Das Buch ist tot - es lebe das Hyperbuch!

Vom Ettlinger Internet-Literatur-Wettbewerb zu einem hyperliterarischem Lesebuch

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Hypertextuelle Erzählformen, die bis vor wenigen Jahren nur von wenigen Schreibern und fast unter Ausschluss der Öfentlichkeit produziert wurden, blühen nun in verschiedensten Varianten auf. Heiko Idensen, selbst einer der Hypertextpioniere im deutschen Sprachraum, nimmt sich die Preisträger und Nominierungen des Ettlinger Internet-Literatur-Wettbewerbs vor.

Wo sind die Nachrufe und Abgesänge auf das ambitionierte Magazin Mediamatic, das in seiner letzten Ausgabe (die ironischerweise "The Printed Issue" betitelt ist und hauptsächlich von Browseralternativen im Netz handelt) ganz unpathetisch das endgültige Einstellen der Printausgabe verkündet:

Da 80% der Buchproduktionskosten für Papier, Druck, Vertrieb,Transport und andere Aufwendungen, die mit dem Inhalt nichts zu tun hätten, verbraucht werden, sei der Grund für das Verschwinden gedruckter Bücher schlichtweg ein ökonomischer: man wolle die Energien lieber in konzeptuelle Weiterentwicklungen digitaler Formate stecken, in die Online-Version des Magazins und die Verbreitung künstlerischer CD-ROMs und DVDs. Seit einigen Jahren hätten die Webseiten ohnehin schon mehr Leser als die Printausgabe.

"Zeiten(w)ende" im Netz?

Währenddessen feiern die Buch-Extra Ausgaben der gängigen Magazine die Rückkehr der Erzählens, die großen Multimedia-Konzerne bereiten mit großangelgten Anzeigenkampagnen online-Vermarktungsstrategien vor, Microsoft schreibt einen mit 100.000 US $ dotierten Preis für ein ausschließlich für ebooks produziertes elektronisches Buch aus, Bestseller-Autoren schleusen das Internet als Teufelswerk in ihre neusten Machwerke ein, sogenannte "Internet-Tagebücher" vermeintlicher "Netzautoren" verschwinden sofort nach Erscheinen der entsprechenden Print-Ausgabe vom Server (so im Falle von Rainald Goetz's "Abfall für Alle")... aber was passiert eigentlich in und mit der und um die Netzliteratur herum?

Nachdem der Zeit- bzw. Pegasus Literaturwettbewerb in diesem Jahr keine Fortsetzung fand, ist es der Initiative von Oliver Gassner in Kooperation mit dem Kulturamt Ettlingen zu verdanken, dass kurz vor der Jahrtausendwende doch noch ein Internet-Literatur-Wettbewerb ausgeschrieben werden konnte: Zeiten(w)ende

Die in Ettlingen am 8.10.1999 (mit einem Hauptpreis von je 5000 DM) prämierten Arbeiten zeigen, dass im Vergleich zu den Vorjahren die Projekte stärker Kollaborationsformen im Netz betonen, mit netzspezifischen Austausch- und Verknüpfungsstrategien arbeiten und die User- und Leseraktivitäten auf die Spitze treiben.

Der "Themenpreis Jahr.1000.www.ende" (worauf sich keine der eingereichten Arbeiten explizit bezogen hat) wurde auf zwei Projekte aufgeteilt, die auf sehr gegensätzliche Art und Weise den Leser zum eigentlichen 'Autor' erheben:

Das Generationen-Projekt von Jan Ulrich Hasecke

Das Generationen-Projekt von Jan Ulrich Hasecke beruht auf dem Konzept einer Geschichtsschreibung von unten und hat sich zum Ziel gesetzt, für jedes Jahr aus dem Zeitraum der letzten 50 Jahre einen ganz persönlichen Eintrag, eine subjektive Momentaufnahme, das Fragment einer Biographie zusammenzutragen, um aus diesen Bruckstücken des kollektiven Gedächtnisses vielstimmig und multiperspektivisch Geschichte zu rekonstruieren und in ein immer feiner werdendes Raster einzutragen. Der Bestand wächst langsam aber stetig, das Interface ist unaufdringlich und hat die Form eines schlichten Archivs (vergleichbar etwa mit der weltweiten Sammlung von Zensurfällen im "Fileroom", einige Ereignisse sind miteinander verlinkt. Die Eingabe erfolgt nicht direkt, sondern per Email mit dezenten Eingriffen seitens des Initiators.

Ganz anders im Assoziations-Blaster der beiden Stuttgarter Merz-Akademie-Studenten Alvar Freude und Dragan Espenschied.

