Covid-19 und die Vorstellungen von Staat und Gesellschaft
Seite 2: Das pseudokritische Misstrauen verkennt den Doppelcharakter der Marktwirtschaft
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So etwas können sich Leute mit einem generalisierten bzw. pauschalen Misstrauen nicht vorstellen. Sie müssen annehmen, dass alle alle betrügen.
Die Ausnutzung von Kompetenzvorsprüngen zum Betrug gilt diesem Bewusstsein als d a s Merkmal der Gesellschaft. Wer so denkt, kann sich nur vorstellen, durch direkte Präsenz in jedem arbeitsteiligen Feld und durch eigene Kontrolle dem "Betrug" Herr zu werden. Das ist praktisch unmöglich.
Je mehr sich das misstrauische Bewusstsein auf diese Perspektive versteift, "desto geringer mein Vertrauen, dass ein selbständig handelnder anderer auch Sachen richtig macht, die mich betreffen, - desto größer mein Misstrauen, dass der andere nur seinen eigenen Vorteil verfolgt" (Suhr 1975, 296).
Eine solche Mentalität "gebiert das Misstrauen, dass niemand anders als nur ich die Sachen richtig machen kann, die mich betreffen. Und sie gebiert es nicht nur, sondern ist die Erscheinungsform dieses bodenlosen Misstrauens in den Menschen, das immer von neuem den misstrauischen Menschen produziert" (Ebd., 297).
Dieses Misstrauen fokussiert sich auf die Interessengegensätze in der Marktwirtschaft, ignoriert aber deren Doppelcharakter. Selbst in ihr existiert nicht nur Tauschwert, sondern auch Gebrauchswert, nicht nur Antagonismus, sondern auch Zusammenarbeit von Geschäfts"partnern".
Auch Wirtschaft im Dienste des Profits muss Vorprodukte verarbeiten und Dienstleistungen nutzen können. Würden alle alle betrügen, funktionierte keine Kooperation, keine Lieferkette und keine Kundenbindung. Niemand könnte sich auf eine sachgerechte Qualität eines Gebrauchswerts oder einer Leistung verlassen. Gewiss gibt es täuschende Gebrauchswertversprechen und eingebauten Verschleiß. Das pseudoradikale Misstrauen stilisiert die Gesellschaft aber extremer und d.h. widerspruchsloser, als sie ist.
Wer sie als eindimensional auffasst, kann selbst ihr immanentes Funktionieren nicht begreifen. Ansätze (s. "gute Arbeit"), auf die sich eine grundlegende Transformation der Gesellschaft stützen könnte, darf es diesem vermeintlich radikalen Misstrauen zufolge schon gar nicht geben. Was zuerst aussieht wie eine Kritik an der starken Tendenz innerhalb der Marktwirtschaft zu asozialem Handeln, erweist sich als Einverständnis. Misanthropismus und Zynismus erscheinen diesem Bewusstsein als Realismus.
Die fixe Idee von der Universalität des Betrugs zieht weitere Konsequenzen nach sich: Wenn die missliebigen Auffassungen anderer als "fake news" gelten, wenn kein Wissen anerkannt, sondern angenommen wird, es gebe ausschließlich standpunktabhängige Interpretationen, dann hat jede Person die Freiheit dazu, sich die Welt so zurechtzulegen, wie sie ihr gefällt oder missfällt.
Im Anschluss daran ist es nicht weit bis zum nächsten Schritt: Die eigenen unaufgearbeiteten wirren, aggressiven und destruktiven Gemütsregungen darf man nun endlich ungefiltert rauslassen und austoben.
Als Befreiung gilt, sich von aller rationaler Distanz zum Projizieren und Sich-Suhlen im eigenen psychischen Unrat zu emanzipieren und ganz "authentisch" nur noch man selbst zu sein. Auf einer Querdenker-Netzseite (corodok) werden Helfer bei Covid-19- Untersuchungen als "Abstrichjungen" tituliert (6.11.20) und zur Corona-App heißt es "Stasi-Träume werden wahr" (30.12.20), obwohl selbst der Chaos-Computer-Club die App für unbedenklich hält.
Eine lesenswerte Einschätzung von Nielsen bringt die Gefühls"politik" solcher Agitatoren gegen die Bekämpfung der Covid-19-Seuche gut auf den Punkt. Demagogen haben es schon immer verstanden, aus den Ressentiments und toxischen Emotionen frustrierter Bürger ihr Kapital zu schlagen. Mit diesem "Rohstoff" können Leute, die etwas anderes wollen, nicht arbeiten.
Die vom guten Leben und von einem sinnvollen Reichtum geprägte Gesellschaft
Was ist die Alternative zur Asozialität begünstigenden Seite der Marktwirtschaft und zur "mageren" Demokratie? Wie muss eine Gesellschaft aussehen, die "gute Arbeit" fördert? In einer "starken" Demokratie, in der das Paradigma des guten Lebens (vgl. Creydt 2017, 146-178, Creydt 2019) herrscht, wird ein neuer Begriff des Reichtums notwendig.
