"Das wäre das Ende des heutigen Deutschlands"

Realist umzingelt von Idealisten: Dohnanyi und die sieben Zwerge - ein Streifzug durch die Ukraine-Talks

Die Sowjets waren hart. Aber wenn etwas verhandelt war, dann konnte man sich darauf verlassen. Heute kann man sich auf nichts mehr verlassen.

Gerhart Baum

"Ich hatte die Hoffnung, dass durch Verhandlungen ein Weg geöffnet werden könnte, der an einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine vorbeiführen könnte." Ein relaxter, großartiger Auftritt. Der 93-jährige Ex-Minister argumentierte ruhig, gestand mehrfach eigene Fehler ein und trug seine Argumente hellwach vor: Klaus von Dohnanyi verwies bei Maischberger-"Extra" auf die "Interessen". Nicht Menschenrechte, nicht Moral, nicht Bündnisverpflichtungen, schon gar nicht irgendeine Volksabstimmung oder ein Mehrheitswille, noch nicht einmal das Völkerrecht, sollten das Handeln von Staaten bestimmen, sondern das außenpolitische Interesse.

Im Ernstfall würde Europa geopfert werden

"Im Umgang mit der Situation in der Ukraine müssen wir versuchen, solidarisch mit der Ukraine zu sein, durch viel finanzielle oder andere Unterstützung, aber nicht durch militärische Unterstützung. Denn wir würden dann Nachschub-Gebiet sein." Dohnanyi, SPD-Minister unter Willy Brandt, Staatsminister unter Helmut Schmidt und als Hamburger Erster Bürgermeister der erste Chef einer Rot-Grünen-Koalition auf Länderebene, verwies auf ein persönliches Erlebnis als Leiter einer Nato-Übung: Er habe damals begriffen, dass die USA bereit wären, auch über Deutschland taktische Nuklearbomben abzuwerfen.

"Das wäre das Ende des heutigen Deutschlands. Die Gefahren, die in einer Nato-Verteidigung liegen würden, sind eminent." Man dürfe nicht übersehen, dass das Schlachtfeld eines europäischen Krieges weit weg von den USA liege. "Die haben natürlich nicht dieselben Sicherheitsinteressen wie wir." Zu Ende gedacht: Im Ernstfall würde Europa geopfert werden.

Dohnanyi verwies auch auf die Gefahr einer ungewollten Eskalation, etwa durch Cyberangriffe, die sich verselbstständigen. Auf das "Problem" des Vorrückens der Nato nach 1989. "Ich finde es einfach falsch, dass wir uns an dieser Frage vorbeidrücken. Das ist ein wesentlicher Grund für die Entwicklung nach 1990. Das rechtfertigt nichts, was Putin heute gemacht hat."

So war Klaus von Dohnanyi an diesem Abend der eine Erwachsene unter lauter "Zwergen", der eine Realist unter lauter Menschen, die auf die eine oder andere Weise die Realitäten verweigern.

Überraschung und Schock

Dass die Ereignisse an der ukrainischen Grenze in der Nacht auf den 24. Februar für die allermeisten, auch für die allermeisten Politiker überraschend und für manche ein Schock waren, ist verständlich. Der dann folgende erste Tag, an dem sich die deutsche Politik mit den Realitäten, dem russischen Angriff auseinandersetzen musste, bestand dann vor allem aus Erregungsmanagement und dem Ausbalancieren zwischen eigener Ohnmacht und Entrüstung.

Es war einmal mehr die Stunde der Fernsehsondersendungen, in denen gewagte psychologische Thesen – "Wahnvorstellungen", "Menschenverachtung" (Baerbock) – auf andere Putinologie trafen: "Wie weit ist Putin bereit zu gehen?", "Droht der Präsident mit dem Einsatz von Atomwaffen?"

Derartige persönliche Erklärungen für außenpolitische Schritte führen selten weit. Wenn Dinge geschehen, die sich vorher keiner vorstellen kann, liegt dies oft an mangelhafter Analyse, fehlendem Realitätssinn der Vorstellenden, nicht aber am "Wahn" eines Individuums. Wer das jetzige russische Handeln verstehen will, tut gut daran, es nicht durch "Unvernunft" zu erklären, sondern die Vernunft dahinter zu verstehen.

Andererseits ist auch die Feststellung des früheren Innenministers Gerhart Baum nicht zu bestreiten, des zweiten wirklich alten Mannes unter den Talkshow-Gästen, der ebenfalls ein paar Sätze beizutragen hatte, die länger als einen Tag hängenbleiben: "Die Sowjets waren hart. Aber wenn etwas verhandelt war, dann konnte man sich darauf verlassen. Heute kann man sich auf nichts mehr verlassen."

Für Kiew sterben?

Baum war bei Lanz das Staunen über diese Feststellung anzumerken. Er fragte neugierig bei den anderen Gästen nach, versuchte aktiv zu verstehen.

Wie in Deutschland die politische Analyse verwahrlost, demonstrierte dagegen vor allem der in Talk-Shows dauerpräsente und offenbar thematisch für alles zuständige Robin Alexander zu Gast bei Maischberger. Der unionsnahe Springer-Journalist versuchte der Bundesregierung und vor allem der SPD eins auszuwischen, kümmerte sich nur um Innenpolitisches und verbreitete ansonsten allgemeinen Defätismus: Nach dem Motto: Ist eh alles zu spät, mit Deutschland geht es sowieso den Bach runter. "Wir sind nicht vorbereitet."

