Impfpflicht im Kontext unserer Gesundheitskultur

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Sind Strafen und Verbote wirklich der beste Weg?

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Am 14. November verabschiedete der Deutsche Bundestag mit einer Mehrheit von 459 gegen 89 Stimmen bei 105 Enthaltungen das sogenannte Masernschutzgesetz. Wenn es zum 1. März 2020 in Kraft tritt, müssen sowohl Kinder als auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Kindergärten, Schulen und der Kindertagespflege eine Masernimpfung nachweisen - oder eine ärztliche Ausnahmebescheinigung vorlegen.

Bei Nichtbeachtung drohen Bußgelder oder auch der Ausschluss aus der Einrichtung. Letzteres gilt wegen der Schulpflicht jedoch nicht für Schulen. Da die Geldstrafen auch gegen die Einrichtungen verhängt werden können, werden diese wohl kaum um Kontrollen herumkommen. Für bereits bestehende Betreuungs- und Arbeitsverhältnisse gibt es noch eine Übergangsfrist bis Ende Juli 2021.

Nebenbei: Zusammen mit der Impfpflicht wurden auch Regelungen zur Kostenübernahme zur Spurensicherung nach sexuellen Übergriffen, ein Werbeverbot für Schönheitsoperationen für Jugendliche und schließlich die Möglichkeit von Wiederholungsrezepten verabschiedet. Über das Thema plastische Chirurgie sollte man gelegentlich einmal wieder schreiben. Doch bleiben wir bei den Impfungen.

Persönlich kann ich mich vorweg als Impfbefürworter outen. Ich halte Impfungen im Allgemeinen nicht nur theoretisch für sinnvoll, sondern habe sie bisher auch alle auf ärztliche Empfehlung über mich ergehen lassen. Über verschiedene Hobbys begegnen mir aber auch regelmäßig Menschen mit anderen Sichtweisen. Und was sagt man einer Mutter, die einem glaubhaft erzählt, wie ihr vorher völlig gesunder Sohn nach einer Impfung erst geistig behindert wurde und schließlich an den Langzeitfolgen starb?

Nun gilt die Masernimpfung, um die es in dem Gesetzesentwurf geht, glücklicherweise als sehr sicher. Es bleibt dennoch die Frage, ob die Einführung einer Impfpflicht und die damit verbundenen Sanktionen - Geldstrafen und der Ausschluss aus Gemeinschaftseinrichtungen - geeignete Mittel zur Gesundheitsförderung sind. Um diese Frage geht es mir in diesem Kommentar.

Ist der Impfschutz wirklich so niedrig?

Zunächst einmal fielen mir Widersprüche in der Berichterstattung auf. In mehreren Medien las ich, einen flächendeckenden Schutz vor Masern habe man erst ab einer Impfquote von 95%. Das ist natürlich eine auf Annahmen basierende Schätzung und keine Naturkonstante. Nun hieß es, Deutschland erreiche diesen Wert nicht. Also: Maserngefahr für die Deutschen und vor allem die Kinder Deutschlands! Wer wäre da gegen Maßnahmen zur Erhöhung der Quote?

So einfach scheint die Schlussfolgerung aber nicht zu sein. So zitiert die Website der Tagesschau etwa Zahlen der Weltgesundheitsorganisation, wonach 97% der Menschen in Deutschland eine und 92% zwei Masernimpfungen hätten. Vollständigen Schutz erreiche man nur mit beiden Impfungen; nach der ersten seien 90 bis 95% der Geimpften geschützt.

Wenn man nun aber nachrechnet, dann ergibt sich gemäß diesen Zahlen, dass heute schon 92% zuzüglich 90-95% der verbleibenden 5% mit nur einer Impfung hinreichend geschützt sind, also 96,5 bis 96,8% der Bevölkerung. Deutschland liegt demnach über der empfohlenen 95%-Marke. Die dramatisch klingenden Warnberichte stimmen nicht.

