Corona: doch kein "totaler Lockdown"
Hat die deutsche Staatsführung eine weitere Verschärfung durchgesetzt, indem sie sie als Vorübergehen eines noch deutlich bittereren Kelchs erscheinen lässt?
Heute haben die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidenten der deutschen Bundesländer an die Medien durchgedrungenen Informationen nach eine Verlängerung des Lockdowns bis zum 14. Februar beschlossen. Außerdem werden die Maßnahmen verschärft: Im öffentlichen Nahverkehr sind nun deutschlandweit FFP2-Masken Pflicht - und das Arbeitsministerium wird eine Verordnung erlassen, die mehr Arbeitnehmer ins Heimbüro befördern soll.
Söder: "Akzeptanz der Bevölkerung im Blick behalten"
Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder hatte bereits gestern durchblicken lassen, dass die Beschlüsse so oder ähnlich aussehen würden. In einem Interview mit dem Münchner Merkur verwies der mögliche Kanzlerkandidat der Unionsparteien auf die deutlich zurückgegangenen Inzidenzwerte und meinte, man müsse "immer auch die Akzeptanz der Bevölkerung im Blick behalten". Vorher hatte der Expertenrat des neuen CDU-Vorsitzenden Armin Laschet gewarnt, dass die deutsche Corona-Politik "Gefahr [läuft], die Bevölkerung als Ganzes nicht mehr zu erreichen und zu überzeugen".
Damit bezog er sich anscheinend auch auf Meldungen, in denen es geheißen hatte, die deutsche Kanzlerin strebe einen "totalen Lockdown" mit weitgehender Stilllegung des öffentlichen Personennahverkehrs an. Diese Radikalmaßnahme wurde von der Verkehrsministerkonferenz der Bundesländer bereits gestern abgelehnt.
Ob die stattdessen verordnete Pflicht zum Tragen von FFP2-Masken sinnvoll ist, ist umstritten. Früher hatte das Robert-Koch-Institut bei deren Einsatz eine "ärztliche Begleitung" empfohlen, um "gesundheitliche Auswirkungen" bei "Personen mit z.B. eingeschränkter Lungenfunktion oder älteren Personen" auszuschließen - und im Arbeitsschutzrecht waren sogar Untersuchungen dazu vorgeschrieben. Zudem sind diese Masken deutlich teurer als der vorher vorgeschriebene Mund-Nasen-Schutz, den man sich auch selber anfertigen konnte. Hartz-IV-Empfänger bekommen dafür trotzdem keinen Zuschuss.
[Update 21 Uhr: Inzwischen ist nur noch von "medizinischen Masken" und nicht mehr von FFP2-Masken die Rede. Damit wären außerhalb Bayerns auch die deutlich günstigeren OP-Masken ausreichend.]
Corona-Sonderurlaubs für Eltern verdoppelt
Dass der Lockdown verlängert wird, begründete Söder unter anderem mit einem Verweis auf Irland, wo die Zahl der Positivtests nach einer zwischenzeitlichen Lockerung wieder deutlich anstieg (vgl. Irland und Corona: falsche Weihnachtsunterbrechung oder falsche Maßnahme?). Zudem brauche man Zeit, um die Virusmutationen aus England, Südafrika und Brasilien genauer zu erforschen und zu "bremsen".
Bereits vor der Konferenz der Ministerpräsidenten mit Merkel beschlossen wurde eine Verdoppelung des Corona-Sonderurlaubs für Eltern. Paare können nun statt zehn 20 Tage geltend machen, Alleinerziehende sogar 40. Das soll ein Ausgleich für die Zeit sein, in der sie wegen der geschlossenen Schulen und Kindertagesstätten ihnen Nachwuchs zuhause betreuen müssen. Die Programme, mit denen die Kinder dort etwas lernen sollen, funktionieren häufig nicht zufriedenstellend - kein Wunder, wenn man bedenkt, dass Deutschland in einem eLearning-Ranking 2019 hinter allen anderen EU-Ländern auf dem 27. und letzten Platz landete.
Schrappe: "'Lock-Down' des Regierungsapparates"
Der unter anderem durch seine Thesenpapiere zur Coronakrise bekannte Kölner Medizinprofessor Matthias Schrappe bezeichnete die durchgesickerten heutigen Beschlüsse gegenüber Telepolis als "alternativloses Weiter so". Was "in der Öffentlichkeit als 'Versteinerung' und 'Selbstradikalisierung' wahrgenommen wird", das gründet ihm zufolge "in einem 'Lock-Down' des Regierungsapparates":
Immer die gleichen Berater, keine diskordanten Meinungen, es gibt nur eine Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit hat die Bundeskanzlerin im Bundestag ja mit Stolz verkündet: die Physik, da müsse man nämlich nicht diskutieren. Das Virus ist ein biologisch-naturwissenschaftliches Phänomen, es sei apolitischer Natur. Deswegen müsse man niemanden fragen, der wirklich praktisch mit Epidemiebekämpfung Erfahrung gemacht hat, Modell-Epidemiologen und theoretische Virologen reichen aus. Die Konsequenz: bald 50.000 Todesfälle, fast 90 Prozent bei über 70-Jährigen. Außerdem: kein adäquates Konzept einer Epidemie, die asymptomatisch übertragen wird (und daher nicht linear 'auszurechnen' ist), keine verlässliche Zahlenbasis, und bei der Impfung Fehler über Fehler, insbesondere zu Organisation, Erwartungsmanagement, Gerechtigkeitsfragen - abgesehen vielleicht von dem guten Papier der Stiko zur Priorisierung. Ende der Politik, top down Durchregieren (endlich mal wieder), und die Diskursfähigkeit unserer Gesellschaft, eine ihrer Stärken, siecht dahin. (Matthias Schrappe)