Es gehört zum Format der Maischberger-Sendung, dass im Vergleich zu anderen immer alles etwas hektisch zugeht, die Moderatorin ständig von einer Position zur anderen wechselt, und man eigentlich nie Zeit hat, sich mit einer Sache mal genauer zu beschäftigen oder zu ihr zurückzukommen. Gäste reden übereinander nicht, miteinander. Das Ganze wirkt wie ein Gemischtwarenladen, hat aber den Vorteil, dass niemals etwas auf der Stelle tritt, und die Sendung ziemlich schnell ist.

Unfreiwillig machte Robin Alexander allerdings klar, dass Deutschland und Europa es vor allem Angela Merkel zu verdanken hat, dass die Ukraine jetzt auf keine Nato-Beistandsverpflichtung pochen kann, weil die Kanzlerin diese verhinderte. Für Kiew sterben? Das will, Hand aufs Herz, wirklich kaum jemand ernsthaft.

Auch wenn jetzt ein paar nette Ukrainer im Fernsehen zu sehen sind, und viele Deutsche sich wahnsinnig betroffen geben, ist die Ukraine auch keine lupenreine Demokratie und Europa keineswegs näher als die Russen.

Man könnte mit Ehrlichkeit beginnen: Es interessiert uns nicht genug. Sollte es das? Insgeheim akzeptieren wir alle, was öffentlich geleugnet wird: Dass Länder und Großmächte Einflusssphären haben. Auch der Westen.

Ein zweites Afghanistan in Sümpfen und Wäldern?

Marina Weisband, Ex-Piratin, heutige Grüne und der Herkunft nach Deutsch-Ukrainerin, redete bei maybrit illner Ukraine Spezial davon, dass die Ukraine ein zweites Afghanistan werden könnte. Was will sie damit sagen?

Offenbar gibt es tatsächlich manche, die glauben, ein paar Hunderttausend ukrainische Nationalisten würden nach der Niederlage Kiews als Partisanen von den Wäldern oder den weitgezogenen Prypjatsümpfem im Nordwesten aus die Russen jahrelang durch Attentate und Guerillatttacken piesacken, als orthodoxe Mudschaheddin, ausgerüstet selbstverständlich wieder wie ihre Vorbilder von den Amerikanern. Das hat zwar Tradition: So hatte man auch erst gegen die Nazis und später dann weit über den Mai '45 hinaus gegen die Rote Armee gekämpft.

Was lässt sich aus dem Fall Ukraine, diesem "Weckruf" (Norbert Röttgen) lernen? Dass wir "mehr Abschreckung" brauchen?

In jedem Fall kann man als Beobachter lernen, dass die Deutschen am ersten Tag komplett mit sich selbst beschäftigt waren. Ein paar Blicke nach Brüssel schon weniger Blicke nach Washington und zur Nato. So war es auffallend, dass zwar alle über das Gleiche sprachen, dass aber jeder in gewissem Sinn sein eigenes Süppchen kochte.

Medial geht es meist um Komplexitätsreduktion. Das gehört zu den Gesetzen der Medien. Hier in diesem Fall müsste es aber eher darum gehen, Komplexität auszuhalten.

Lernen lässt sich vorerst, dass die Rolle, die bisher Nord Stream 2 in der Debatte eingenommen hat, ab jetzt, wo dieses vorerst vom Tisch ist, durch das "Swift Abkommen" eingenommen werden wird. Es ist das rein rituell und funktional eingesetzte Argument, um die Regierung in Verlegenheit zu bringen, um ihr vorzuwerfen, sie tue im Vergleich zu den Nachbarstaaten nicht genug, traue sich nicht zu Beschlüssen, die "wirklich wehtun".

Auch hier wieder begegnet einem eine merkwürdige Küchenpsychologie. So wie manche Leute glauben, dass wer schön sein will, auch leiden muss und dass Sport nur guttut, wenn er schmerzt, so müssen jetzt eben die Sanktionen auch denen wehtun, die sie beschließen. Man wird jetzt Wochen auf der Regierung herumhacken, bis sie wie bei der Pipeline klein beigibt und das Abkommen stoppt. Wer das Swift Abkommen wie die Bundesregierung nicht aussetzen will, muss daher auf die Italiener hoffen oder auf Luxemburg, die auch nichts davon halten.

Ansonsten? Von Seiten der eingeladenen Journalisten wurde immer wieder die Behauptung aufgestellt, Deutschland befinde sich in einer "Komfortzone." Oder, mit dem entrüsteten Robin Alexander formuliert: "Was soll denn noch passieren, damit unsere Debattenkultur an der Realität ankommt?"

Die eigentlich notwendigen Konsequenzen wurden aber noch nicht einmal gedanklich und im Ansatz gezogen: Eine stärkere außen- und verteidigungspolitische Autonomie Europas, eine eigene Diplomatie mit eigenen Zielen. Denn dies würde voraussetzen, dass man auch eigene europäische Interessen definierte.

"Medienbeobachtung" - unter diesem Reihentitel erscheinen hier in loser Folge Notizen aus der Welt der Medien, aktuelle Beobachtungen, Analysen und Kritiken von Rüdiger Suchsland. Eine Art "Die letzten Tage von Pompeji - Seelenruhe in der Informationsgesellschaft"