Das Kleben der Anderen

Protest, Selbstvermarktung, Ausverkauf: Street-Art-Künstler verwandeln nicht nur urbane Räume in Galerien. Was für den einen politisch ist, ist für andere ein Karrieresprungbrett. Und was für so manchen Betrachter Kunst bedeutet, empfinden andere als Vandalismus

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Es klebt. Es hängt in den Großstädten Berlin, New York, Barcelona oder Madrid. Es pappt an Ampeln, Hofeingängen, Haustüren und Kaugummiautomaten. Es sind künstlerisch gestaltete Aufkleber, Schablonenbilder, Poster oder Scherenschnitte aus Papier: Street-Art ist spätestens seit dem Jahre 2000 aus den urbanen Zentren der Großstadtmetropolen nicht mehr wegzudenken.

Street-Art hat seine Wurzeln in der Writer-Bewegung der 70er Jahre New Yorks. Damals war es der Botenjunge Taki 183 , der 1969 durch die Straßen zog und seinen Namen amokverdächtig überall hin schrieb. 1971 brachte er es damit sogar bis in die New York-Times - es folgte eine Welle der Nachahmung. Wenngleich der erste Aktivist dieser Art - Josef Kyselak, der durch das Schreiben seines Namens im öffentlichen Raum bekannt wurde – im biedermeierschen Wien des 19. Jahrhunderts zu finden ist, legte Taki 183 damit den Grundstein für die heutige Writer-Bewegung, die sich bis dato in vielfältiger Weise ausdifferenziert hat. Aus anfänglich verschmierten Kürzeln wurden kalligrafische und prunkvolle Bilder, 1981 trug der französische Künstler Blek le Rat erstmals Schablonengraffiti auf, und seit Anfang der 1990er Jahre haben sich in Großstädten wie New York und Los Angeles erste Street Art-Szenen gebildet.

Bis heute streitet man über eine korrekte Namensgebung. Street-Art sei, so wie Graffiti, ein allzu medial angeschwemmter Begriff. Viele reden darum lieber von Aerosolkultur oder Urban Art, viele haben auch gänzlich die Schnauze voll: Hauseigentümer plagen, viele Bürger ärgern sich grün und blau über die unzähligen Zeichen, und selbst in der Szene ist man sich nicht ganz grüne: Zu brav seien all die verklebten Jungs (in der Regel sind es männliche Künstler), die ihre Werke in aller Ruhe von zu Hause aus vorbereiten und erst dann in den öffentlichen Raum eindringen. Alles herumklebende Weichpappen, egal mit welcher Papierstärke sie ihre Künste anbringen.

Graffiti wurde gerade in seiner Entstehungsphase immer wieder als Angriff auf die Werbeindustrie interpretiert, vielleicht auch etwas überinterpretiert. Der Philosoph Jean Baudrillard folgerte in seinem Buch „Kool Killer“ 1978, dass durch Graffiti erstmals die Werbung in ihrer Form attackiert wurde. Graffiti seien lediglich „symbolische Matrikel“, sie bedeuteten „nichts“, sie hätten keinen Inhalt und keine Botschaft. Ob Baudrillard das immer noch so sehen mag bleibt fraglich, Baudrillard ist vor wenigen Monaten verstorben. Die Künstler hingegen präsentieren sich lebendiger denn je. Seit der Galerist Stephen Eins 1978 die erste Graffiti-Art-Galerie eröffnete vergeht heute kaum mehr ein Jahr ohne eine internationale Ausstellung. Marken wie Puma oder Carhartt haben Street-Art zudem als Strategie entdeckt und setzen auf Gegenkultur. Schwierig nur, wenn alle auf Gegenkultur setzen, sich noch abgrenzen zu können. Plötzlich sind alle für etwas: für eine breite Reputation, für Anerkennung, in welchem Sinne auch immer.

Bis heute gibt es eine Fülle an Publikationen zum Thema Graffiti und Street-Art. Allerdings fehlen bislang wissenschaftliche Analysen gerade zu Street-Art. Selbst die in den letzten Jahren erschienenen Buchpublikationen im deutschsprachigen Raum setzten sich kaum analytisch mit den künstlerischen Eingriffen in den Stadtraum auseinander, vielmehr sind es Dokumentationen über die Szene selbst. Eine erste wissenschaftliche Arbeit für den deutschsprachigen Raum hat nun die Kulturwissenschaftlerin Julia Reinecke verfasst. Telepolis sprach mit der 28Jährigen, wohnhaft in Berlin, über Street-Art zwischen Protest, Selbstvermarktung und Ausverkauf.

Julia Reinecke, Sie haben eine erste wissenschaftliche Abhandlung über Street-Art geschrieben. Haben Sie schon einmal selbst Kunst im öffentlichen Raum angebracht?

