"Das ist fast wie mit Hitler, der geht auch immer"
30 Jahre nach dem "Deutschen Herbst" bestimmt die RAF wieder die Schlagzeilen. Ein Gespräch mit Willi Winkler, dessen "Geschichte der RAF" am 21. September erscheint
Die heftigen, bisweilen maßlos überzogenen Diskussionen um die Haftentlassung der ehemaligen RAF-Terroristen haben vor wenigen Monaten deutlich gemacht, dass ein Trauma der bundesdeutschen Geschichte noch längst nicht verarbeitet, überwunden oder gar vergessen ist. 30 Jahre nach dem „Deutschen Herbst“ stellt sich freilich die Frage, ob es die Betrachter hier überhaupt noch mit einer rekonstruierbaren Ereigniskette oder längst mit einem wüsten Mythos zu tun haben, der abwechselnd als Revolutionsepos, Schauermärchen und mörderisches Medienspektakel daherkommt.
Historisch interessierte Beobachter, aber auch die überlebenden Opfer und ihre Familien wollen es genauer wissen, und im „Jubiläumsjahr“ finden sich tatsächlich einige Berichterstatter, denen es nicht um den zwielichtigen Starkult, neue Enthüllungen und falsche Betroffenheit geht. Einer von ihnen ist Willi Winkler, früher für „Zeit“ und „Spiegel“, heute vorwiegend für die „Süddeutsche Zeitung“ tätig. Seine aktuelle Bestandsaufnahme trägt den erfreulich unspektakulären Titel „Geschichte der RAF“. Telepolis sprach mit Winkler über einige zentrale Aspekte des Buches, das am 21. September bei Rowohlt erscheinen wird.
Herr Winkler, Ihre „Geschichte der RAF“ war bereits vor zwei Jahren angekündigt, die Veröffentlichung wurde seitdem mehrfach verschoben. Warum hat sich das Projekt so lange verzögert?
Willi Winkler: Das war meine Schuld.
Inwiefern?
Willi Winkler: Ich hatte ursprünglich einen sehr viel geringeren Umfang eingeplant und wollte mich dem Thema ohnehin eher essayistisch nähern. Doch je mehr ich mich damit beschäftigt habe, desto wichtiger wurde mir die historische Dimension, zumal es bislang keine wirkliche „Geschichte der RAF“ gibt. Die Überlegung, die reine Verlaufsgeschichte in das komplexe historische Umfeld einzubetten, hat schließlich zu dem umfangreichen Anmerkungsapparat und übrigens auch dazu geführt, dass ich das Manuskript am Ende um die Hälfte kürzen musste.
Mit den Publikationen zum Thema RAF ließe sich mittlerweile vermutlich eine Bibliothek füllen.
Willi Winkler: Allenfalls mit den Akten ...
Gut, aber wenn wir wertfrei alles betrachten, was in den letzten 30 Jahren zu Papier gebracht wurde, ergibt sich doch eine Endlosschleife der Berichte, versuchten Interpretationen und mutmaßlichen Bilanzen. Was hat Sie motiviert, dem Ganzen weitere 500 Seiten hinzuzufügen? Da Sie 1957 geboren wurden, gibt es doch vermutlich nicht allzu viele biographische Berührungspunkte.
Willi Winkler: Nein, nicht viele. Ich bin auch kein versprengter Linker, ich war nie in Versuchung, die Politik gewaltsam verändern zu wollen und ich verspüre deshalb auch keine Notwendigkeit, mich zwanghaft von irgendwas zu distanzieren. Mein Interesse ist rein historischer Natur. Allerdings habe ich im Alter von 15 Jahren mitangesehen, wie Thomas Weisbecker, der von der „Bewegung 2. Juni“ zur RAF gekommen war, in Augsburg von einem Polizisten erschossen wurde. So etwas vergisst man nicht.
Den Widerstand leisten, den die Eltern nicht gemacht haben
Stefan Austs „Der Baader Meinhof Komplex“ beginnt mit dem Tod in Stammheim und orientiert sich mehr oder weniger eng an der Abfolge der Ereignisse bis zum Herbst 1977. Bei Ihnen kommt es vergleichsweise spät zur gewaltsamen Gefangenenbefreiung des 14. Mai 1970, mit der sich die RAF endgültig aus der Legalität verabschiedete. Ulrike Meinhof und Andreas Baader springen erst auf Seite 164 aus dem Fenster des „Deutschen Zentralinstituts für Soziale Fragen“. Ist der Früh- und Vorgeschichte der RAF bislang zu wenig Beachtung geschenkt worden?
