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Dekarbonisierung noch nicht in Sicht

Die Energie- und Klimawochenschau: Jahresrückblick II. Kohle und Atom auf nahezu gleichem Niveau, erfolgreiche Divestment-Bewegung und ungelöste Atommüllprobleme

Auf die Liste der Wörter des Jahres 2015 hat es der Begriff "Dekarbonisierung" nicht geschafft. Dennoch war er in der klimapolitischen Debatte in aller Munde, wenn auch unterschiedlich streng interpretiert. 80% der gesicherten Kohlereserven müsste im Boden bleiben, außerdem ein Drittel der Ölreserven und die Hälfte der Gasreserven, um das 2-Grad-Ziel einzuhalten, so lässt es sich im Kohleatlas [1] von Böll-Stiftung und Greenpeace nachlesen.

Nun haben sich die Staaten auf der Klimakonferenz im Dezember darauf geeinigt, möglichst einen Temperaturanstieg über 1,5 Grad Celsius zu vermeiden. Entsprechend schrumpft das Kohlenstoffbudget, das die Menschheit noch verbrennen darf.

An die praktische Umsetzung des Vorhabens, fossile Ressourcen im Boden zu lassen, machte sich weltweit die Divestment-Bewegung. Öffentliche Gelder sollen vornehmlich aus der Kohlewirtschaft abgezogen werden, um den Aufschluss neuer Abbaugebiete oder neue Kohlekraftwerke zu verhindern. Studierende zahlreicher Universitäten forderten den Rückzug ihrer Institute aus der fossilen Wirtschaft - einige Universitäten zeigten sich einsichtig. Divestmentversprechen [2] machten auch die Rockefeller-Stiftung, der norwegische Pensionsfonds oder der Ökumenische Rat der Kirchen. In Deutschland kündigte die Stadt Münster ein Divestment aus fossilen Energien an, die Allianz versprach ihren Rückzug aus der Kohlefinanzierung.

Auch ökonomisch scheint ein Divestment aus den fossilen Energien dringend geboten. Nach einem Bericht der Carbon Tracker Initiative [3] befinden sich Reserven fossiler Brennstoffe mit einem CO2-Gehalt von 2.795 Gigatonnen in privatem und öffentlichem Besitz. Nur rund ein Fünftel dieser Reserven dürfte noch verbrannt werden, beim 1,5-Grad-Ziel sogar noch weniger, d.h. ein Großteil dieses Besitzes könnte bald wertlos sein. 2015 gab es immerhin einige verbale Bekenntnisse zur "Dekarbonisierung", etwa beim Gipfeltreffen der G7 in Elmau. Im Abkommen von Paris kommt der Begriff Dekarbonisierung zwar nicht vor, de facto ist sie jedoch notwendig, um sich dem 1,5-Grad-Ziel auch nur anzunähern.

Emissionsanstieg in Deutschland

Werfen wir einen Blick auf den Status Quo: Im Jahr 2014 ist der Treibhausgasausstoß aus fossilen Energieträgern weltweit um 0,6% gestiegen und betrug insgesamt 9,8 Gigatonnen Kohlenstoff (das entspricht 35,96 Gigatonnen CO2). Für das Jahr 2015 sagt die Organisation The Global Carbon Project [4] einen Rückgang der Emissionen um 0,6% [5] voraus. Es wird mit Sicherheit noch einige Zeit dauern, bis sich diese Prognose anhand von offiziellen Zahlen überprüfen lässt.

Für Deutschland rechnet etwa die AG Energiebilanzen [6] mit einem leichten Anstieg des CO2-Ausstoßes im Jahr 2015. So sei der Stromverbrauch um 1,3% gegenüber dem Vorjahr gestiegen. "Bei den CO2-Emissionen wird es nach Ansicht der AG Energiebilanzen nur zu einem leichten Anstieg gegenüber dem Vorjahr kommen. Ein erheblicher Teil des Verbrauchszuwachses konnte durch erneuerbare Energien und damit ohne höhere Emissionen gedeckt werden."

Von Dekarbonisierung ist dabei wenig zu spüren. Zwar ist der Steinkohleverbrauch in Deutschland um 0,7% zurückgegangen, der Braunkohleverbrauch ist hingegen nahezu gleich geblieben.

Eine enttäuschende Meldung gab es leider auch vom weltweit größten Kohleverbraucher China. Hieß es bis Mitte des Jahres noch, China hätte 2014 weniger Kohle verfeuert als in den Jahren zuvor, meldete im November die New York Times, dass China in den vergangenen Jahren bis zu 17% mehr Kohle verbrannt hätte als offiziell angegeben. Aus den Daten von Chinas Statistikbehörde gehe hervor, dass der Kohleverbrauch bereits seit dem Jahr 2000 unterschätzt worden sei.

Alles andere als Dekarbonisierung fand auch in Australien statt. Im Zeitraum von Mitte 2014 bis Mitte 2015 nahm die Stromerzeugung aus Braunkohle um 10% zu, die aus Steinkohle um 1,4%, wie klimaretter.info berichtet [7].

