Debatte um Atomenergie: Sind wir Deutsche technikfeindlich und einseitig?

Bild: Kilian Karger, Unsplash

Mediensplitter (27): Eine französische Zeitschrift erklärt, warum die Nukleartechnologie die Energie des 21. Jahrhunderts ist. Sie fordert ein Ende der Angstmacherei. Was das mit Deutschland zu tun hat.

Das heutige Problem ist nicht die Atomenergie, sondern es ist das Wesen der Menschen.

Albert Einstein

Das grundlegende Konzept der Sozialwissenschaften ist das der Macht. Genau so, wie das Grundkonzept der Physik die Energie ist.

Bertrand Russell

Wie einseitig die Debatte über Atomenergie in Deutschland geführt wird, zeigt sich jedes Mal wieder bei einem kurzen Blick über den Tellerrand. Das jüngste Beispiel ist ein Artikel, der jetzt in der französischen Theoriezeitschrift Commentaire erschienen ist, die 1978 von Raymond Aron gegründet wurde.

Unter der Überschrift "Le nucléaire, energie du XXI. Siècle" ("Kernenergie, die Energie des 21. Jahrhunderts") heißt es da:

Man muss sich für die kommenden Jahre entschieden für Nukleartechnik einsetzen. Atomkraft ist ein außerordentlicher Trumpf, um den CO2 Ausstoß deutlich zu reduzieren und zugleich die ausreichende Menge Elektrizität zu produzieren, die unser Land und Europa brauchen.

Commentaire

Neue Kernkraft braucht das Land

Im 21. Jahrhundert müsse sich unser Planet schnellstens drei Herausforderungen stellen, die für seine zurzeit acht Milliarden Bewohner (über-)lebenswichtig sind, schreiben die Autoren: die drastische Reduzierung des CO2-Ausstoßes, um den Treibhauseffekt zu reduzieren; eine Antwort auf die Ausbeutung der Ressourcen finden; das Müllproblem beseitigen.

Laut einer Studie der Nasa und der National Oceanic and Atmosphäric Administration aus dem Jahr 2021 hat sich das Ungleichgewicht der Energie zwischen 2005 und 2019 verdoppelt. Mit anderen Worten: Der Planet erlebt fast doppelt so viel Erderwärmung wie vor 15 Jahren.

Seit einigen Jahren ist die Debatte über die Atomenergie geprägt durch eine Fülle extremer Vorurteile. Die Entscheidung, die vorhandenen Atomkraftwerke so lang wie möglich zu betreiben – weil die ökologische Transition nicht schnell genug vorangeht, um die gegenwärtige nachgefragte Energie zu produzieren –, sei ein "verschwommener und irrwitziger Ansatz" der französischen Regierung.

Stattdessen plädieren die Autoren für einen starken Ausbau modernster Nukleartechniken.

Ihre Argumente: Nur die Nuklearenergie kann das Energieverlangen der Menschheit dauerhaft stillen. Gleichzeitig entsteht vergleichsweise wenig Müll. Ein Gramm Uran 235 sei in seinem Energiegehalt äquivalent mit zwei Tonnen Öl und drei Tonnen Kohle.

Nukleare Abfälle unterliegen, so die Autoren, einem Paradox: "ihre Quantität ist die geringste im Vergleich zu den Abfällen, die von allen industriellen Aktivitäten geschaffen werden, aber sie sind die am meisten verschrienen".

Geopolitische Konkurrenz

Das Hauptargument der Nukleargegner sei die Entwicklung der Kosten pro Kilowattstunde. Es wird behauptet, Kernenergie sei eine immens teure Energieform. Hierbei wird allerdings meistens von den Kritikern auch die Entsorgung der Nuklearabfälle eingerechnet.

Die Vorteile der Nukleartechnik sind laut Autoren allerdings ebenso klar: die schnelle Reduzierung des CO2-Ausstoßes und die Notwendigkeit, die Produktion von Elektroenergie aufrechtzuerhalten oder sogar zu steigern. Verbunden mit der Erderwärmung erzwingt diese Situation so oder so erhebliche Investitionen.

Überdies führt der Zugang zu Ressourcen bereits jetzt zu einer starken geopolitischen Konkurrenz zwischen den verschiedenen wirtschaftlichen Blöcken, den Vereinigten Staaten, Asien und Europa.

Die Autoren fordern eine Rückkehr zu "wirtschaftlich vernünftigen Investitionen". Sie präsentieren dazu, verschiedene Tabellen. Sie stammen von der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen, vom US-Ministerium für Energie und vom Entso-e, dem Verband Europäischer Übertragungsnetzbetreiber.

Demnach hat Frankreich für die Produktion von Elektrizität im Jahr 2021 ungleich weniger CO2 ausgestoßen als die Bundesrepublik Deutschland, nämlich nur 0,39 CO2 Tonnen pro Einwohner, in Deutschland waren es dagegen 2,53 Tonnen.

Vorteile

Eindeutig sei ferner, dass der Bau von Nuklearanlagen im Vergleich zum Bau von Solaranlagen, Windkraftanlagen und Wasserkraftwerken wesentlich weniger Beton, Eisen, Kupfer, Aluminium und andere Materialien verbrauche.

Als zweiter Faktor werden die direkten Umweltschäden und die Beeinträchtigung der Biodiversität durch die verschiedenen Technologien angeführt. Solaranlagen und Windkraftanlagen nehmen wesentlich mehr Raum ein, als Kernkraftwerke.

Selten berücksichtigt wird laut den Autoren die Lebensdauer der Produktionsmittel, insbesondere die vergleichsweise kurze Lebensdauer der Photovoltaikanlagen und der Windkraftwerke.

Die Lebensdauer von Atomreaktoren liegt bei etwa 60 Jahren, ein eindeutiger Vorteil gegenüber der Lebensdauer von Wind- und Solaranlagen, die bei 20 bis 25 Jahren liegt. Deren Erneuerung werde viele 100 Milliarden Euro verschlingen.

Technikfeindschaft

Hauptargument der Autoren ist aber die These, dass die Menschheit bisher nicht die Konsequenzen aus den Entdeckungen des 20. Jahrhunderts im Bereich der Physik, der Chemie und der Biologie gezogen habe.

Vielmehr habe diese bei vielen Menschen einen Vogel-Strauß-Reflex ausgelöst. Der führe dazu, die guten Folgen dieser Naturgesetze und im Verhältnis zu den potentiellen schlechten Folgen, "die der menschliche Wahnsinn hervorbringen könnte, wenn man sie anwendet", zu ignorieren und zurückzuweisen.

Ähnliche Technikskepsis, um nicht zu sagen Technikfeindschaft, kennzeichnet die Debatten in den westlichen Ländern auch im Bereich der biologischen Entdeckungen, insbesondere der Entschlüsselung des Genoms oder im Bereich der AI, der Künstlichen Intelligenz.

Die Autoren fordern ein Ende der Angstmacherei.