Eine Nachlese zur Coronavirus-Impfpflicht

Neues vom Bundesverfassungsgericht, vom Ethikrat und zur Sicherheit des Impfstoffs

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In der Diskussion meines Artikels über eine Corona-Impfpflicht vom 20. Dezember (Warum eine Impfpflicht zu weit geht) kamen einige Themen zur Sprache, die eine nähere Betrachtung verdienen. Im Folgenden spreche ich eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Zusammenhang mit dem Masernschutzgesetz an, das zum 1. März 2020 in Kraft trat, also mitten in der Coronavirus-Pandemie. Danach diskutiere ich ein paar Aspekte zur Diskussion des Virus und des Lockdowns. Am Ende kommen zwei Bonbons für Interessierte, die den Statistiken auf den Zahn fühlen wollen.

Das Masernschutzgesetz

Am 14. November 2019 verabschiedete der Deutsche Bundestag mit einer Mehrheit von 459 gegen 89 Stimmen bei 105 Enthaltungen das Masernschutzgesetz. Für die Details verweise ich auf meinen Artikel vom 18. November 2019 (Impfpflicht im Kontext unserer Gesundheitskultur). Hier sei nur daran erinnert, dass laut dem Gesetz Kindern und Erwachsenen der Zugang zu Kindergärten und Schulen verweigert werden soll, wenn sie keine Masernimpfung oder keine Befreiung vorweisen können. Bei Nichtbeachtung drohen Bußgelder und ein Ausschluss von den Einrichtungen.

Wie zu erwarten war, wurde gegen das Gesetz Verfassungsbeschwerde erhoben. Im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Mai 2020 (eine kürzere Zusammenfassung bietet die Pressemitteilung) wurden Eilanträge von Eltern abgewiesen, die Anwendung des Gesetzes auszusetzen. Mit diesen Anträgen wollten sie erreichen, dass ihre Kinder auch ohne Immunitätsnachweis weiter betreut werden müssen.

Die Richterinnen und Richter Prof. Dr. Stephan Harbarth, Prof. Dr. Gabriele Britz und Prof. Dr. Henning Radtke vom Ersten Senat wägten hierfür zwei Szenarien gegeneinander ab: Erstens, was wäre, wenn das Gesetz verfassungskonform ist, seine Anwendung aber vom Gericht ausgesetzt wird; und zweitens, was wäre, wenn das Gesetz verfassungswidrig ist, die Eltern sich aber bis zum Ausgang des Hauptverfahrens daran halten müssen?

Hier kommen sie zu dem Schluss, dass die verzögerte Anwendung des Gesetzes - verabschiedet vom Bundestag und damit der höchsten Vertretung der deutschen Bürgerinnen und Bürger - dramatischere Folgen hätte, als wenn die Eltern eine alternative Betreuung für ihre Kinder organisieren müssten. Letzteres war zum Zeitpunkt des Beschlusses im Mai aufgrund der Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus teilweise ohnehin erforderlich.

Von Bedeutung war auch der Grund, dass das neue Gesetz vor der Ausbreitung der Erkrankung schützen soll. Und der Schutz von Leben gehört zu den grundrechtlichen Aufgaben des Staats. Dabei wurden Kinder ausdrücklich erwähnt, die aus medizinischen Gründen selbst nicht geimpft werden können. Die Verfassungsbeschwerde wurde aber auch nicht als offensichtlich unzulässig oder unbegründet abgewiesen. Damit ist der Ausgang völlig offen. Im Kontext der Coronavirus-Pandemie bekommt die Prüfung des Masernschutzgesetzes auf einmal eine ganz andere Bedeutung.

"Es wird keine Impfpflicht geben"

Zwar beteuern Politiker verschiedener Lager zurzeit, dass es keine Impfpflicht geben werde. Die wäre zurzeit allein schon aufgrund der mangelnden Verfügbarkeit der Impfstoffe ohnehin nicht durchsetzbar. Es wäre aber auch naiv zu denken, dass die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht von verschiedenen Akteuren wegen ihrer möglichen Bedeutung für die Coronavirus-Pandemie sehr genau analysiert werden wird. Eine neue Lage bietet vielleicht doch neue Möglichkeiten.

Im RTL-Interview vom 10. Oktober 2020 hielt Gesundheitsminister Jens Spahn auch einen zweiten Lockdown wie im Frühjahr für sehr unwahrscheinlich:

Wir werden jedenfalls nicht nochmal solche Maßnahmen brauchen wie im Frühjahr, weil wir heute auch mehr wissen. […] Wir wissen, dass wir im Einzelhandel, bei Frisören, im öffentlichen Nahverkehr […] mit AHA-Regeln, mit aufeinander aufpassen, keine Ausbrüche haben, kein Infektionsgeschehen oder so gut wie keins.