Assoziations-Blaster

Bisherige Mitschreib-Projekte im Netz kranken größtenteils daran, daß sie nach wie vor immer noch so tun, als würde ein vereinzelter User-Autor in einem einzigen Textfenster ganz allein für sich schreiben. Die einzelnen Textfragmente bleiben somit isolierte Einheiten (oder auch Zellen etwa im "Hyperknast"). Jedes Gästebuch, jedes Diskussionsforum - die Diskussionskultur der Newsgroups - strömen dagegen mehr kommunikative Energie aus. Frühe Ansätze kollaborativen Schreibens (wie "The first collaborative Sentence") oder das "Europäische Tagebuch" sind trotz verstärkter technischer Feedbackmöglichkeiten heutiger Netzprotokolle (wenn man etwa an die Annotationsmöglichkeiten zu beliebigen Seiten im Netz über "Third Voice" denkt) kulturell bisher kaum eingeholt.

Genau an dieser Schnittstelle zwischen technischen Parametern der Übertragung und Speicherung und den darauf aufbauenden kulturellen Kodierungen setzt der Assoziationsblaster an, indem er keine Strukturen, keine Themen, keinen Kontext vorgibt, sondern ausschließlich mit der Linkstruktur arbeitet. Die in ein Online-Formular von den Nutzern zu einem Stichwort eingespeisten Textfragmente werden einer gnadenlosen automatischen Verlinkung mit allen schon von anderen Usern in der Datenbank abgelegten Stichworten unterzogen. (Am 11.11.99 sind es 13695 Texte zu 1462 Stichworten). Somit wird die gemeinsame Schreiboberfläche geschickt an die Ursprungsutopien und -Mythen von Hypertext ("Everything is deeply intertwingled", Ted Nelson und vom WWW als gemeinsamer Lese- und Schreiboberfläche (etwa als "global brain") gleichermaßen zurückgebunden.

Am besten kopiert man sich die URL dieses Artikels und aktiviert dann mit dieser Adresse die Funktion "Web-Blaster" - sofort erscheint dieser Text komplett verlinkt nach den Assoziations-Blaster Stichworten, im Original Telepolis-Design versteht sich.

Informationsdichte durch Linkhäufung? Ist das vielleicht ein möglicher Versuch, Ansätze für eine Poetik der Netzliteratur zu finden? Ein Blick in die erfreulicherweise zugänglich gemachten Statistik-Seiten des Blasters zeigt aber auch Grenzen eines 'freien Assoziierens im Netz' auf, gerade wenn man die Hitliste der am häufigsten über Suchmaschinen gefundenen Begriffe betrachtet (etwa "Pisse", "wichsen", "Vorhautverengung").

Hier wechseln wir ganz schnell die Perspektive und schlagen als Kontrasterfahrung eine literaturkritisch-philosophische Leseweise des Assoziationsblasters von Roberto Simanowski in "Dichtung Digital" vor!

Dichtung Digital

Dieses Online-Magazin zur Netz-Literatur-Kritik bietet einen fundierten kritischen Diskurs über Netzliteratur, der sich auf die spezifischen hypertextuellen und -medialen Formate einläßt und selbst neue wissenschaftliche Schreibweisen erprobt. Das wurde in Ettlingen mit einer Nominierung in der Kategorie "Projekte" belohnt.

Projekte

Café Nirwana

Alles hängt eben doch mit allem zusammen im Netz - und wenn nicht, kann man es recht einfach zusammenführen! Während aber das an MUDs und MOOs orientierte "Café Nirwana" von Olivia Adler noch versucht, ganz wörtlich begehbare Texte (als klickbare Objekte!) anzubieten, schafft hier der Preisträger Guido Grigat mit "23:40" eine Verknappung und Verdichtung durch eine Erschwerung des Zugangs zu den Dokumenten:

"23:40" von Guido Grigat

Das Schreib- und Erinnerungsraster ist hier in Minuten eingeteilt, also 24 x 60 = 1440 Zeitslots. Die Mikro-Erinnerungen der UserInnen können nur zur jeweils zugewiesenen Minute abgterufen werden.
Beispiel: login 24.40 Uhr zeigt das für diese spezifische Minute abgelegte Dokument - und sonst gar nichts! Eine Minute später folgt automatisch das nächste Erinnerungsfragment (für 23:41 Uhr). Falls die Zeit-Slots noch leer sind, muß man eben warten...

Eine wunderbare (oder fatale?) Bindung von erzählter Zeit an die Erzählzeit oder von virtueller Zeit an die sogenannte Realtime oder? Der Netz-Literatur-Kritiker ist verwirrt.

Autorenpreise

Trotz des immer wieder verkündeten "Tod des Autors" gab es in Ettlingen die Kategorie "Autorenpreis". Nominiert wurde hier das Zwei-Autorenprojekt "AMOK" von Stefan Rodenberg und Heiko Spilker.

