Covid-19 und die Vorstellungen von Staat und Gesellschaft
- Covid-19 und die Vorstellungen von Staat und Gesellschaft
- Das pseudokritische Misstrauen verkennt den Doppelcharakter der Marktwirtschaft
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Bei den Demonstrationen gegen die Corona-Politik wird eine Mentalität deutlich, die keine positive Gesellschaftlichkeit kennt. Hintergrund und Kommentar
Solidarität kommt bei solchen Mitbürgern wenig zustande, die nur an ihre "Freiheit" denken und alle Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Seuche von diesem Standpunkt aus ablehnen. Dieser Egoismus bzw. Egozentrismus selbst in der Zeit der Pandemie hat gesellschaftliche Voraussetzungen.
Privateigentum und Konkurrenz sind tragende Momente der Marktwirtschaft. Sie senken die Bereitschaft zum Gemeinsinn.
Nur auf die eigene Gruppe bezogen gelingt Verbundenheit bei Mitbürgern, die sich stark mit ihrem jeweiligen ethnischen, religiösen oder Lebensstil-Milieu identifizieren. Die ihren jeweiligen Sonderinteressen folgenden Individuen werden zu Punkten "im unüberschaubaren Geflecht lose gekoppelter und situativ sich wandelnder Netzwerke" (Münch 1998, 373). Politik missrät dann zu einem "Aushandlungsmarathon, bei dem eine unüberschaubare Zahl von Einzelinteressen miteinander im Kampf liegen" (ebd., 370f).
Dem entspricht die "Verkümmerung der hegelianisch-durkheimischen Vision des Staates als einer kollektiven Instanz, die damit betraut ist, kollektives Bewusstsein und kollektiven Willen zu wecken und durchzusetzen, zur Stärkung der sozialen Bande beizutragen" (Bourdieu 1999, 27). Der langjährige DGB- bzw. IG-Metall-Funktionär Eberhard Fehrmann sieht in postmodernen Orientierungen ein zu dieser Verkümmerung beitragendes Problem:
Das Zusammenleben der Menschen sei nicht durch eine gemeinsame, sie über alle Unterschiede hinweg verbindende […] Totalität organisiert, sondern bestimmt durch vielfältige Differenzen. […] Nicht das Verbindende und sie Vereinigende (Identität), sondern das Trennende und Andere (Differenz) bestimme (die - Verf.) soziale Wirklichkeit der Menschen.
Fehrmann, Eine List der Geschichte
Das republikanische Verständnis von Gemeinwohl
Ein republikanisches Verständnis überschreitet ein Handeln, das sich am jeweiligen, andere ausschließenden Privatinteresse orientiert. Der Republikanismus folgt nicht der Parole "Du bist nichts, Dein Volk ist alles". Er sucht nach einer nicht-totalitären "politischen Gemeinschaftlichkeit, die sich in kollektiven Werten, Zielvorstellungen und Identitäten festmacht" (Nullmeier, Rüb 1994, 68). Die Mitglieder der Gesellschaft sollen "diskutieren und beschließen, wie sie leben wollen […]. Demokratie ist in diesem Verständnis der Ort der gemeinsamen Entscheidung über das gemeinsame Leben" (Münch 1998, 364).
Das republikanische Staatsverständnis, wie es z. B. Guéhenno (1994) formuliert, ist in seiner Wertschätzung des Gemeinsinns einem "Ich kann doch machen, was ich will"-Standpunkt von "Querdenken"-Anhängern vorzuziehen. Zugleich legt sich das republikanische Plädoyer für die starke Geltung des "Gemeinwillens" keine Rechenschaft von der Marktwirtschaft ab. Diese bildet ja die Grundlage des Staates in modernen westlichen Nationen. Bereits Adam Smith formulierte die Maxime: Wenn jeder sich an seinem Vorteil orientiere, sei allen am meisten gedient.