Übrigens gab es im Vorjahr nach Angaben des Robert-Koch-Instituts trotz des hohen Schutzniveaus 543 Masernfälle. Dass jemand daran gestorben wäre, ist mir nicht bekannt. Das vergleiche man einmal mit den über 3000 jährlichen Verkehrstoten in Deutschland oder 4,1 pro hunderttausend Einwohnern. Masern betreffen 0,65 pro hunderttausend, also um den Faktor 6 weniger. Komisch, dass bisher kein Politiker ein allgemeines Verkehrsverbot forderte. Das wäre im Autoland Deutschland freilich auch Karriere-Selbstmord.

Das Masernschutzgesetz kennt sowieso Ausnahmen. Abgesehen von Personen, die vor 1970 geboren sind, entfällt die Impfpflicht auch bei Personen mit einer Kontraindikation gegen die Masernimpfung. Letztere sind laut Wikipedia bestimmte Erkrankungen beziehungsweise eine Schwächung des Immunsystems und Allergien.

Kosten und Nutzen

Interessant ist nun ein Blick in den Gesetzentwurf, der auf Seite 19 eine Kostenübersicht enthält. Demnach fallen für die Jahre 2020/21 Kosten in Höhe 5,5 Millionen Euro für das Ausstellen der erforderlichen Bestätigungen an, danach jährlich rund 200.000 Euro. Für das Ausstellen der Ausnahmebescheinigungen werden demgegenüber mit 4,2 Millionen Euro am Anfang und danach jährlich 137.000 Euro ähnliche Kosten berechnet.

Das sind Gelder, die die deutsche Volkswirtschaft beziehungsweise ihr Gesundheitssystem wird verschmerzen können. Diese Gegenüberstellung macht aber deutlich, dass niemals 100% der Bevölkerung geimpft werden wird, auch nicht mit dem neuen Masernschutzgesetz.

Wenn die Schutzquote aber heute schon bei rund 97% und damit über den empfohlenen 95% liegt, während 100% nicht zu erreichen sind, wozu dann der ganze Aufwand? Geht es hier um eine Initiative zur Selbstinszenierung einiger Politiker, allen voran Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU)?

Eine medizinisch interessante Folgefrage wäre, ob die 543 für 2018 registrierten Masernerkrankungen nun mehrheitlich Kinder betreffen, die wegen medizinischer Gründe gar nicht geimpft werden können, oder Kinder der in den Medien gerne dargestellten "esoterischen" Eltern. Dazu liegen mir leider keine Zahlen vor.

Gesellschaftliche Folgekosten

So oder so scheint mir das Gesetz nicht der große Wurf zu sein, als der es jetzt von Medien und Politik verkauft wird. Davon abgesehen fürchte ich neben den finanziellen auch gesellschaftliche Folgekosten, über die bisher wenig nachgedacht wurde. Was könnte das sein?

Eltern, die ihre Kinder nicht impfen lassen, halten die Maßnahme wahrscheinlich für gefährlich oder zweifeln insgesamt am Mainstream-Gesundheitssystem. Ein Teil dieser Eltern wird sich jetzt wohl um eine Ausnahmebescheinigung kümmern und dann liegt es an den Ärzten - von denen einige ja selbst an "esoterischen" Heilverfahren verdienen -, ob sie diese ausstellen. Ein anderer Teil dürfte auf die Barrikade gehen und gegen die staatliche Bevormundung kämpfen.

