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Darum brauchen wir ein Bedingungsloses Grundeinkommen

Das BGE böte weniger Raum für Neid. Eine Folge wäre zudem eine rationalere Politik. Und mehr Zufriedenheit mit der Erwerbstätigkeit. Warum es dennoch nicht eingeführt wird.

Mit dem vorgesehenen Wechsel von Hartz IV zu einem Bürgergeld [1] rückt ein "Bedingungsloses Grundeinkommen" (BGE) weiter in die Ferne. Denn obwohl eine wenigstens minimale Grundsicherung bereits verfassungsrechtlich geboten ist, wird auf Bürokratie und allerhand Bedingungen nicht verzichtet werden. Dabei sollte man ein BGE nicht als Almosen verstehen, sondern als quasi notwendige Entschädigung für opulente Ansprüche von Politik, Verwaltung und Eigentümern.

Natürlich gibt es starke, vor allem lautstarke Stimmen gegen ein BGE: Das sind zunächst all jene, zu deren Geschäftsmodell die materielle Existenzangst hinreichend vieler Bürger gehört. Einerseits werden so schlecht bezahlte Jobs besetzt, andererseits darf sich jeder mit einem noch so unattraktiven Beschäftigungsverhältnis überlegen fühlen.

Es sind aber nicht nur Arbeitgeberverbände und viele kleine wie große Firmen, die in einem BGE Gefahren für ihr Recruiting sehen. Hunderttausende Mitarbeiter in den Sozialverwaltungen und bei deren Dienstleistern bestreiten ihr Auskommen mit der Aufrechterhaltung des Hartz-IV- und künftigen Bürgergeld-Systems. Und nicht zuletzt würde Politikern und den sie kommentierenden Journalisten Erhebliches fehlen, wenn sie nicht ständig neue Maßnahmen in der Sozialpolitik fordern könnten.

Die öffentliche und über die vielen Jahre sehr ungeordnete Diskussion über ein BGE wird auch dadurch erschwert, dass sich die Befürworter keineswegs einig sind. Sie verfolgen unterschiedliche Interessen und forcieren entsprechend sehr unterschiedliche Modelle, wie ein BGE organisiert werden könnte. Doch ungeachtet aller Ideen lautet die erste und zunächst einzig relevante Frage: Warum sollte es überhaupt ein BGE geben?

Eine Antwort lautet: Weil man ohne BGE nicht mehr frei geboren wird. Es geht nicht darum, mit einem Anspruch gegenüber irgendwem auf die Welt zu kommen, sondern, im Gegenteil, den Ansprüchen der bereits Lebenden wenigstens für ein Existenzminimum genügen zu können. Denn sie stellen Forderungen, sie setzen ohne jede Alternative Regeln.

Die Gesellschaften haben ein unüberschaubares Dickicht an Ge- und Verboten geschaffen, welches es unmöglich machen, dass noch irgendjemand auf eigenen Beinen steht, ohne mit unzähligen anderen Menschen Vereinbarungen zu treffen und sich damit von diesen abhängig zu machen.

Weil es dabei mächtigere und weniger mächtige Akteure gibt, über deren reale Herrschaft nicht gerne offen gesprochen wird, gibt es dafür eine geläufige, aber sehr verschleiernde Chiffre: "der Staat". Es ist gerne "der Staat", der irgendetwas möchte, unternimmt, unterlässt, der bezahlt und Geld kassiert, Sanktionen erlässt und das alleinige Recht zur Ausübung körperlicher Gewalt hat. Dieser Staat – in Wahrheit sind es natürlich stets konkrete Menschen – stellt so viele Bedingungen auf, dass ohne Geld niemand in diesem Land leben kann.

Denn selbst die ursprünglichste Lebensweise als Jäger und Sammler ist unmöglich, faktisch wie juristisch. Und auch, wer dank Familienbesitz mit einer Ackerscholle unter den Füßen geboren wird, kann seine Feldfrüchte nicht einmal gegen andere lebensnotwendige Güter tauschen, ohne sich der Herrschaft des Staats zu unterwerfen. Es ist schlicht niemandem mehr möglich, seinen Lebensunterhalt unmittelbar mit eigenem Tun zu bestreiten.

Die herrschende Politik selbst macht das BGE notwendig

Kurz: Es braucht ein BGE, weil andere – demokratisch: die Mehrheit, faktisch oft doch eher einige wenige Menschen als "Gesetzgeber" o.ä. – Forderungen aufstellen, ohne deren Erfüllung das Überleben auch mit sehr motivierten eigenen Kräften gar nicht möglich ist.

