Wie wahrscheinlich ist eine Coronavirus-Impfpflicht?

Diskussion im Kontext des Masernschutzgesetzes und der Menschenrechte

Als am 14. November 2019 der Bundestag das sogenannte Masernschutzgesetz verabschiedete, konnte noch niemand die Corona-Pandemie erahnen. Das Gesetz soll vor allem Kinder, die aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden können, in Tagesstätten und Schulen vor der gefährlichen Krankheit schützen.

Zur Durchsetzung einer Impfpflicht für Kinder und Personal sind Geldbußen und, wenn möglich, ein Ausschluss aus den Einrichtungen bestimmt (siehe: Impfpflicht im Kontext unserer Gesundheitskultur).

Wie zu erwarten, zogen einige Eltern, die ihre Kinder nicht impfen lassen wollten, vor das Bundesverfassungsgericht. Am 11. Mai 2020 entschieden die Richterinnen und Richter mit einer vorläufigen Interessen- und Folgenabwägung, das Gesetz bis auf Weiteres in Kraft zu lassen (siehe: Eine Nachlese zur Coronavirus-Impfpflicht).

Für die endgültige Klärung der Rechts- und Verfassungsfragen muss der Ausgang des Hauptverfahrens abgewartet werden. Danach könnten die Eltern wahrscheinlich noch vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg ziehen.

Das Thema Impfpflicht hat nun im Kontext der Corona-Pandemie eine besondere Bedeutung bekommen. Da jetzt Frankreich und Griechenland eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen einführen, kocht die Diskussion in Deutschland wieder hoch. Am 13. Juli forderte der Humangenetiker und Mitglied des Deutschen Ethikrats Wolfram Henn eine Impfpflicht für Lehrer und Erzieher. Die Ethikrat-Vorsitzende Alena Buyx hält so eine Pflicht aber für unnötig.

Besonders interessant sind die Stellungnahmen von Politikern: SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach, sonst nicht gerade zimperlich bei seinen Forderungen zum Gesundheitsschutz, betonte laut Rheinischer Post, eine Impfung müsse die freiwillige Entscheidung des Einzelnen sein. Auch CSU-Chef Markus Söder äußerte sich im Deutschlandfunk gegen eine Impfpflicht, da sie ein starker Grundrechtseingriff sei.

Wie war das noch mit dem Masernschutzgesetz? Haben das nicht erst im November 2019 die Unionsparteien zusammen mit der SPD verabschiedet? Oder will sich nun im Wahlkampf bloß keine Partei an dem emotionalen Thema die Finger verbrennen? Man darf gespannt sein, welche Linien die Parteien vertreten werden, nachdem Wählerinnen und Wähler im September ihre Kreuzchen gemacht haben.

Impfpflicht und die Menschenrechte

Kein Zweifel besteht daran, dass Impfungen ein Eingriff in den Körper darstellen und auch bei bewährten Impfstoffen Restrisiken bleiben. Der Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit (aus Art. 2 GG) gilt aber auch für diejenigen, die von einer Ansteckung betroffen sein könnten. Die Rechte und Interessen dieser unterschiedlichen Gruppen müssen vom Staat gegeneinander abgewogen werden.

Auch schützt Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention das Privat- und Familienleben, worunter unter anderem Autonomie, Selbstbestimmung und die körperliche Integrität fallen. Hierzu äußerte sich erst im April der EGMR im Verfahren tschechischer Eltern und Kinder, die sich gegen eine umfassendere Impfpflicht wehrten. Dort gibt es eine Impfpflicht gegen neun Krankheiten, darunter Masern, Kinderlähmung und Tetanus. Diese Entscheidung dürfte auch das Bundesverfassungsgericht zur Kenntnis nehmen.

Die Richterinnen und Richter des EGMR in Straßburg verweisen erst einmal auf den großen Ermessensspielraum der Nationalstaaten. Die Menschenrechtskonvention verpflichte die Staaten zudem zu geeigneten Maßnahmen, Gesundheit und Leben der Bürger zu schützen. Nationale und internationale Experten stimmten darüber ein, dass Impfungen ein gerechtfertigtes Mittel zum Erreichen dieser Ziele seien. Das Gericht erwägt hierzu im Detail:

Wenn es um die Immunisierung geht, sollte es das Ziel sein, jedes Kind gegen ernsthafte Erkrankungen zu schützen. In der großen Mehrheit der Fälle wird das dadurch erreicht, dass Kinder in ihren frühen Jahren das vollständige Impfprogramm erhalten. Diejenigen, die so nicht behandelt werden können [etwa aus medizinischen Gründen; Anm. d. A.], werden indirekt gegen ansteckende Krankheiten geschützt, so lange in ihrer Gesellschaft das erforderliche Maß an Impfungen gewährleistet bleibt; das heißt, deren Schutz ergibt sich aus der Herdenimmunität.

Wo also der Standpunkt vertreten wird, dass freiwillige Impfungen nicht hinreichend sind, um Herdenimmunität zu erreichen und aufrechtzuerhalten, oder dass wegen der Natur der Krankheit Herdenimmunität nicht relevant ist (z.B. Tetanus), können nationale Autoritäten vernünftigerweise ein verpflichtendes Impfprogramm einführen, um einen geeigneten Grad zum Schutz vor ernsthaften Erkrankungen zu erzielen.

EGMR, §288, Az. 47621/13; dt. Übers. d. A.

Verhältnismäßigkeit

Das Gericht hält eine Impfpflicht also generell für zulässig. Die Richterinnen und Richter knüpfen das aber an bestimmte Bedingungen, damit die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleibt. Beispielsweise sei ein direkter Zwang, bei dem jemand gegen seinen Willen geimpft wird, unverhältnismäßig.