Julia Reinecke: Nein, in dieser Form nicht. Aber ich habe bislang bei Kunstaktionen attestiert oder Ausstellungen organisiert. Und ich habe jetzt ein Buch veröffentlicht, nachdem ich meine Magister-Arbeit bereits über dieses Thema geschrieben habe.

Was hat Sie an Street-Art interessiert und fasziniert?

Julia Reinecke: Zunächst war ich überrascht, welche Formen Graffiti mittlerweile angenommen hat. Und ich war natürlich beeindruckt, wie Street-Art-Künstler die Straßen verschönern und wie sie die Werbung kommentieren. Viele dieser Künstler sind politisch. Sie publizieren ihre Meinung im öffentlichen Raum.

Viele argumentieren anders. Street-Art sei kein Angriff mehr auf die mediale Welt, sondern Teil dieser. Viele Street-Art-Künstler lassen sich bewusst von der Werbeindustrie vereinnahmen oder sind in diesem Kontext zu verorten, Stichwort Shepard Fairey.

Julia Reinecke: Das stimmt. Viele Street-Art-Künstler lassen sich von der Werbung vereinnahmen, und gerade durch die mediale Verbreitung via Internet versuchen viele Künstler sich zu vermarkten. Die Internetseite Wooster Collective ist heute die wichtigste Street-Art-Webpage. Die Akteure präsentieren dort ihre in der Straße angebrachten Arbeiten anhand von Fotos und Filmen und sie teilen den Anderen mit, wann ihre nächste Ausstellung stattfindet oder ob sie ein neues T-Shirt zum Verkauf anbieten. Zugleich machen Street-Art-Künstler aber noch immer darauf aufmerksam, wie penetrant Werbung heute sein kann. Viele Street-Art-Künstler kleben bewusst Poster oder Sticker neben oder direkt auf Werbeplakate. Die Werbeaussage wird somit verändert, indem man die gleichen stilistischen Mittel der Werbung verwendet, nur eben den Inhalt verkehrt.

Müssen dann nicht die Annahmen des Philosophen Jean Baudrillard als völlig überholt gelten, der einst in seinem Buch „Kool Killer“ folgerte, dass durch Graffiti erstmals die Medien in ihrer Form attackiert wurden, da sie der medialen Informationsschwemme lediglich „symbolische Matrikel“, also „nichts“, entgegenstellten. Graffiti hätten keinen Inhalt, keine Botschaft...

Julia Reinecke: Ich würde nicht sagen, dass Graffiti keinen Inhalt und keine Botschaft haben, auch damals nicht. Die ersten bekannten Tagger wie Taki 183 machten Werbung für sich, sie schrieben ihren Spitznamen und die Nummer der Straße überall hin. Das ist auch eine Form von Inhalt. Und es ist eine politische Aussage, wenn man in den öffentlichen Raum ohne nachzufragen eindringt. Man verfolgt dadurch auch kein fremd gesteuertes Ziel, wenn man sich selbst vermarktet. Man klebt nicht für andere, die Ziele verfolgen.

Sie schreiben in ihrem Buch selbst, dass Street-Art für viele Künstler ein Karrieresprungbrett ist, sie es also in gewisser Weise für sich selbst machen...

Julia Reinecke: Das ja, aber wenn schon, was ist dagegen einzuwenden? Sicher geht es vielfach nicht mehr darum, in welchem Kontext man Kunst anbringt, sondern, dass man Kunst anbringt. Für viele ist Street-Art eine Art Bewerbung im öffentlichen Raum für den nächsten Designerjob. Das will ich nicht abstreiten...

Warum kleben diese Leute überhaupt?

Julia Reinecke: Die Motive sind unterschiedlich. Teils möchte man sich künstlerisch auszudrücken und Kunst möglichst vielen Menschen zugänglich machen. Darum bringt man die Plakate und Sticker auch dort an, wo viele Menschen sind, nämlich in der Straße. Street-Art findet in der Regel in gentrifizierten, in "aufgewerteten" Stadtteilen statt. Ein weiterer Grund kann sein, dass man der Welt etwas Positives schenken möchte. So drückt es beispielsweise der Künstler die D*Face aus. Das Kleben kann natürlich auch rein ökonomische Gründe haben, wenn das auch nur auf einen kleinen Teil der Szene zutrifft und auch die meisten Künstler nicht davon leben können. Und schließlich sind viele der Aktivisten politisch; man möchte darauf aufmerksam machen, wie sich Gegenden, so etwa Berlin-Mitte, im Zuge von Gentrifikation verändern.

Müssten diese Leute dann nicht gerade in Orte gehen, wo es weh tut? Warum kleben die Aktivisten weniger in Randbezirken oder in besonders wohlhabenden Gegenden, wenn sie doch vorgeben, politisch zu sein?