Er orientiert sich nicht an der Mehrung des Bruttosozialprodukts oder an der Verwertung des Kapitals, sondern an der Entwicklung menschlicher Fähigkeiten, Sinne und Reflexionsvermögen. Diese Entwicklung geschieht in Arbeiten und Tätigkeiten, an Objekten, in Beziehungen und in der politischen Erwägung und Beratung über die Gestaltung der Gesellschaft. Sinnvolle Arbeiten und Tätigkeiten sind dadurch bestimmt, dass sie sich an der Entwicklung der menschlichen Grundvermögen im Arbeiten bzw. in den Tätigkeiten und an deren Produkten bzw. Dienstleistungen orientieren.
Privateigentum, Konkurrenz und Kapitalverwertung bilden Hindernisse dieses neuen Reichtums. Erst die gesamtgesellschaftliche Beratung, Erwägung und Entscheidung über die Proportionen zwischen den verschiedenen notwendigen Arbeitsprodukten und Dienstleistungen eröffnet eine Aufmerksamkeit für deren jeweiligen Stellenwert.
Not-wendig wird es, Freiheit nicht allein als individuelle Freiheit (oder als Nichtunterworfensein unter die Willkür einer besonderen Person oder des Staats), sondern auch als gesellschaftliche Freiheit zu verstehen. Bereits kollektive Dienstleistungen können erst dann von den Individuen gewählt werden, wenn sie gesellschaftlich bereitgestellt werden.
"Sich selbst überlassen, wird er (das vereinzelte Individuum - Verf.) immer dazu neigen, eher individuelle Güter zu fordern als kollektiv Dienstleistungen oder Einrichtungen. […] Es gibt also kein spontanes Votum für die Prioritäten und Werte der ‚Konsumgesellschaft‘ […]; es gibt nur die Ohnmacht, eine Alternative zu definieren und dafür einzutreten." (Gorz 1967, 119f.)
Die gesellschaftliche Steuerung und Gestaltung des Stoffwechsels mit der Natur und des innergesellschaftlichen Stoffwechsels wird selbst zum Gegenstand von demokratischer Reflexion und Gestaltung. Gefragt wird nicht nur, wie die Produktion Bedürfnisse befriedigt, sondern Bedürfnisse selbst schafft. Dies ist ein Thema der deliberativen oder "starken Demokratie" (Barber).
In ihr gestaltet die Bevölkerung bewusst das Verhältnis zwischen den Bedürfnissen und der Produktion. In der Antizipation der problematischen Folgen, Voraussetzungen und Implikationen z. B. der Verallgemeinerung des Autoverkehrs ("autogerechte Stadt", Verwandlung von Straßen aus Begegnungsräumen zu Transportpisten usw.) würde die Bevölkerung es vermeiden können, zur abhängigen Variable einer sich selbst verstärkenden Eigendynamik zu missraten.
Letztere folgt der Formel: Produktion -> Ausdehnung der Nachfrage nach den produzierten Gütern -> Ausdehnung der Produktion usf. "Die Erzeugung des Humanen" (bzw. der Lebensweise und -qualität) kann nicht länger "bloßes Nebenprodukt der Erzeugung von Gegenständen" sein. Vielmehr gelingt das gute Leben erst dann, wenn es "zum vorrangigen Zweck" wird - der Arbeiten, der Dienstleistungen und der Gesellschaftsgestaltung (Kilian 1971, 197, 198).
Die vom guten Leben geprägte nachkapitalistische Gesellschaft arbeitet daran, Konkurrenz, Besitzindividualismus und Subalternität usw. zu überwinden. Die entsprechenden Gesellschaftsformen und Institutionen gelten dann nicht nur als notwendige äußerliche Bedingung einer reichen Subjektivität. Die Subjektivität unterscheidet sich von gesellschaftlichen Strukturen, weiß diese aber als Ermöglichungsgrund ihrer Lebensqualität.
Die Mitglieder einer vom guten Leben geprägten Gesellschaft können es wertzuschätzen, dass sie in Institutionen und Strukturen leben, die ihnen die gemeinsame Arbeit der Bildung ihrer Fähigkeiten, Sinne und Reflexionsvermögen nicht nur erlauben, sondern diese unterstützen.
Sie betrachten diese Institutionen und Strukturen als ihr Sozialeigentum, auf das sie stolz sind. Ihnen ist bewusst: Diese Gesellschaftsformen ermöglichen die Überwindung von Problemen, die von den vereinzelten Einzelnen individuell nicht gelöst werden können - auch nicht mit noch so viel Ichstärke und Privatbesitz.