Allein auf diese Weise würden sie ein maximales Wachstum des Bruttosozialprodukts erreichen. (Das steigt allerdings auch, wenn mehr Autos verunglücken, mehr Abschleppfahrzeuge ausrücken und mehr Ersatzkäufe stattfinden.) Der durch Steuern finanzierte Staat muss dieses Wirtschaftswachstum voraussetzen. Ohne Arbeitsplätze - ob nun Waffen oder der Gesundheit zuträgliche Lebensmittel produziert werden, ist hier gleichgültig - und ohne Gewinne keine Steuern. Zwar muss der Staat Egoismen und Egozentrismen entgegenwirken, die allzu sehr das Funktionieren der Marktwirtschaft und der Rechtsordnung gefährden.
Von einem Staat, der eine das Privatinteresse bestärkende Marktwirtschaft und die Orientierung am Tauschwert voraussetzt, ist allerdings nicht zu erwarten, dass er die Instrumentalisierung anderer und die Suche nach dem jeweiligen eigenen partikularen Vorteil überwinden kann.
Schwacher Konsens und magere Demokratie
Zum Selbstwiderspruch vieler politischer Vorstellungen (z. B. "Verfassungspatriotismus") gehört es, die Moderne als "Projekt" aufzufassen, zugleich aber durch die Fixierung auf das bürgerliche Recht und die Marktwirtschaft übergreifende Gesichtspunkte einer nichtregressiven (also z. B. nicht völkischen) inhaltlichen Übereinstimmung der Bevölkerung zu verunmöglichen. Ein Theoretiker der Sozialistischen Partei Frankreichs schrieb:
"Wenn es keine Gesamtvorstellung gibt, die Politik, Wirtschaft, Kultur und Soziales miteinander verbindet, Prioritäten setzt, […] sondern nur einzelne Probleme, die getrennt zu lösen sind, ohne dass es notwendig ist, den Zusammenhang zu erkennen, in dem sie miteinander stehen - als Teil eines Ganzen -, kann die Wahl der Lösungen nur technischer Natur sein oder nach dem 'Mehrheitsprinzip' geschehen" (Guidoni 1989, 68)
Im von Guidoni kritisierten Horizont stehen folgende "Werte" obenan: "Die Verherrlichung des Individuums, dessen Freiheit Selbstzweck ist, der Hass auf den Staat und auf jedes kollektive Unternehmen, der Egoismus, der zum positiven und höchsten Wert erklärt wird, der Kult des Geldes, der Glaube an den Markt, […] das Bevorzugen des Privaten gegenüber dem Öffentlichen." (Ebd.)
In einer modernen bürgerlichen Gesellschaft mit kapitalistischer Marktwirtschaft existiert günstigenfalls ein Konsens in der Anerkennung der eher defensiven Menschen- und Grundrechte sowie der Menschenwürde. (Bei ihr handelt es sich um einen recht abstrakten Wert - vgl. Creydt 2015, 195-201.) Darüber hinaus existieren keine die Bevölkerung einenden, inhaltlich starken Grundüberzeugungen.
Es fehlt eine gemeinsame Praxis, die als wesentlich für die Entwicklung der menschlichen Vermögen aller Mitglieder der Bevölkerung angesehen wird. Es gibt kein "allgemeines Werk, das sich durch das Tun Aller und jeder als ihre Einheit […] erzeugt" (Hegel 3, 325).
Der Marktwirtschaft entspricht eine "magere" Demokratie. "Man könnte meinen, es ging ihr (der liberalen oder repräsentativen Demokratie - Verf.) eher darum, […] Menschen auf sicherem Abstand zu halten als zu fruchtbarer Zusammenarbeit zu bewegen" (Barber 1994, 33).