Willi Winkler: Ja, das würde ich schon sagen. Man muss bis in die 50er und 60er Jahre zurück gehen, um zu erkennen, wie die Gesellschaft sich auseinander entwickelt. Die gewalttätige Demonstration der „Freien Deutschen Jugend“ 1952 in Essen, bei der der Arbeiter Philipp Müller von Polizisten erschossen wurde, gehört – wie der Protest gegen die atomare Bewaffnung, den Vietnamkrieg oder die Nazi-Vergangenheit der Eltern-Generation - insofern zur Vorgeschichte der RAF, als sich bei den späteren Protagonisten schon sehr früh das Gefühl herausbildete, Teil einer ausgestoßenen und deshalb auserwählten Minderheit zu sein, die sich das Recht herausnehmen durfte, schließlich mit allen Mitteln gegen den verhassten Staat zu kämpfen.
Peter Schneider hat davon berichtet, dass die Idee von der Stadtguerilla und vom bewaffneten Kampf von Anfang an „im Gedanken- und Gefühlsstrom der 68-Generation“ verankert war und „mit einer heute unvorstellbaren Offenheit auf Teach-ins“ diskutiert wurde. Was musste dazukommen, um tatsächlich RAF-Mitglied zu werden?
Willi Winkler: Die Motive sind von Person zu Person sehr unterschiedlich. Allerdings zeichnet sich die Bewegung durch etwas aus, was ich die Gleichzeitigkeit von Eskalation und Verlangsamung nennen möchte. Sie müssen bedenken, dass Gudrun Ensslin und Andreas Baader das magische Jahr 1968 zu drei Vierteln im Gefängnis verbracht haben. Als sie wieder draußen waren, hatten sie das Gefühl, etwas verpasst zu haben – in Deutschland, aber auch mit Blick auf die weltweite Protestbewegung.
Jetzt wollten sie unter erhöhtem Zeitdruck Ernst machen mit der Revolution und endlich zur Tat schreiten. Für die Intellektuellen im Umfeld der späteren RAF waren Baader und Ensslin durch ihre Haftstrafe geradezu geadelt. Sie hatten vorgelegt, die anderen mussten nachziehen. Die Revolution war auch eine Mutprobe: Machst du mit oder bist du doch zu feige?
Sie beschreiben ausführlich die Verbindungslinien zu verwandten Gruppen wie der „Bewegung 2. Juni“ oder den „Revolutionären Zellen“ und punktuell auch die Zusammenarbeit mit IRA, ETA, Action Directe oder den Brigate Rosse. Gibt es trotzdem so etwas wie ein Alleinstellungsmerkmal der RAF?
Willi Winkler: Ja, wobei ich zuerst eine ganz wichtige Gemeinsamkeit zwischen der RAF, den Brigate Rosse und der japanischen Roten Armee betonen möchte. Der gruppierte Terror entstand in den drei vom Faschismus geprägten Ländern nämlich auch aus dem Bedürfnis, den Widerstand, den die Eltern nicht geleistet hatten, nun endlich nachzuholen.
Das Alleinstellungsmerkmal der RAF, wie Sie es nennen, sehe ich im intellektuellen Anspruch des gesamten Unternehmens. Hier sind überwiegend Intellektuelle am Werk, die sich ihres Ungenügens immer mehr bewusst werden. Denen es nicht mehr reicht, beispielsweise ein erfolgreicher Anwalt – Horst Mahler – oder eine aufstrebende Journalistin – Ulrike Meinhof – zu sein. Der Schriftsteller Peter Weiss hat dieses Empfinden in seinem Nachruf auf Che Guevara exakt formuliert: „Das einzig Richtige ist, ein Gewehr zu nehmen und zu kämpfen.“ Hier fordert ein Intellektueller seine Standesgenossen auf, den Tätern zu folgen und fortan den Weg des permanenten Revolutionärs zu gehen.
