"Das Sozialgeld wird niemand erhalten"
Mit dem "lebensnotwendigen Mindesteinkommen" wurde in Spanien ein bürokratisches Monster geschaffen, dessen Hürden bisher fast niemand überwinden konnte
"Wir werden niemanden zurücklassen", hatte der sozialdemokratische spanische Regierungschef Pedro Sánchez zu Beginn der Coronaviruskrise erklärt. Dass das ein "Witz" war, hatten Betroffene im Telepolis-Gespräch schon angesichts der eigenen Erfahrungen im Mai erklärt. Aber für Lola Gabarre und andere klingt das fünf Monate später nur noch wie blanker Spott und Hohn.
"Ich sitze auf der Straße", erklärt die 60-jährige Frau aus Madrid. "Ich habe kein Geld und weiß nicht wohin." Sie hätte das sogenannte "Lebensnotwendige Mindesteinkommen" (IMV) in Höhe von 462 Euro dringend gebraucht, um ihr Zimmer bezahlen zu können, aus dem sie nun rausgeflogen ist.
Sie hatte das Geld sofort am 15. Juni nach der Einführung beantragt, das ohnehin erst drei Monate nach Ausrufung des Alarmzustands eingeführt wurde. Bei der Unterstützung von Großbetrieben ließ man sich dagegen keine Zeit. Die Löhne für Kurzarbeiter übernahm die Staatskasse sofort und die Zahlung der Löhne und die Beiträge zur Sozialversicherungen wurden auch Großkonzerne zu 50% erlassen.
Mit dem an zahlreiche Bedingungen geknüpften Sozialgeld, das einige in Deutschland völlig überzogen "Grundeinkommen" nennen, wollte die Regierung nach eigenen Angaben die dramatische Lage vieler armer Menschen lindern.
Begrenzte Hilfe
Angeblich sollten zunächst bis zu einer Million Familien geholfen werden, doch diese Zahl wurde später auf 850.000 Familien gesenkt. Aber auch das war natürlich reine Propaganda, denn das veranschlagte Budget von gut drei Milliarden reicht bestenfalls für 250.000 im Jahr aus. Ohnehin ist unklar, woher das Geld kommen soll, denn noch immer hat Spanien keinen Haushalt und es droht zum zweiten Mal die Verlängerung des Haushalts der rechten Vorgänger.
Und statt schnell und möglichst unbürokratisch zu helfen, wurde nur eine sehr begrenzte Hilfe eingeführt, die noch weit entfernt von einer Sozialhilfe ist, wie es sie im Baskenland oder Katalonien gibt. Gabarre gehört aber zu den wenigen Menschen, die tatsächlich schon einen "Bescheid" erhalten haben.
Die Frau aus Madrid, die drei Krebsleiden und einen Schlaganfall überlebt hat, bekam eine Absage. Zehn Tage nach ihrem Antrag hatte die Sozialversicherung noch Unterlagen von ihr nachgefordert. Danach hörte die Frau fast zwei Monate nichts mehr. Anrufe blieben erfolglos und Geld bekam sie natürlich auch nicht.
Kürzlich half ihr ein Freund und forschte für sie auf der zuständigen Webseite nach. "Abgelehnt", stand dort. Der Grund ist, dass sie ist seit vier Jahren in einer Wohngemeinschaft gemeldet ist. Und das gesamte Einkommen der "Wohneinheit" übersteigt die Obergrenze von maximal 1015 Euro.
Der Nachweis, dort längt nicht mehr zu wohnen, stieß bei der Sozialversicherung auf taube Ohren. Dabei war sie zwischenzeitlich sogar vom Sozialamt für einen Monat provisorisch untergebracht.
"Trägt zur Verarmung bei"
Nach Angaben von Hilfsorganisationen, wie der "Stiftung Madrina", ist das einer der zentralernAblehnungsgründe bisher. Das IMV trage derzeit in Madrid sogar zur Verarmung bei, denn auf andere Hilfen wie das lokale RMI, wenn auch geringer, müsste zuvor verzichtet werden. Etliche Familien, wie die von Karima El Hasian, stehen deshalb ebenfalls vor dem Nichts.
Die rechte Regionalregierung in Madrid hat sie zudem aufgefordert, den Antrag für die staatliche IMV "innerhalb von 10 Tagen, nicht verlängerbar" vorzuweisen. Das ist allerdings praktisch unmöglich.
Tagelang habe sie versucht das telefonisch zu erreichen, bestätigt Hasian die Aussagen anderer Betroffener. Etliche Initiativen haben deshalb ein Protestschreiben verfasst, denn gut 22.000 Menschen in Madrid laufen Gefahr, auch noch die regionale Unterstützung zu verlieren, obwohl sie die staatliche noch nicht bekommen haben oder nie bekommen werden.