Die demokratische Begründung für ein BGE ist also nicht, dass da einzelne gerne fürs Nichtstun von allen anderen Geld haben wollen, sondern dass alle gemeinsam, vertreten durch ihre Politiker, Forderungen fürs pure Überleben stellen, ohne dass diesen jemand entkommen könnte. Es ist also die herrschende Politik selbst, die ein BGE nötig macht, damit sie ihre Herrschaft überhaupt ausüben kann, ohne das elementarste Menschenrecht zu verletzen.

Anders gesagt: Politiker haben sich im Laufe der Zeit für praktisch alles zuständig erklärt, von der Wiege bis zur Bahre, womit sie längst auch fürs nackte Überleben zuständig sind. Das hat jüngst auch das Bundesverfassungsgericht erkannt und deshalb entschieden [2], eine Kürzung von Hartz IV unter ein "menschenwürdiges Existenzminimum" verstoße gegen das Grundgesetz. Damit haben wir praktisch ein BGE – nur mit sehr, sehr viel Bürokratie.

An einem BGE führt also kein Weg vorbei, wenn sich eine Gesellschaft freiheitlich-demokratisch verstehen will. Über die Ausgestaltung kann und muss man dann natürlich noch ausführlich sprechen, es gibt sehr viele interessante, aber sehr unterschiedliche Modelle.

Ein BGE wird jedenfalls nicht dazu führen, dass plötzlich alle Menschen ökonomisch gleich sind, konkret wohlhabend, wie das immer wieder durch die Debatten geistert und auch in zahlreichen Forenbeiträgen zum Artikel "Bedingungsloses Grundeinkommen: Richtiger Ansatz im Falschen [3]" anklingt.

Solange nicht sämtliche Tätigkeiten von Maschinen verrichtet werden und deren Leistungen bezahlungsfrei allen zur Verfügung stehen, ist das illusorisch. Ein BGE wird am finanziellen Status der meisten Menschen nichts ändern.

Denn es geht ja nur darum, einen indirekten Arbeitszwang und die mit ihm verbundene Bürokratie abzuschaffen. Das Arbeiten wird für alle freiwillig, was es bisher nur für die große Mehrheit ist, die damit mehr als das Existenzminimum verdient, die also freiwillig mehr arbeitet, als sie zum Leben braucht. An der Motivation dieser Mehrheit wird sich nichts ändern.

Für diejenigen, die bisher mit ihrer Mindestlohnarbeit kaum mehr für ihre Bedarfsgemeinschaft verdienen, als sie ohne Arbeit mit Hartz IV bekämen, wird das Arbeiten sogar viel attraktiver, denn sie werden neben dem BGE real dazuverdienen, welche Steuersätze auch immer man anlegt.

Und wer mit seiner Auffassung, nicht arbeiten zu können, bisher im Clinch mit einem Jobcenter liegt, muss sich nirgends mehr rechtfertigen: Ja, es ist mit BGE völlig in Ordnung, keiner Lohnarbeit nachzugehen, obwohl man körperlich dazu in der Lage wäre. Allerdings könnte sich das nur mit BGE zur Verfügung stehende Angebot verändern:

Vermutlich wird etwa das Hamburger-Menü teurer, weil die bisherigen Arbeitskräfte in den Fast-Food-Ketten, in den Schlachthöfen und in der Landwirtschaft aus einer neuen Position der Stärke heraus besser Arbeitsbedingungen fordern – oder den Job eben schmeißen und der Markt einiges bereinigen wird.

Keine großen Änderungen zu erwarten

Nur deshalb gibt es auch massiven Widerstand: Nicht wegen der Finanzierung, die sich im Endeffekt sehr einfach gestalten wird, sondern wegen des enormen Machtverlusts, den diejenigen erleiden, die bisher die Bedingungen für ein Existenzminimum aufstellen oder sie verwalten, ob nun als Arbeitgeber im Niedriglohnsektor oder als Fallmanager im Jobcenter. Und die Bereitschaft zur Selbstausbeutung wird bei (Solo-)Selbständigen ebenfalls schrumpfen.

Wie immer man ein konkretes Modell rechnet: Bei unveränderter Tätigkeit wird sich im untersten Einkommensbereich eine (leichte) Erhöhung ergeben, bei der Mittelschicht wird sich gar nichts verändern und darüber wird evtl. wieder etwas mehr Steuer fällig werden als derzeit.