Jens Spahn

"Horrorszenario"

Allerdings schwebte Rüdiger Suchsland in seinem Artikel, auf den ich mich bezog, eine allgemeine Impfpflicht vor (Warum eine allgemeine Impfpflicht sein muss). Dafür würden moralische und rechtliche Gründe anders abgewogen werden müssen, als wenn es "nur" um den Zugang zu Betreuungs- oder Bildungseinrichtungen ginge.

Im Kontext so einer allgemeinen Impfpflicht kann ich den in der Diskussion vorgebrachten Vorwurf, ich würde ein "Horrorszenario" verbreiten, nicht nachvollziehen: Ich hatte ein Beispiel gebracht, in dem man nach mehreren Geldstrafen in Beugehaft kommt und schließlich den Impfstoff gewaltsam verabreicht bekommt. Als die allgemeine Wehrpflicht noch nicht ausgesetzt war, wurden Männer auch zur Not mit Gewalt abgeholt. Und wer bei einer Polizeikontrolle den Alkoholtest über die Atemluft verweigert, dem kann gewaltsam Blut abgenommen werden.

Wenn es eine allgemeine Impfpflicht gäbe, müsste sie irgendwie auch durchgesetzt werden. Dass das nicht unbedingt zu mehr Frieden in der Gesellschaft führen würde, sollte aber klar sein.

Keine Behandlung für Impfgegner?

Im Laufe der Diskussion meines vorherigen Beitrags wurde die angebliche Behauptung des Humangenetikers und Medizinethikers Wolfram Henn, Mitglied im Deutschen Ethikrat, diskutiert, wer die Impfung verweigere, der solle im Krankheitsfall auch nicht behandelt werden. Wer solche Gerüchte verbreitet, der möge sie bitte erst einmal überprüfen.

Henn hatte tatsächlich am 19. Dezember in der Bild-Zeitung in einem Kommentar mit der Aussage provoziert, wer sich partout nicht impfen lassen wolle, der möge stets eine Patientenverfügung mit dem folgenden Inhalt bei sich tragen: "Ich will nicht geimpft werden! Ich will den Schutz vor der Krankheit anderen überlassen! Ich will, wenn ich krank werde, mein Intensivbett und mein Beatmungsgerät anderen überlassen."

Es ging also nie darum, dass jemandem die Behandlung verweigert wird, sondern dass jemand freiwillig darauf verzichtet. Ob Ärzte so eine Verfügung im Ernstfall überhaupt ernst nehmen würden, steht noch einmal auf einem anderen Blatt. Ethikrat-Mitglied Henn erklärt rückblickend jedenfalls, dass er Impfgegner mit seinem Vorschlag zum Nachdenken anregen wollte, ob sie sich der möglichen Folgen ihrer Haltung bewusst wären.

In der aufgeheizten Stimmung kann einem natürlich schnell das Wort im Munde herumgedreht werden. Manche Medien wählen im Zweifelsfall lieber die Interpretation, die zu höheren Klickzahlen führt, schlicht wegen der Werbeeinnahmen. Als kritischer Leser sollte man aber lieber einmal zu viel als einmal zu wenig kontrollieren, ob man Gerüchte ungeprüft verbreitet. Und Henn ist hoffentlich klar geworden, dass hier viele keinen Spaß verstehen.

Politischer Druck und Sicherheit

Lehrreich war ein Leserhinweis auf ein kurzes Interview des ZDF mit Prof. Dr. Wolf-Dieter Ludwig, dem Vorsitzenden der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, ebenfalls am 19. Dezember. Ludwig war zwar nicht direkt in die Zulassung des BioNTech/Pfizer-Impfstoffs durch die europäische Behörde involviert, berichtet aus deren Umfeld aber Bedenkliches: So habe Jens Spahn Druck auf die Entscheidungsträger ausgeübt, damit diese den Impfstoff schon zum 15. Dezember für die Zulassung empfehlen. (Das tat die European Medial Agency dann am 21. Dezember, woraufhin die EU-Kommission den Impfstoff zuließ.)

Zudem hätten die Gesundheitspolitiker in der Sache nicht gerade mit Faktenkenntnis geglänzt und beispielsweise den Unterschied zwischen einer Notfallzulassung und einem beschleunigten Zulassungsverfahren nicht verstanden. Bei ersterer haften, wenn ich es richtig verstanden habe, die EU-Länder; bei letzterer aber die Pharma-Unternehmen selbst. Respekt für Wolf-Dieter Ludwig, dass er sich vor laufender Kamera so kritisch äußert!

Etwas rätselhaft bleibt aber seine Erklärung, seinen Patienten nur nach langer Abwägung im Einzelfall zu der Impfung raten zu können und selbst vorerst zu verzichten; er sei aber gemäß dem Impfplan ohnehin noch zu jung. Es wäre schön, wenn er seine Beurteilung des Impfstoffs ausführlicher öffentlich begründet, als das in dem kurzen ZDF-Interview möglich war.