Zum Gesetzesentwurf wurde die Begründung mitgeliefert, der Schutz anderer (gemeint sein können nur: nichtgeimpfter) Kinder rechtfertige den Eingriff in die körperliche Unversehrtheit (Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG) der Kinder, für die laut dem Gesetz bald die Impfpflicht gelten wird, zumal die zu befürchtenden Nebenwirkungen gering seien. Dieser Eingriff sei laut den Juristen Jens Spahns "verhältnismäßig". Konkret heißt es:

Der Eingriff ist durch die damit verfolgten öffentlichen Ziele des Gesundheitsschutzes gerechtfertigt. Zum Schutz der Personen in Gemeinschaftseinrichtungen … und medizinischen Einrichtungen … vor den teilweise schwer verlaufenden Maserninfektionen ist eine gesetzliche Verpflichtung zum Vorhandensein von Immunität oder Impfschutz gegen Masern … verhältnismäßig. … Auch wird durch den mit einer Impfpflicht einhergehenden Eingriff in das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit der Wesensgehalt des Grundrechts nicht angetastet, da die Zielsetzung eines solchen Eingriffes gerade die Erhaltung der Unversehrtheit ist…

Gesetzesentwurf [http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/134/1913452.pdf, S. 31

Der Einzelne und das Kollektiv

Hier wird in zwei Richtungen argumentiert: Einerseits sollen durch die Impfpflicht für Individuum A andere Personen, die nicht geimpft sind, geschützt werden; andererseits verletze die Impfpflicht für Individuum A nicht dessen körperliche Unversehrtheit (im "Wesensgehalt"), da die Impfung ja auch Individuum A selbst vor der Erkrankung schütze.

Das hat zwei unschöne Aspekte: Erstens macht der Staat hier Menschen zu einem Mittel zum Zweck Anderer; und damit hat man insbesondere in der jüngeren deutschen Geschichte schlechte Erfahrungen gemacht. Zweitens erhebt der Staat sich hier zu einer Instanz, die den Menschen vorschreibt, wie sie sich in ihrem eigenen Interesse zu verhalten haben; das ist Paternalismus - oder besser: Parentalismus - in Reinstform.

Man denke auch an die Instrumentalisierung der Körper zum Wohle Anderer mit Blick auf die Widerspruchslösung bei der Organspende. Da es um Verstorbene geht, ist die Diskussion vor allem mit Blick auf die körperliche Unversehrtheit noch einmal von anderer Art. Ich erwähne das Beispiel hier nur, um Parallelen der gegenwärtigen Gesundheitspolitik aufzuzeigen.

Dammbrüche

Nun dauert es in solchen Diskussionen nicht lange, bis jemand mit einem Wo-kommen-wir-denn-da-hin-Argument kommt: Wenn wir A erlauben, dann werden wir bald auch schon B und C und D erlauben und dann kommt, um ein Beispiel aus der Luft zu greifen, übermorgen schon das Alkohol- und Tabakverbot. Auch hier könnte man analog mit dem Schutze Anderer und dem Schutz der Menschen vor sich selbst argumentieren.

In der Fachdiskussion nennt man diese Argumentationsform ein "Dammbruch-Argument" (oder "schiefe Ebene" von englisch: slippery slope). Dabei ist die Feststellung als solche, dass es sich bei einem Einwand um ein Dammbruch-Argument handelt, mitunter schon als Entkräftung des Einwands gemeint, denn aus A ergeben sich ja B und C und D nicht zwingend.

Das ist natürlich nicht ganz von der Hand zu weisen - und ich war früher auch kein Freund von Dammbruch-Argumenten. Nachdem ich so manche Ethik- und Politikdiskussion nun seit rund 20 Jahren verfolge, will ich das Schiefe-Ebene-Argument aber nicht mehr generell als unzulässig abtun. Man bedenke schlicht einmal, mit welcher Selbstverständlichkeit heute Angriffskriege ohne UN-Mandat zum angeblichen Schutz vor Terrorismus geführt werden. Das war in den frühen 1990ern noch undenkbar.

In den Sozialwissenschaften spricht man auch von "shifting baselines", also sich ändernden Bezugspunkten. Vom Standpunkt A aus betrachtet erscheint Standpunkt D als völlig ausgeschlossen. Wenn man aber bereits die Zwischenschritte B und C genommen und sich daran gewöhnt hat, dann wirkt D plötzlich nicht mehr so unmöglich.