Corona-Management: "Entscheidungsträger haben sich verrannt"
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Der Internist Matthias Schrappe über den sogenannten Inzidenzwert von 35, Auswege aus dem Lockdown und die Zeit nach der Pandemie
Herr Schrappe, der CDU-Vorsitzende Armin Laschet hat unlängst für Aufsehen gesorgt, als er sagte, wir könnten nicht unser ganzes Leben "an Inzidenzwerten abmessen" und man könne "nicht immer neue Grenzwerte erfinden, um zu verhindern, dass Leben wieder stattfindet". Direkt darauf bezogen: Ist der jüngste Grenzwert von 35 Neuinfektionen pro Woche und 100.000 Menschen erfunden, hat Herr Laschet Recht?
Matthias Schrappe: In diesem Punkt muss man Herrn Laschet voll und ganz zustimmen: Der Grenzwert von 35 ist "gegriffen". Es gibt keine Evidenz dafür, dass es sich ausgerechnet dabei um einen relevanten Grenzwert handelt.
Denn erstens kann er nicht zuverlässig gemessen werden. Es handelt sich um eine anlassbezogene, unsystematische Zählung von Meldungen, die ohne Berücksichtigung der Dunkelziffer auf die Gesamtbevölkerung umgelegt werden.
Und zweitens ist er nicht valide, er sagt nichts voraus, was von Interesse wäre. So widersprechen etwa die Gesundheitsämter selbst dem Argument, nur unterhalb des Wertes könnten Nachverfolgungen getätigt werden. Insgesamt würde sich vielleicht ein Blick ins benachbarte Ausland lohnen. In Frankreich liegt die Melderate in der Hierarchie der Indikatoren auf Platz sechs, an der Spitze liegt unangefochten die Rate der Hospitalisierungen.
Der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach schrieb in Erwiderung auf Laschet, der 35er-Wert sei "abgeleitet von dem höheren R-Wert der Mutation B117". Ist das für Sie nachvollziehbar?
Matthias Schrappe: Für einen Politiker ist es natürlich attraktiv, mit angeblich genauen Grenzwerten zu arbeiten, weil er sich daraus eine Art wissenschaftlicher Legitimierung seines politischen Tuns verspricht. Wissenschaftlich ist die Relevanz der verschiedenen Mutationen allerdings lange noch nicht geklärt, denn sie stellen im Rahmen einer Virusepidemie normale Vorgänge dar.
Glücklicherweise haben wir hierzulande kein tierisches Reservoir, in dem rasch Mutationen auftreten, die dann immer wieder als "Sprung-Mutationen" auf den Menschen übergehen – wie bei der Influenza in Asien.
Außerdem wird auch der R-Wert von den "Inzidenzen" abgeleitet, indem zwei kurze Erhebungszeiträume miteinander verglichen werden.
Hört man plötzlich mit der Testung auf oder vermindert sie, sinkt der R-Wert bis auf null, und wenn man die Testrate erhöht, steigt er an.
Insofern kann von einer "Ableitung" überhaupt nicht die Rede sein, die Fehlereffekte übertreffen den möglichen Einfluss einer Mutation um Größenordnungen.
Wie sinnvoll ist der Lockdown?
Sie stellen ja in Abrede, dass die Mutation B.1.1.7. derart gefährlich ist, dass Lockdown und Grundrechtsbeschränkungen aufrechterhalten werden müssten. Welche Belege können Sie für die These anführen?
Matthias Schrappe: Was heißt gefährlich? Ich kann natürlich nicht ausschließen, dass sich einige Modellierungen bewahrheiten und B.1.1.7 eine leicht erhöhte Infektiosität aufweist. Dies würde jedoch nur unsere Forderung unterstützen, dass wir die Lockdown-Perpetuierung endlich durch zielgerichtete Schutzprogramme ergänzen und besser über die Gestaltung der Impfprogramme nachdenken.
Dort, wo die Mutationen besonders schnell um sich gegriffen haben, sind die Meldezahlen sogar zurückgegangen. Für die Annahme einer verschlechterten klinischen Prognose gibt es keine Anhaltspunkte.
Es ist wie zu Beginn der Epidemie bei der Mortalität: Man schaut dorthin, wo Patienten auffällig werden – zum Beispiel bei Aufnahme auf Intensivstation – testet hier auf Mutationen und sieht natürlich einen ungünstigen Verlauf. Seriöse vergleichende Untersuchungen fehlen nach meinem bisherigen Kenntnisstand.
Herr Schrappe, wie sinnvoll ist der aktuelle Lockdown?
Matthias Schrappe: Der aktuelle Lockdown als alleinige Maßnahme imponiert durch eine kosmetische Korrektur einer ansteigenden Durchseuchung der Bevölkerung, was im Rückblick irrtümlicherweise als "Welle" bezeichnet wird. Bei Beendigung des Lockdowns wird die Zahl der bekannten Neuinfektionen sofort wieder ansteigen, das sagt alles über die Sinnhaftigkeit dieser Methode.
Man hätte sofort zu Beginn der Epidemie mit Schutzprogrammen für die besonders gefährdeten Personen beginnen müssen.