In dem konkreten Fall ging es nun um eine Geldbuße in Höhe von bis zu 10.000 Tschechischen Kronen (rund 400 Euro) und den Ausschluss vom Kindergarten. Erstere hielt das Gericht für relativ moderat, da sie auch nur einmalig verhängt werden könne. Gegen den Ausschluss vom Kindergarten hatte die Klägerseite angeführt, dass dieser der Entwicklung von Kindern schade.

Die Richterinnen und Richter sahen das zwar ein, hielten aber auch diese Maßnahme für verhältnismäßig: Schließlich sei sie nicht primär als Strafe der (freiwillig ungeimpften) Kinder gedacht, sondern zum Schutz der (unfreiwillig ungeimpften) Kinder im Kindergarten (§§ 293 und 294).

Zudem müsse den Nebenwirkungen Rechnung getragen werden. Bei dem tschechischen Programm gehe es um rund 100.000 Kinder im Jahr, von denen fünf bis sechs (also 0,005 bis 0,006 Prozent) ernsthafte und möglicherweise lebenslange Gesundheitsschäden behielten. Deshalb müsse in jedem Einzelfall vor den Impfungen nach medizinischen Ausschlussgründen (Kontraindikationen) gesucht werden. Für die dennoch Geschädigten müsse es eine Kompensation geben (§§ 301 und 302).

Das Gericht schlussfolgert, dass es die tschechischen Maßnahmen nicht mit weniger restriktiven Programmen anderer Länder vergleichen musste, da den Nationalstaaten ein weiter Ermessensspielraum zustehe. Diesen habe die Tschechische Republik mit seinem Impfschutzgesetz nicht überschritten. Deren Impfprogramm sei mit einer demokratischen Gesellschaft vereinbar (§ 310).

Die Klägerseite berief sich noch auf ihre Meinungs- und Religionsfreiheit (aus Artikel 9 der Menschenrechtskonvention) und einige andere Gründe. Doch im Endeffekt stimmten 16 zu 1 der Richterinnen und Richter, dass hier keine Menschenrechtsverletzung vorlag.

Politik

Das führt uns zurück zur Politik. Wie gesagt, das Masernschutzgesetz liegt noch zur Prüfung beim Bundesverfassungsgericht. An den heutigen Bekundungen führender Politiker gegen eine Coronavirus-Impfpflicht darf man angesichts vorheriger Entscheidungen aber zweifeln. Insbesondere ist die CDU seit einem Bundesparteitagsbeschluss vom Dezember 2015 als Impfpflichtpartei zu sehen.

Zur Impfpflicht gegen die Masern verwies ich im November 2019 darauf, dass der Impfschutz in Deutschland schon ohne das neue Gesetz über den von der Weltgesundheitsorganisation empfohlenen 95 Prozent lag (siehe: Impfpflicht im Kontext unserer Gesundheitskultur). Das könnte, wie wir beim EGMR-Urteil gesehen haben, eine Rolle bei der Abwägung der Verhältnismäßigkeit spielen.

Nun hält das Coronavirus seit eineinhalb Jahren alle Länder im Griff. Dass führende deutsche Politikerinnen und Politiker das heiße Eisen einer Impfpflicht nicht anfassen, dürfte dem Wahlkampf geschuldet sein. Gemäß den vorherigen Überlegungen wäre diese für Angestellte in Bildungs- und Pflegeeinrichtungen eigentlich konsequent. Ob sie angesichts der hohen Impfbereitschaft auf der einen und des Fachkräftemangels auf der anderen Seite auch praktisch sinnvoll wäre, steht auf einem anderen Blatt.

Humangenetiker Henn brachte die Möglichkeit ins Spiel, dass etwa ein Fitnessclub Mitgliedern ohne Impfung den Zugang verweigert. Meiner Meinung nach ist das ohnehin der freien Vertragsgestaltung der Betreiber überlassen. Mal von praktischen Aspekten der Umsetzung abgesehen, wären Grundrechte erst dann betroffen, wenn es um wesentliche Aspekte des Soziallebens ginge.

Hier sprechen Juristen von der "mittelbaren Drittwirkung" von Grundrechten. In diesem Zusammenhang diskutierte ich einmal den Fall eines Fußballfans, der keine Stadien mehr besuchen durfte (siehe: Meinungsfreiheit und das "Hausrecht" im Zeitalter des Internets). Bei einem Fitnessfan könnte man wohl erst so argumentieren, wenn ihn alle Clubs in der Umgebung ausschlössen.

Man sollte sich darüber im Klaren sein, dass das eine andere Gesellschaft wäre: mit Zugangskontrollen an jedem Eingang; und mit jeder Kontrolle einem potenziellen Fälschungs-, Privatsphären- und Datenschutzproblem. Wenn man sich anschaut, wie bisher mit Gesundheitsdaten umgegangen wurde, bin ich da eher skeptisch.

Ich habe aktuell übrigens meinen zweiten Impftermin. Dennoch will ich niemandem die Impfung vorschreiben. Wie schon beim Masernschutz appelliere ich eher an die Vernunft der Menschen. Mit den sogenannten Impfgegnern sollte man eher die Verständigung suchen als die Bestrafung, die die Gesellschaft weiter spalten dürfte.

Eine Coronavirus-Impfpflicht wäre bei hinreichender freiwilliger Teilnahme ebenso unnötig, vielleicht sogar kontraproduktiv, wie es das Masernschutzgesetz vom November 2019 wahrscheinlich ist. Auf die schlüssige Erklärung, warum führende Politiker uns weniger vor dem Coronavirus als vor Masern schützen wollen, warte ich allerdings noch. Aber es ist ja Wahlkampf.

Hinweis: Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.