"AMOK" von Stefan Rodenberg und Heiko Spilker

In "AMOK" öffnen sich die Schreibräume zweier Autoren, auf der Startseite repräsentiert durch zwei Gehirnhälften, die zu AMOK-Schreibern werden: infiziert durch Materialien, die sie durch Suchläufe zum Thema "Amok" im Netz aufgespürt und verfolgt haben. Wer verfolgt hier eigentlich wen?

"Missing Link" von Claudia Klinger

Das Webmagazin "Missing Link" von Claudia Klinger ist ein Text-Universum mit sehr heterogenen Textsorten ganz eigener Art: Tagebücher, Briefwechsel, Gedichtsammlungen, erotische Geschichten, eine experimentelle Text-Kollage zu Vilem Flusser von Reinhold Grether u.a.

Eine geplante Performance-Lesung mit dem Berliner "Print-Autor" Bert Papenfuß kam leider nicht zustande: Martina Kieninger hatte aus gefaxten Textfragmenten den Beginn eines "Web-Adventures" nach dem Muster von 'Schiffeversenken' programmiert, konnte die Texte aber nur selbst zum Navigieren auf der Webseite vorlesen. Netzliteratur und Literatur scheinen doch ganz verschiedene Welten zu sein!

Martina Kieninger liest Bert Papenfuß

Und zwischen all dem sitzen die Autoren wie Spinnen im Netz, warten auf das Upload ihrer Texte, stricken Linklisten und beobachten Userstatistiken? Wohl kaum!

"Hilfe!" von Susanne Berkenheger

Prämiert wurde in der Kategorie "Autor" Susanne Berkenheger mit "Hilfe!", die bereits 1997 für "Zeit für die Bombe" - eine Besprechung aus Nina Hautzingers "Vom Buch zum Internet?" - mit dem Internet-Literaturpreis des Zeit-IBM-Wettbewerbs ausgezeichnet wurde.

Durchaus vergleichbar mit Olia Lialinas "My boyfriend came back from the war", worin eine Frame-Struktur konsequent für narrative Verschachtelungen eingesetzt wird, buhlen hier 4 Fenster um die Aufmerksamket der Leser. Windows-TM-Literatur?

Das Versprechen der Netzliteratur nach Interaktion und maximaler Kontrolle der Nutzer über den Leseprozess bedeutet keinesfalls, daß die AutorInnen völlig unstrukturierte flache Texte mit zufälligen (fraktalen?) Sinnverteilungen produzieren könnten, sondern verlangt ganz im Gegenteil einen hohen Programmieraufwand in den Meta-Strukturen der Hypertexte (hier mit JAVA realisiert): Geschichten, Mini-Szenen, einzelne Plots warten darauf, von den Usern aktiviert zu werden - können dann aber nur bis zur nächsten Verzweigung einen Mikro-Spannungsbogen entwickeln: andere Fenster öffnen sich, Akteure fallen heraus, Helden stürzen ab - selbst Fehlermeldungs-Boxen werden zu narrativen Elementen.

Logout: Hyperfiction - das Lese-Buch

Wenn all dies keine (Hyper)Fiktionen sind, der Wettbewerb, die Preisverleihung, die Laudatio, dann gibt es sie also doch - die Netzliteratur?

Hyperliterarisches Lesebuch

Ein Großteil der hier angesprochenen Netzliteratur-Projekte ist zu finden auf einer CD-ROM zu dem von Beat Suter und Michael Böhler herausgegeben Buch "Hyperfiction. Hyperliterarisches Lesebuch: Internet und Literatur", zusammen mit weiteren Projekt-Archiven zur Online-Literatur, Diskussionen, Essays, sowie mit weiterführenden literatur- und medientheoretischen Ausflügen zum Umfeld der Netzliteratur. Buch und CD-ROM lassen sich gut zusammen benutzen und ergänzen sich wechselseitig: man stöbert auf der CD-ROM in den Essays (sämtliche Texte sind in HTML verfügbar), navigiert durch Netzliteratur-Projekte, sucht per Volltextrecherche nach Begriffen, Namen, Schlagworten. Liest man im Buch längere Passagen nach, wird über ein einfaches Verweissystem wieder auf die CD-ROM verwiesen.

"Es gibt keinen Tod des Buches, sondern eine neue Art zu Lesen ... nichts zu verstehen, aber viel womit man experimentieren kann ..." (Deleuze / Guattari)

Und da auch ein hypertextuelles Lesebuch niemals fertig werden kann, laden die Herausgeber und Autoren die Leser ein, den digitalen Diskurs weiter zu führen, Kritik zu äußern, Anmerkungen zu machen, Fragen zu stellen in einem speziell eingerichteten Online-Forum:Hyperfiction log-in