Der RAF ist es immer wieder gelungen, starke Bilder zu schaffen
Das Gesamtphänomen RAF kann in einem Interview kaum erschöpfend behandelt werden. Doch einige Aspekte, denen Sie besondere Beachtung schenken, wollen wir doch nachgehen. Sie betonen immer wieder den religiösen Impetus, mit dem die selbsternannte Stadtguerilla zu Werke ging. Die Fülle der Motive reicht von biographischen Aspekten – Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin stammten jeweils aus einer Theologenfamilie – über die theatralische, mit Kutte und Kerzen dekorierte Aufbettung des zu Tode gehungerten Holger Meins bis zur heilsgeschichtlichen Perspektive der gesamten Bewegung, die Sie auch als „Psychosekte“ charakterisieren. Welchen Stellenwert hatten diese religiösen Bezugspunkte?
Willi Winkler: Wenn man das Bild des toten Holger Meins anschaut, dann liegt da doch eigentlich ein russischer Mönch, der für seinen Glauben gestorben ist. Es gibt ein großes Bedürfnis nach solchen schlichten Bildern. Auch wenn das gerade genannte nicht von der RAF, sondern vom „Stern“ verbreitet wurde, ist es der RAF immer wieder gelungen, starke Bilder zu erzeugen, weshalb sich immer wieder solche Mythologeme bilden konnten.
Da sich die RAF neben der nach außen gerichteten Zerstörungswut durch einen außerordentlichen Hang zur Selbstdestruktion auszeichnete, ist dieser religiöse Zug kaum zu übersehen. Die katholische Kirche lebt seit der Mystik von der Verehrung der Märtyrer, die zur Imitatio aufrufen. „Folge meinem Beispiel“ war auch die Parole der führenden RAF-Mitglieder, die ihre Sympathisanten immer wieder vor die Entscheidungssituation stellten: Bist Du Mensch oder Schwein, ein Feigling oder ein Mensch der Tat?
Christliche Vorstellungswelten und kommunistische Zielsetzungen schließen sich eben nicht aus, und Sie zitieren ja auch Eugen Levinés vieldeutigen Satz, den der 1919 hingerichtete Anführer der zweiten Münchner Räterepublik in seine Verteidigungsrede einfließen ließ: „Wir Kommunisten sind alle Tote auf Urlaub.“ Doch noch einmal zurück zur Religion. Mittlerweile hat sich eine Terrorbedrohung organisiert, die sich ausdrücklich auf religiöse Inhalte beruft. Hätte die RAF, wenn es sie noch gäbe, mit Al-Qaida etwas anfangen können?
Willi Winkler: Die Frage ist sehr spekulativ und für einen Historiker schwer zu beantworten. Die RAF pflegte ein sehr inniges Verhältnis zu den palästinensischen Terrorgruppen und spiegelte sich gern im Elend dieses unterdrückten, man könnte auch sagen, dieses chronischen Verlierer-Volkes. Doch von idealen Identifikationsflächen zu tatsächlichen Selbstmordattentaten ist es ein weiter Weg. Solche Kamikaze-Aktionen lagen der RAF im Grunde fern. Zwar war sie als Ganzes ein Todestrip, dessen eigentlicher Sinn meiner Meinung nach schon immer im Scheitern lag, doch das gilt nicht für die Planung und Durchführung einzelner Gewaltaktionen.
Die RAF wollte unbedingt ein Vietnam haben und fand es in Palästina
Die Zusammenarbeit mit den palästinensischen Terroristen offenbart auch ein bis heute ungeklärtes Glaubwürdigkeitsproblem der RAF. Neben den Attentaten auf Benno Ohnesorg und Rudi Dutschke oder dem Widerstand gegen den Vietnam-Krieg und die Expansionsgelüste eines nimmersatten Kapitalismus gehörte die Abrechnung mit der Eltern-Generation, die nicht bereit war, die Geschichte des Dritten Reiches aufzuarbeiten, - wie schon gesagt - zu den Antriebsmotoren der gesamten Protestbewegung. Wie konnten die Mitglieder der RAF ausgerechnet mit denjenigen zusammenarbeiten, die das Judentum am liebsten vollständig vernichtet hätten?
Willi Winkler: Über dieses Thema habe ich 1997 mit Horst Mahler gesprochen. Das war noch vor seinem Wechsel auf die äußerste rechte Seite. Er hat das damals als „eine traumatische Geschichte“ bezeichnet, aber hinzugesetzt: „Aber Sie sehen, wir haben uns darauf eingelassen.“ Und genau das hätte man als Deutscher nicht tun dürfen. Die RAF hat es getan.
