Das "gute" Darknet

Seite 2: Amazon, Twitter und Wikipedia im Darknet?

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Dieses Szenario einer alternativen Zugangstür ist die zurzeit gängigste "gute" Nutzungsform des Darknets. In seinem Vortrag auf dem Kongress des Chaos Computer Clubs meinte das Tor-Mastermind Roger Dingledine, er träume davon, dass eines Tages alle großen Webseiten, ob Amazon, Twitter oder Wikipedia, stets auch einen .onion-Zugang anböten.

Die große Online-Enzyklopädie als erfolgreichstes Projekt des nichtkommerziellen Internets wäre eigentlich eine naheliegende Kandidatin, um an der Besiedlung des Darknets mitzuwirken. Allerdings hat Wikipedia ein erstaunlich ambivalentes Verhältnis zu Tor. Die hinter der Enzyklopädie stehende US-amerikanische Wikimedia Foundation betreibt selbst zwei Tor-Knoten (die allerdings vergleichsweise schwach sind und wenig Datenverkehr transportieren).

Allerdings blockt Wikipedia die Bearbeitung durch Tor. Zumindest gilt das für unangemeldete User ohne Wikipedia-Account, da sie befürchten, dass die Möglichkeit einer anonymen Bearbeitung für Vandalismus oder für automatisierte Manipulationen durch Bots genutzt wird. Wer per Tor-Browser beispielsweise eine deutsche Wikipedia-Seite bearbeiten will, sieht folgende Benachrichtigung: "Deine IP-Adresse wurde automatisch als Tor-Ausgangsknoten identifiziert. Das Bearbeiten über Tor ist gesperrt, um Missbrauch zu vermeiden."

Im Moment plane man nicht, ins Darknet zu gehen, meint Samantha Lien, Pressesprecherin der Wikimedia Foundation: "Wir haben in der nahen Zukunft keine Pläne, uns eine .onion-Adresse zuzulegen oder Tor zusätzlich zu unterstützen, allerdings ist das etwas, was wir in der Vergangenheit diskutiert haben." Die Bereitstellung eines Tor-Knotens im Jahr 2014 sei als eine Geste gedacht, um den Gedanken eines offenen Netzes zu unterstützen. Dass sich Wikimedia nicht stärker engagiere, liege vor allem daran, dass bei den begrenzten Ressourcen einer Non-Profit-Organisation der Fokus auf dem technischen Betrieb der eigenen Seite liegen müsse. Das Thema Tor sei allerdings nicht aus der Welt, zurzeit gebe es aber einfach nichts Konkretes zu sagen.

Nicht meckern, sondern machen

Insgesamt ist also noch recht überschaubar, was im "guten" Darknet passiert. Während sich im illegalen Ökosystem der Kryptomärkte eine hochkomplexe und arbeitsteilige Angebotslandschaft herausgebildet hat, scheinen diese Nutzungen hinterherzuhinken.

Und was ist mit den Blogs und Foren und Wikis von Oppositionellen im Ausland, die es in großer Zahl geben müsste, wenn man dem gängigen Mythos des Darknets folgt? Gibt es sie tatsächlich nicht, oder verstecken sie sich schlicht so erfolgreich, dass sie nicht von Dritten gefunden werden können?

Wenn überhaupt einer weiß, inwiefern und wie bedrängte Oppositionelle das Darknet nutzen, müsste es Marek Tuszynski sein, Leiter der Berliner Büros von Tactical Tech. Die Organisation schult politische Aktivist*innen in der sicheren Nutzung von Kommunikationstechnologie und klärt über deren Potenziale auf. Tuszynski tourt mit Workshops, Vorträgen und Ausstellungen um die Welt und hat einen guten Überblick über den weltweiten Netzaktivismus. Was sagt er?

Sein Urteil ist unmissverständlich: "Wenn Sie sich heute die Landschaft der .onion-Seiten anschauen, werden Sie zu Tode gelangweilt sein. Es ist ein Witz." Das Ganze erinnert ihn an das Internet der 1990er Jahre, damals ein obskur wirkender Ort, dessen frühe User die seltsamsten Dinge ausprobiert hätten. Allerdings sage das per se nichts über die Technologie aus, so, wie die Formen ihrer Ausbeutung durch den Menschen wenig über die Erde selbst aussagen. Stattdessen müsse man fragen, wie die Möglichkeiten der technologischen Protokolle von Tor aussehen und wie diese genutzt werdenkönnen.

Die Technologie aber findet er sehr überzeugend. Das Internet bestehe heute in hohem Maße aus zentralisierten Punkten, an denen Daten und Informationen zusammenfließen. Die Frage laute, in welcher Gesellschaft und mit welchem Netz man leben will: einem Internet voller Überwachung und Kontrolle durch Regierungen und Konzerne oder einem Internet, das uns Freiheit ermöglicht, in dem Kommunikation sicher ist und jeder seine Meinung frei äußern kann.

Tuszynski glaubt an die Potenziale: "Die Tatsache, dass die Technologie zurzeit nicht, wie eigentlich geplant, von Aktivisten genutzt wird, sondern von Leuten, die Drogen kaufen, hat nicht viel zu bedeuten. Es bedeutet nur, dass es noch nicht genügend User gibt, die das Darknet entdeckt haben, um daraus einen wirklich interessanten und politischen Ort zu machen." Schon heute gebe es einige spannende Ausnahmen unter .onion, und Tuszynski glaubt, dass noch viel mehr passieren wird. Deshalb empfiehlt er, einfach selbst aktiv zu werden: "Anstatt auf der Lauer zu liegen und nach Inhalten zu suchen, gehen Sie einfach selbst dorthin und schaffen welche."

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