Neben dem Ende materieller Existenzangst und den damit verbundenen Kräfteverschiebungen auf dem Arbeitsmarkt sowie dem (eingepreisten) drastischen Bürokratieabbau darf man von einem BGE weitere Effekte auf die Gesellschaft erwarten, beispielhaft seien drei genannt.

1. Weniger Raum für Neid. Bisher gehört tatsächlich jeder, der nicht Hartz IV oder eine ähnliche Sozialleistung bezieht, zu den Finanziers dieses Systems. Denn unter anderem die Mehrwertsteuer muss jeder bezahlen, ohne diesen Obolus gibt es nicht einmal ein reduziertes Brot vom Vortag. Da ein BGE die meisten bisherigen Transferleistungen ersetzen muss, sind dann in der gemeinschaftlichen Grundversorgung alle gleichgestellt: BAFÖG, Mindestrente, Aufstocker-Zahlungen – alles wird BGE. "Warum bekommt der eine was und ich nicht?" – diese Frage gibt es dann nicht mehr.

2. Rationalere Politik. Immer noch wird bei politisch brisanten Projekten mit Arbeitsplätzen argumentiert. Das ist zwar ökonomisch schon immer falsch, aber emotional richtig: ohne Job keine Existenz. Ein BGE könnte hier wenigstens etwas Entspannung bringen, weil bei keinem Job mehr argumentiert werden kann, es brauche ihn unbedingt. Und mit BGE kann sich selbst in Regionen mit grundlegendem Wirtschaftswandel halbwegs Neues entwickeln, weil eben mit der garantierten, jederzeit unbürokratisch verfügbaren Grundsicherung jeder auch Experimente eingehen kann.

3. Mehr Zufriedenheit mit der Erwerbstätigkeit. Die Grundsicherheit durch ein BGE erleichtert berufliche Veränderungen inklusive Weiterbildung, der Job oder die Jobs können an die jeweilige Lust- und Lebensphase angepasst werden. Das verbreitete "Warten auf die Rente" entfällt (vom Abschluss privater Versicherungsmodelle abgesehen), weil jeder jederzeit mit seinem BGE "in Rente gehen" kann, aber eben auch so lange und viel arbeiten darf wie er mag.

Der Einführung eines BGE steht wie so oft entgegen, dass sich diejenigen, die es tendenziell für richtig halten, über die genaue Form nicht einig sind und sich dafür gegenseitig attackieren. Was wiederum an zwei Grundproblemen in gesellschaftlichen Debatten liegt: Zum einen vertritt jeder Lobbyist immer auch seine eigenen Interessen und nicht nur die derer, für die er angeblich spricht.

Man möchte mit seiner Idee durchkommen, der eigene Name soll mit einem Erfolg verbunden sein, man selbst möchte mit seiner Lobbyarbeit ein gutes Auskommen haben. Diesen Interessen stehen gütliche Einigungen regelmäßig im Wege. Wer davon lebt, Probleme lösen zu wollen, hat eben selbst ein Problem, wenn das ursprüngliche Problem tatsächlich gelöst ist.

Zum anderen werden Demokratien unter Stichworten wie "Sozialstaat" als Wunschkonzert missverstanden: Ein jeder meint, alles Mögliche fordern zu dürfen, ohne begründen zu müssen, warum andere etwas für ihn oder seine Klientel leisten sollten.

Mit der Einführung eines BGE wären selbstredend längst nicht alle sozialen Fragen geklärt (erinnert sei nur an das Problem Grundeigentum [4]). Und für die notwendige grundlegende Umstellung der Sozialverwaltung muss in der Tat noch diskutiert werden, welche weiteren Transferleistungen es auch mit BGE noch geben soll oder geben muss.

Aber es wäre sinnvoll, einen Schritt nach dem anderen zu tun und zunächst festzustellen, dass ein BGE unumgänglich ist, weil es eben gerade keine Forderung nach Geld fürs Nichtstun ist, sondern eine notwendige Kompensationszahlung, damit das gegenwärtige Wirtschaftssystem einstweilen weitermachen darf, obwohl es so extrem übergriffig ist.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7330064

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Kabinett-beschliesst-Buergergeld-scharfe-Kritik-von-zwei-Seiten-7264142.html
[2] https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2019/11/ls20191105_1bvl000716.html
[3] https://www.heise.de/tp/features/Bedingungsloses-Grundeinkommen-Richtiger-Ansatz-im-Falschen-7314235.html
[4] https://www.heise.de/tp/features/Eigentum-an-Haus-und-Grund-ist-kapitalistische-Ideologie-4411452.html