Erst einmal gab es ein sachlich-unmittelbares Interesse an der Hilfe der Palästinenser, die mit Waffen umgehen konnten, sich mit Sprengstoff auskannten und in diesen Dingen viel praktischer veranlagt waren. Zur Rechtfertigung dessen, was nicht zu rechtfertigen ist, existieren reichlich Brecht-Worte, die ständig zitiert wurden. Klaus Wagenbach hat 1976 seine Rede am Grab von Ulrike Meinhof mit den Worten „Ach, wir/Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit/Konnten selber nicht freundlich sein“ beschlossen. Ansonsten galt der Satz aus dem Brecht-Stück „Die Maßnahme“: „Welche Niedrigkeit begingest du nicht, um/Die Niedrigkeit auszutilgen?“
In der Linken hat die bis dahin bestehende große Wertschätzung Israels nach dem Sechs-Tage-Krieg dramatisch nachgelassen Die Palästinenser erlangten durch die arabische Niederlage den Nimbus einer Freiheitsbewegung, wie sie die RAF in Vietnam, Algerien oder Kuba am Werk sah. Dieter Kunzelmann hat das sehr griffig auf den Punkt gebracht: „Unser Vietnam ist Palästina!“ Ein Fehler, der Fehler der RAF bestand darin, dass sie unbedingt ein Vietnam haben wollte und es deshalb mit aller Gewalt nach Deutschland verlegte.
Bis heute ungeklärt ist auch die Rolle des Staates, obwohl mittlerweile zweifelsfrei feststeht, dass die martialische Art, mit der schon die Studentenbewegung im wahrsten Sinne des Wortes niedergeschlagen wurde und dann auch die Haftverwahrung der festgenommenen Terroristen sicher nicht zu einer Deeskalation der Gewalt beigetragen hat. Doch staatliche Organe wie die verschiedenen Verfassungsschutzbehörden haben in Person der Spitzel Peter Urbach und Klaus Steinmetz, mit Hilfe des legendären „Celler Lochs“, das 1978 einen Anschlag vortäuschen sollte oder durch das inszenierte Attentat auf Landwirtschaftsminister Ignaz Kiechle, den die RAF anschließend zum „völlig nicht-nachvollziehbaren Angriffsziel“ erklären musste, selbst unmittelbar in das Geschen eingegriffen. Wird man je erfahren in welchem Ausmaß?
Willi Winkler: Kaum, denn es gibt ein starkes Interesse, viele Dinge weiter geheim zu halten. Als ich beim Bundesamt für Verfassungsschutz treu und brav um Auskunft bat, wurde ich auf ein gutes Dutzend Paragraphen hingewiesen, die einer Veröffentlichung wichtiger Informationen im Wege stünden. Die V-Leute sind zumeist mit neuen Identitäten versehen worden und heute praktisch nicht mehr zu ermitteln.
Die Rolle des Agent Provocateur ist seit jeher heftig umstritten. Im Fall der RAF oder vielmehr ihrer Entstehungsgeschichte würde etwas Aufklärung doch helfen, Licht in manche Unklarheit zu bringen. Aber warum soll ich die Sache verklausulieren: Der Berliner Innensenator hielt es seinerzeit für eine gute Idee, die allseits befürchtete Gewalt zur Explosion zu bringen, um sie anschließend niederkartätschen zu können.
Die RAF hatte übrigens ganz ähnliches im Sinn – allerdings aus der entgegengesetzten Perspektive. Sie wollte den Staat so lange provozieren, bis sein vermeintlich faschistoider Charakter hervortrat und die Notwendigkeit, diesen mit allen Mitteln zu bekämpfen, für alle offenkundig wurde.
Die RAF ist zu einer Art Markenprodukt geworden
Wie beurteilen Sie überhaupt die Chance, noch weiterführende Erkenntnisse zu gewinnen? Über die mysteriöse „3. Generation“ der RAF und die Anschläge auf Gero von Braunmühl, Alfred Herrhausen oder Detlev Rohwedder wissen wir ja bis heute kaum etwas.
Willi Winkler: Da erwarte ich noch einiges, das ist schon aus biologischen Gründen unvermeidlich. Die Beteiligten werden älter, fallen aus ihrem bisherigen Lebenszusammenhang heraus, und manch einen überkommt da sicher das Bedürfnis, irgendwann doch noch zu beichten, seine eigene Rolle ins rechte Licht zu rücken oder auf seine unverminderte Bedeutung hinzuweisen. Außerdem gibt es ja nach wie vor ein loderndes Medieninteresse, da werden sich also sowohl Produzenten wie Abnehmer finden.