Julia Reinecke: Das ist eine interessante Frage. In erster Linie wollen Street-Art-Aktivisten ihren Stadtteil verschönern; sie wollen dort agieren, wo sie leben – und natürlich wollen sie gerade mit ihresgleichen kommunizieren. Es geht darum, Teil eines Netzwerkes zu sein. Die Aktivisten gehen aber auch teils in andere Gegenden, Banksy aus London tut das beispielsweise. Aber ich gebe ihnen Recht, wenn man vorgibt, gegen den Kapitalismus zu kleben, müsste man gerade in besonders schicken und reicheren Gegenden aktiv sein und dort seine Meinung verbreiten.

Sie beschreiben in ihrem Buch einen Sell-Out-Diskurs in der Szene zwischen 2002 und 2004, der sich insbesondere am Künstler Shepard Fairey entzündete...

Julia Reinecke: Ja, Shepard Fairey wurde zum Sündenbock. Er war der erste im Bereich Street-Art, der populär wurde und damit Geld verdiente. Shepard Fairey ist ein tüchtiger Geschäftsunternehmer, er hat seine T-Shirt-Firma mittlerweile lizenzieren lassen. Er macht das auch gar nicht mehr selbst. Fairey argumentiert, um nochmals auf Baudrillard zurückzukommen, dass er sein ursprüngliches Ziel dennoch weiterhin verfolgt, nämlich ein Symbol zu verwenden, das ursprünglich keine Bedeutung hatte. Andere sehen das natürlich anders und werfen ihm Ausverkauf vor.

Steckt da nicht auch viel Neid dahinter?

Julia Reinecke: Sicher, es geht um Konkurrenz. Interessant ist in diesem Zusammenhang beispielsweise, dass viele Street-Art-Künstler, mit denen ich für meine Magisterarbeit gesprochen hatte, ihre Argumente später korrigierten, als plötzlich das Berufsleben begonnen hatte. Viele ließen von radikalen Formulierungen ab. Aber das ist auch völlig in Ordnung so...

Welche Ängste spiegeln sich Ihrer Meinung nach in den Arbeiten der Street-Art-Künstler wider? Künstler haben schon immer in ihren Werken Ängste bewältigt, ob in archaischen Gesellschaften Venus-Statueten, Vulven oder Phallusstäbe gebastelt wurden, weil Liebe nicht frei ausgelebt werden konnte oder man in schamanischen Kulten gefährliche Tiere nachahmte, da sie den Menschen bedrohten. Der britische Ethnologe Edward Evans-Pritchard folgerte etwa, die prähistorische Kunst sei der Versuch gewesen, „die Menschen von Angst zu befreien“. Wie sehen sie das?

Julia Reinecke: Da ist was dran. Aber verallgemeinernd lässt sich da für die Street-Art-Künstler schwer ein einheitliches Profil erstellen. Da müsste man die verschiedenen Künstler schon im Detail befragen. Die Ängste werden auch grundlegend verschieden sein...

Heute geht es da vielleicht weniger um Gefühle der Unterdrückung, Individualität wird ja bekanntlich weniger beschnitten. Vielleicht ist es eher die Angst, in einer medial pulverisierenden Welt nicht gesehen oder registriert zu werden?

Julia Reinecke: Das kann ein Grund sein. Man möchte sich mitteilen. Das klassische Graffitiziel war schon immer das so genannte Getting-up, das Bekanntmachen des eigenen Namens. Unterscheidet man in diesem Punkt zwischen Graffiti und Street-Art, wollen Graffiti-Writer vergleichsweise ihre eigene Klientel erreichen. Graffiti ist viel verschlüsselter, man muss die Codes schon kennen, man muss wissen, was sich hinter den Kürzeln verbirgt. Street-Art-Künstler hingegen sind eher an einem breiten Publikum interessiert...

Street-Art-Künstler sind auch im Gegensatz zur einstigen Writer-Bewegung der 70er Jahre in der Regel gut gebildet, teils intellektuell oder kleben mit Hochschulabschluss. Ist Street-Art etwas elitäres ?

Julia Reinecke: In gewisser Weise ja. Zumindest ist Street-Art elitärer als Graffiti, wenn auch nicht so elitär wie bildende Kunst. Zugleich gibt es eine Annäherung zur bildenden Kunst in der Szene, wenn sich auch viele Street-Art-Künstler von bildender Kunst distanzieren. Die meisten Writer hingegen haben heute und hatten auch schon zu Beginn der Writer-Bewegung in New York der 70er Jahre keinen Zugang zur bildenden Kunst. Die Writer scheiterten damals wegen ihrer sozialen Herkunft aus niederen US-amerikanischen Gesellschaftsklassen und weil ihnen schlicht das kunsthistorische Wissen fehlte.