Forscher der Université de Toulouse haben Indizien dafür gefunden, dass womöglich nicht Kontaktbeschränkungen, sondern diverse Faktoren von Umwelt über Wirtschaft und Demografie das Pandemiegeschehen beeinflussen. Von welchen Faktoren hängt die Verbreitung des Virus ab und was schlussfolgern wir daraus?
Matthias Schrappe: Völlig richtig: Eine Epidemie ist kein allein biologisches, "virologisches" Ereignis, sondern immer ein gesellschaftliches Geschehen. Im italienischen Bergamo haben wir ein zusammenbrechendes regionales Gesundheitssystem erlebt, das durch Fehler – und dies ist zu betonen – der politischen Führung nicht vorbereitet war. Dort hat es an allem gefehlt, was man zur Bewältigung gebraucht hätte. Da geht es nicht nur um Ausrüstung, sondern um Konzepte und Know-how zur Bewältigung von Risikosituationen.
In Deutschland gab es zwar Ansätze für eine Pandemieplanung, die jedoch im Januar 2013 gestoppt wurden, in den letzten Monaten der Regierung Merkel II. Jens Spahn war damals gesundheitspolitischer Sprecher der CDU-Fraktion im Bundestag. Es hätte uns viele Tausende von Toten erspart, wenn man damals vorausschauender gewesen wäre.
Aber es gibt natürlich auch demographische Faktoren. Man weiß etwa heute, dass die Letalität im nationalen Vergleich stark von der Altersstruktur und von der relativen Bedeutung der Unterbringung in Heimen abhängt – letztere sind, wie wir Anfang April in aller Deutlichkeit vorausgesagt haben – einem hohen Risiko von Herdausbrüchen aisgesetzt.
Sorgt der Lockdown für sinkende Infektionszahlen?
Bundesgesundheitsministerium und RKI sehen einen direkten Zusammenhang zwischen sinkenden Infektionszahlen und dem aktuellen Lockdown, Forscher der Universität München, der Epidemiologe John Ioannidis und andere stellen das in Abrede. Wer hat Recht?
Matthias Schrappe: Wenn Sie jeden Bundesbürger in eine Kiste stecken, liegt die Melderate bei null. Wenn Sie diese Tortur beenden, nimmt die Epidemie ihren Verlauf wieder auf. Eine Politik, die nur auf einem Bein steht – dem Lockdown –, hat kein Spielbein frei, kann nicht differenzieren, kann keine Lösungen ausprobieren.
Man kann auch nicht – ich denke, darauf spielen Sie an – die Bedeutung von anderen Faktoren wie Saisonalität oder Mutationen eruieren, denn hierzu müsste man eine Zeitlang den Lockdown lockern, sich auf die Schutzmaßnahmen der Vulnerablen verlassen und Vergleiche anstellen.
Außerdem: Wir haben im März 2020 das große Versäumnis begangen, keine repräsentative Kohortenstudie aufzulegen, daher fischen wir sowieso im Dunklen. Wer einen Erfolg des Lockdowns konstatieren will, sollte dann auch einen Blick in die Sterblichkeit der Alterskohorten werfen.
Ich will diplomatisch bleiben, aber die Mortalität über 80 Jahre liegt immer noch deutlich höher als die der anderen Alterskohorten, und die Sterblichkeit der Infizierten in den hohen Altersgruppen ist während des Lockdowns sogar um 20 bis 30 Prozent angestiegen. 30 Prozent der Toten kommen aus den Altersheimen. Wer will denn da von einem Erfolg sprechen?
Und wie kommen wir aus dem Lockdown raus, wie könnte eine Öffnungsstrategie aussehen?
Matthias Schrappe: Ich habe in einer der Bundestagsfraktionen einen Achtpunktplan vorgestellt, der die Verantwortung der Führung an erster Stelle sieht: den Strategiewechsel zu kommunizieren. Ganz oben steht die Führungsaufgabe, wie immer, nämlich ein proaktives Narrativ zu entwerfen, das es erlaubt und fordert, Risiken einzugehen, das einen Erfolg verspricht, aber auch einen Misserfolg für denkbar hält, aus dem man dann lernen kann.
Weiterhin ist endlich die Berufung eines tatsächlich unabhängigen Beratungsgremiums zu nennen, das nicht nur aus Modellepidemiologen, theoretischen Virologen und Zero- oder No-Covid-Vertretern besteht, die der Illusion einer Eradizierung der Viruserkrankung anhängen, die wohlgemerkt von asymptomatischen Trägern verbreitet wird.
Außerdem müsste man von dem seuchenpolizeilichen Duktus der Gesundheitsämter wegkommen und sich um das Wohlergehen – nicht die "Absonderung" – der positiv Getesteten kümmern.
Warum werden diese zwar in Isolation geschickt, aber nicht täglich besucht, um frühzeitig eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes zu erfassen? Wenn man wirklich etwas an der Hospitalisierungsrate und der Belegung der Intensivstationen – also am gesundheitlichen Outcome – ändern wollte, wäre dies doch der wichtigste Ansatzpunkt.
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