"Das Individuum ist gegen die alten Despotien von Hierarchie, Tradition, Rang, Aberglauben und absoluter politischer Macht mit Hilfe einer Theorie des vollständig isolierten Individuums verteidigt worden, das durch abstrakte Rechte und Freiheiten definiert ist. Doch als diese Theorie in der Welt wirklicher sozialer Beziehungen praktisch umgesetzt wurde, hat sie sowohl die fruchtbaren wie die tyrannischen Bindungen aufgelöst und die Individuen nicht nur gegen Machtmissbrauch gefeit, sondern auch voneinander abgeschnitten." (Ebd., 75f.)
Der Liberalismus und die repräsentative Demokratie sind untrennbar verbunden mit jenem "Pessimismus und Zynismus, jener Negativität und Passivität", die beide "zwar gegen naive Utopien und die Tyrannei des Idealismus immunisieren, zugleich jedoch seine vorsichtigen Hoffnungen untergraben, seine Theorie mager und fadenscheinig machen und seine Praxis der Korrosion durch Skeptizismus […] aussetzen" (Ebd., 102).
Treuhänder und Repräsentanten meiner Belange
Viele Demonstranten gegen die Corona-Politik übertreffen mit ihrem Egoismus und Egozentrismus noch das in der Marktwirtschaft übliche Maß. Die Marktwirtschaft schwächt Empathie, Vertrauen, Wohlwollen, Anteilnahme und Weitsicht empfindlich. Viele, die die Maßnahmen gegen die Seuche pauschal ablehnen, zeigen gegenüber den international anerkannten Virologen und Epidemiologen (bzw. ihren Empfehlungen: massive Verringerung von Kontakten, Einhaltung von Regeln wie Maske-Tragen und Abstand halten) einen extremen Mangel an "Zutrauen zu einem Menschen", das "seine Einsicht dafür ansieht, dass er meine Sache als seine Sache, nach bestem Wissen und Gewissen, behandeln wird" (Hegel 7, 478).
Eine Skepsis gegenüber unbegründeter Vertrauensseligkeit ist legitim. Bei den Demonstrationen gegen die Corona-Politik wird aber wenigstens auf dieses Thema bezogen eine Mentalität deutlich, die keine positive Gesellschaftlichkeit kennt. Damit bezeichne ich hier Verhältnisse, in denen im Rahmen der Arbeitsteilung andere in meinem wohlverstandenen Interesse für mich arbeiten. Der Handwerker, der Lehrer oder der Arzt sind, wenn sie gute Arbeit leisten, meine Repräsentanten.
Sie sind dann meine Treuhänder in Feldern, in denen ich mich nicht auskenne. Als endliches Individuum kann und will ich kein Alleskenner und Alleskönner sein. Ich weiß um die Gefahr der Ausnutzung von Kompetenzen bzw. Expertise und ebenso um soziale Mechanismen, die das verhindern. Ich bin weder leichtgläubig noch voller pauschalem Misstrauen.
Unter der Voraussetzung der Gegensätze zwischen Privatinteressen entsteht eine Mentalität, die sich nicht vorstellen kann, dass die einen für die anderen arbeiten, weil es zum Verständnis ihrer Arbeit als gute Arbeit gehört, mit dem Arbeitsprodukt oder der Dienstleistung das Wohl des Empfängers des Guts oder des Adressaten des Dienstes zu fördern. Eine solche gute Arbeit hat "einen intersubjektiv teilbaren Sinn" und ist nicht "e i n z i g ein Mittel zur Einkommenserzielung" (Thielemann 2010, 347).
Sie orientiert sich nicht allein an einem strategischen Handeln oder einer reinen Erfolgsorientierung. "Für die Konsumenten eine 'gute' Leistung zu erbringen heißt, sich nicht opportunistisch an manifeste Kundenwünsche anzupassen und noch weniger, im Kunden bloß die Kaufkraft zu erblicken" (Ebd., 348).
Das gehört zum Anforderungsprofil von Professionen: "Leiste Deinen Zeitgenossen, aber nicht was sie loben, sondern was sie bedürfen", heißt es bei Schiller.