Muss man da von einem Verdrängungseffekt sprechen, wenn nicht mehr die die Szene dominieren, für die Graffiti ein Sprachrohr bedeutete, weil sie keine Stimme in der Gesellschaft hatten?

Julia Reinecke: Das würde ich so nicht sagen. Diese Leute können ja noch immer sprühen, und das tun sie auch. Writer sind oftmals auch ganz anders drauf. Sie würden niemals eine Schablone wie der Londoner Banksy in die Hand nehmen, das ist ihnen nicht revolutionär genug, das ist ihnen zu soft, zu einfach. Writer wollen mit der Dose umherziehen oder Scheiben zerkratzen, nichts ist direkter als das. Ich will das nicht gutheißen, aber ich verstehe, warum diese Leute das tun. Auch sie wollen ihr Meinung kundtun. Anfangs dachte ich auch, das wäre sinnlos und blöd. Mittlerweile verstehe ich ihre Beweggründe und bewundere welche Energie die Kids aufbringen, um sich im öffentlichen Raum auszudrücken.

Das klingt sehr pädagogisch und verständnisvoll. Viele nennen es einfach Vandalismus. Verstehen Sie die Gegenseite, dass Hauseigentümer entsetzt und verärgert sind?

Julia Reinecke: Das tue ich. Verhindern lässt sich das jedoch nicht. Wichtig ist, dass es Wände gibt, die legal sind, so genannte Hall of Fames. Die gibt es aber immer weniger. So können sich Jugendliche nicht auslassen, und sie können nicht üben, um ihren Stil zu verbessern.

Was treibt die Jugendlichen auf die Straße, um zu sprühen oder Fensterscheiben in U-Bahnen zu zerkratzen?

Julia Reinecke: Das ist schwer zu sagen. In erster Linie sind sie einfach gegen etwas. Das können die Eltern sein. Jugendliche denken oft gar nicht so weit, welche Konsequenzen das alles haben kann. Sie wollen ihren Frust ablassen, Graffiti ist wie Street-Art ein Ventil. Zudem will man in einer Crew angehören, man will um die Häuser ziehen und „all city“ sein. Es geht ums Sehen und Gesehen werden. Ich glaube, dass es den jungen Sprayern, die illegal arbeiten, zunächst ein gutes Gefühl gibt, wenn sie ihren Namen oder den ihrer Crew überall in der Stadt sehen. Wenn dann auch noch andere Leute über ihre Aktionen sprechen, spornt es sie zusätzlich an.

Das Internet bietet heute die bequemste Möglichkeit, sich mitzuteilen und zu verbreiten. Wird das Internet die Straße als Ort zur Überbringung der Botschaften ablösen oder ersetzen können?

Julia Reinecke: Nein, das denke ich nicht. Das würde ja bedeuten, dass man einfach eine Datei im Internet hochlädt, das ist nicht umständlich genug, das ist auch zu legitim. Das Ungefragte und Spektakuläre ist in diesem Zusammenhang wichtig. Man will gegen Konventionen verstoßen, und es geht darum, dass es schwierig ist, im öffentlichen Raum Kunst anzubringen oder aktiv zu sein. Diesen Adrenalinschub in der Straße kann kein Internet ersetzen. Das Internet kann nur zur Verbreitung und Vervielfältigung von Botschaften dienen.

Seit 2005 gilt ein neues Anti-Graffiti-Gesetz. Strafbar macht sich seitdem, wer unbefugt das Erscheinungsbild einer fremden Sache verändert, gegen den Gestaltungswillen des Eigentümers handelt und nicht wie früher die Substanz eines Untergrundes beschädigt. Wird das die Szene einschüchtern?

Julia Reinecke: Einige wird es sicherlich verunsichern. Aber das bedeutet nicht das Ende von Graffiti und Street-Art. Man wird neue Formen finden, das hat schon immer so funktioniert. Anders ist es in puncto Kameraüberwachung. Das Beispiel England verdeutlicht, dass eine hohe Kameradichte durch die unzähligen CCTV-Kameras die Szene verstört und von Orten vertreibt. Wäre das aber von Anfang an so gewesen, hätte man vielleicht gelernt, damit umzugehen.

Aber gerade dann bekommt man Respekt, wenn man trotz der Restriktionen nicht von seinem Ziel ablässt und weitermacht...

Julia Reinecke: Ja, für die Graffiti Szene gilt das. Aber nicht für die Street-Art-Szene.

Julia Reinecke: „Street-Art - Eine Subkultur zwischen Kunst und Kommerz“, Transcript Verlag - Bielefeld 2007, ISBN: 978-3-89942-759-2