem Mangel an Bewegung oder einer schlechten Ernährung einher. In diesem Sinne sind sie vermeidbar. Damit will ich aber nicht ohnehin schon gestresste Menschen mit noch mehr Gesundheitstipps stressen.

Man müsste vielmehr den gesellschaftlichen Kontext stärker ins Auge fassen: Bei vielen beruflichen Tätigkeiten sitzen Menschen ewig am Schreibtisch und/oder Computer. Und in Mahlzeiten sind generell zu viel Fett, Salz und Zucker. Das sind billige Geschmacksträger und erlauben Restaurants sowie der Lebensmittelindustrie größere Gewinne bei geringeren Rohstoffpreisen.

Eine gesündere Gesellschaft wird man wohl weder mit einer Impfpflicht noch mit immer mehr Gesundheitstipps bekommen. Vielleicht aber mit einer gesünderen gesellschaftlichen Umgebung. Dann würde sogar vom Coronavirus eine geringere Gefahr ausgehen.

Hinweis: Dieser Artikel erscheint ebenfalls in seinem Blog Menschen-Bilder [8].


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-6227201

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Daten/Impfquoten-Tab.html
[2] https://www.uni-due.de/2021-10-21-keine-uebersterblichkeit-durch-corona
[3] https://www.heise.de/tp/features/Studie-2020-sind-weniger-Menschen-in-Deutschland-gestorben-6227155.html
[4] https://doi.org/10.1371/journal.pone.0255540
[5] http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
[6] https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/clueso-tagesthemen-interview-101.html
[7] https://www.heise.de/tp/features/Wie-wahrscheinlich-ist-eine-Coronavirus-Impfpflicht-6139221.html
[8] http://scilogs.spektrum.de/menschen-bilder/