Immerhin leben noch einige, die es wissen müssten. Peter-Jürgen Boock hat vor kurzem Rolf Heißler und Stefan Wisniewski als Mörder des Arbeitgeber-Präsidenten Hanns Martin Schleyer genannt. Für wie glaubwürdig halten Sie solche Aussagen?
Willi Winkler: Für Boock ist die RAF eine Lebensstellung, über die auch seine gesamte Sozialisation gelaufen ist. Erst haben ihn die RAF-Gründer Baader und Ensslin aus dem Jugendheim befreit und unter ihre Fittiche genommen, dann konnte er sich als Hauptinformant von Stefan Aust nützlich machen. Heute berichtet er im Fernsehen und in Zeitungen von seinen Erfahrungen, die sich jahreszeitlich ändern. Das ist doch ein lückenloser Betreuungszusammenhang, der beweist, dass unsere Gesellschaft niemanden verkommen lässt. Peter-Jürgen Boock ist ein Triumph des Sozialstaats.
Das heißt aber noch lange nicht, dass Boock deshalb glaubwürdig sein müsste. Andererseits scheint es ein Bedürfnis zu geben, den Armen zerknirscht die Stätten seiner Heldentaten abschreiten zu sehen.
Die Massenmedien haben in der Geschichte der RAF durch einseitige Darstellungen, voreilige Schlussfolgerungen und mitunter durch regelrechte Hetzkampagnen eine Schlüsselrolle gespielt. Andererseits führten die vermeintlichen Revolutionäre natürlich auch selbst einen beispiellosen und streckenweise sehr erfolgreichen Kampf um die öffentliche Meinung. Zeugt die heutige Berichterstattung über die RAF von einem erkennbaren Lernprozess?
Willi Winkler: Die Medien berichten chronisch über Taten und Täter – und das mit großer Begeisterung. Umgekehrt hat die RAF dafür gesorgt, dass ihre Nachrichten in die richtigen Kanäle kamen, also vor allem zum „Spiegel“, der sich des Themas über die Jahrzehnte immer wieder angenommen hat.
Daran hat sich überhaupt nichts geändert. Im Gegenteil, die RAF hat mittlerweile geradezu dämonische Züge angenommen und ist überdies zu einer Art Markenprodukt geworden. Wenn RAF draufsteht, wissen die Leser, was sie zu erwarten haben. Das ist fast wie mit Adolf Hitler, der geht auch immer. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die historisch korrekte Berichterstattung oder das Bemühen um Aufklärung dabei mitunter auf der Strecke geblieben ist.
Die RAF hat sich 1998 aufgelöst. Im selben Jahr übernahmen einige zivile, früher allenfalls sporadisch gewaltbereite Protagonisten der Protestbewegung Regierungsverantwortung in Deutschland. Hat sich der Staat durch Otto Schilly, Joschka Fischer und die rot-grüne Koalition insgesamt verändert?
Willi Winkler: Na ja, es gibt jetzt die Homoehe, ein neues Staatsbürgerschaftsrecht, und der Sozialstaat wurde beerdigt. Das ist die historische Leistung von Rot-Grün und nicht viel für sieben Jahre Regierung. Aber von der Aufbruchstimmung, die das Jahr 1968 ausgemacht hat, ist da nichts mehr übriggeblieben, wenn wir einmal davon absehen, dass der zuzeiten gewaltbereite Fischer mit Meinhof’schem moralischem Furor „Nie wieder Auschwitz!“ rief, um dann bei der Bombardierung Belgrads mitzutun.
An einer ganz anderen Stelle hat sich gezeigt, dass diese Regierung aus dem Geist von 68 kam: Nur in Deutschland und nur nach der Studentenbewegung konnte der vaterlos aufgewachsene Sohn einer Putzfrau Bundeskanzler werden. Das spricht für die Bundesrepublik, für jenes Deutschland, das die RAF in den Siebzigern so blindwütig bekämpfte.
Willi Winklers Die Geschichte der RAF erscheint am 21. September 2007 bei Rowohlt (Berlin), ist 528 Seiten lang und kostet 22,90 €.