Sie werfen der Regionalregierung vor, die Schere anzusetzen und das ohnehin sehr begrenzte Regionalgeld praktisch völlig abschaffen zu wollen. Das Ansinnen Madrids ist klar, man will Bedürftige auf die Staatskasse verschieben. Dabei ist egal, ob die dann auch zahlt oder nicht.
Und die Hürden, um in dem bürokratischen Monster IMV an Hilfen zu kommen, sind hoch. Telepolis hatte schon im Mai berichtet, dass es absehbar sei, "dass es erneut einen massiven bürokratischen Aufwand geben wird, um mächtig auszusieben". Denn genau das war schon zuvor bei Hilfen von anderen schwer gebeutelten Gruppen wie Selbstständige zu beobachten.
Und so zeigen nun die Experten das Labyrinth auf, in dem sich die Betroffen verirren. Wer die IMV beantragt, muss unter anderem nachweisen, drei Jahre zuvor allein gelebt zu haben. Wer einen Teil davon bei den Eltern oder zum Beispiel in einer Wohngemeinschaft oder einem Studentenwohnheim lebte, fällt praktisch schon von vorneherein durch die weiten Maschen.
Zudem muss man mindestens zwölf Monate sozialversicherungspflichtig gewesen sein. "Viele gefährdete Personen bleiben außen vor", erklärt auch Joaquín García, Präsident der Vereinigung der Opfer der Arbeitslosigkeit. Für ihn ist auch unerklärlich, wieso man die Einnahmen der Vorjahres als Grundlage zur Gewährung der Hilfe macht. Wer zu den Eltern zurückzieht, weil er seine Miete nicht bezahlen kann oder nirgendwo gemeldet ist, sei auch draußen.
Deshalb, rechnet er vor, seien bis zum 7. August nur 3.966 von bis dahin mehr als einer halben Million Anträgen positiv beschieden worden. Dass nur gut 0,5% der Bescheide positiv waren, ist "lächerlich" für ihn.
"Es lässt einen vermuten, dass die Vorgänge wegen fehlendem Geld verzögert werden."
Das große Problem ist dann aber für die, die diese enormen Hürden überwinden können, dass zum Nachweis Dokumente dienen, die bei überlasteten Behörden besorgt werden müssen. Das ging lange Zeit ohnehin nur telematisch per Internet.
Viele Bedürftige haben aber weder einen Computer, Scanner oder einen Internetanschluss, weshalb viele Betroffene bei Hilfsorganisationen in lange Schlangen einreihen müssen.
Den "Riesen" zum Zwerg gemacht
Die Verzögerungstaktik ist erklärlich. Spanien sucht händeringend nach Geld und kann bei der IMV, die medienwirksam vor Regionalwahlen im Baskenland und Galicien eingeführt wurde, nach den Wahlen viel Geld durch Verschleppung sparen. Reagiert die Verwaltung auf den Antrag innerhalb von drei Monaten nicht, ist das "administratives Schweigen".
Das führt aber nicht zu einer automatischen Annahme des Antrags, es handelt sich schließlich um sehr bedürftige Menschen, die schon Monate auf Geld warten, sondern daraus wird sehr "spanisch" eine Ablehnung. Die Betroffenen müssen den Antrag neu stellen. Geschieht das erst nach dem 15. September ist die rückwirkende Zahlung verloren. Die ist ohnehin auf den 1. Juni und nicht auf die Ausrufung des Alarmzustands im März beschränkt.
Vom "historischen" Moment "für unsere Demokratie" sprach Pablo Iglesias bei der Einführung des IMV. Er fabulierte auch vom "größten Fortschritt bei sozialen Rechten". Ein "Riese" zur Bekämpfung der Ungleichheit sei geboren worden, erklärte der Vize-Ministerpräsident und Chef der linken Podemos-Partei.
Schaut man sich die Realität an, ist daraus nicht einmal ein Zwerg geworden. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass dessen Linkskoalition ein tatsächlich ein bedingungsloses Grundeinkommen gefordert hatte.
Inzwischen gehen auch Gewerkschaften auf kritische Distanz zur Regierung, die der sozialdemokratischen Regierung nahe stehen. Pepe Álvarez, Generalsekretär der großen UGT, spricht von "Chaos" und fügt an: "Das IMV wird niemand erhalten."
Er spricht von mehr als 700.000 Anträgen, von denen bisher mit 30.000 "nur ein kleiner Teil beschieden wurde". Und er fügt an: "Bekommen hat das Hilfsgeld tatsächlich bisher niemand." Sogar der UGT-Chef forderte von der Regierung, das "inhumane" Vorgehen sofort zu beenden.
Es könne nicht sein, dass über das Fehlen des einen oder anderen Papiers debattiert wird, wenn fast eine Million Familien seit März kein Einkommen haben. Ultimativ drohte er mit Demonstrationen und Mobilisierungen.