Von der Klimaabgabe zur Kapazitätsreserve

In Deutschland blicken wir auf die Querelen um eine Kohleabgabe zurück, die sich dann die "Kapazitätsreserve" verwandelte. Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel brachte die Klimaschutzabgabe auf alte Kohlekraftwerke erstmals im März ins Spiel, da das schwache Emissionshandelssystem bisher keinen Anreiz schafft, Kraftwerke mit besonders schlechter Klimabilanz abzuschalten. 22 Millionen Tonnen Kohlendioxid sollten auf diesem Weg eingespart werden.

Gegen den Vorschlag regte sich sofort heftiger Protest aus den Reihen der CDU, von Seiten der Braunkohlewirtschaft als auch von Seiten der Gewerkschaften IGBCE und Ver.di - letztere vor allem vertreten durch ihren Vorsitzenden Frank Bsirske. Die Bundesregierung vereinbarte mit den Stromkonzernen MIBRAG, RWE und Vattenfall letztlich die Überführung von älteren Braunkohlekraftwerken in eine Kapazitätsreserve. Die Kraftwerksblöcke, die zwischen Oktober 2016 und Oktober 2019 vom Netz gehen sollen, sollen dabei noch für Notfälle zur Verfügung stehen. 2,7 GW sind bisher für die staatlich finanzierte "Reserve" vorgesehen, das sind die Blöcke Jänschwalde F und E, Frimmersdorf P und Q, Niederaußem E und F, Neurath C und Buschhaus D.

Die schwedische Regierung hat das Konzept des Divestments wohl falsch verstanden. 2014 beschloss sie, dass die Zukunft des Staatskonzerns Vattenfall im Bereich der erneuerbaren Energien liegen sollte. Die jetzigen Ausstiegspläne aus der deutschen Braunkohlesparte bedeuten jedoch keineswegs, dass die Lausitzer Braunkohle im Boden bleibt.

Geboten für das deutsche Braunkohlegeschäft des schwedischen Staatskonzerns haben die tschechischen Energieversoger CEZ und EPH, der tschechische Milliardär Petr Kellner und die deutsche Steag. Ebenfalls geboten hatte Greenpeace Nordic mit dem ausdrücklichen Ziel, die Braunkohlesparte in eine Stiftung zu überführen und diese dann abzuwickeln. Greenpeace hatte vorgerechnet, dass die neue Stiftung für die Übernahme der Braunkohlealtlasten 2 Milliarden Euro bekommen sollte, anstatt dafür zu zahlen - und wurde vom Bieterverfahren wegen fehlender Ernsthaftigkeit ausgeschlossen.

Bei allen weiteren Interessenten ist davon auszugehen, dass sie das Braunkohlegeschäft weiter betreiben, die Förderung vielleicht sogar noch erweitern wollen. Besonders die tschechischen Bieter dürften an neuen Brennstoffquellen für ihre Kohlekraftwerke interessiert sein.

Atomenergie weltweit stabil

Leider war bei der Kohle im Jahr 2015 bestenfalls Stagnation zu verzeichnen. Ähnlich sieht es im Bereich der nuklearen Stromerzeugung [8] aus, die sich seit einigen Jahren bei rund 11% weltweit hält.

In der ersten Jahreshälfte 2015 sind 5 neue Reaktoren ans Netz gegangen und 2 wurden stillgelegt (einer davon war Grafenrheinfeld in Deutschland). Nach zwei Jahren ohne Nutzung der Atomkraft hat Japan im August das Kraftwerk Sendai 1 wieder angefahren, im Oktober folgte Sendai 2. Im Januar 2016 werden wohl die Reaktoren Takahama 3 und 4 folgen.

Im Juli 2015 befanden sich weltweit 62 Reaktoren in Bau, 40% davon in China. Jahrelange Verzögerungen beim Bau sind dabei die Regel. 5 Projekte werden offiziell seit 30 Jahren gebaut. Die Baustelle zum finnischen AKW Olkiluoto 3 feierte in diesem Jahr ihr zehnjähriges Jubiläum. Trotz aller bekannten Pannen, Verzögerungen und Kostenexplosionen beim Bau von Atomkraftwerken wollen auch europäische Länder nicht von Neubauprojekten ablassen. So verkündete Großbritannien im November, bis 2025 aus der Kohleverstromung aussteigen zu wollen, kündigte aber zugleich den Neubau von AKW [9] an. Auch andere Länder wie Polen, Tschechien und Ungarn verfolgen nukleare Ausbaupläne.

Olkiluoto 3. Bild: TVO

Belgien verärgert seine Nachbarn mit dem Weiterbetrieb der Schrottreaktoren Tihange und Doel. Bereits im Jahr 2012 waren Haarrisse an den Druckbehältern der Reaktoren Tihange 2 und Doel 3 entdeckt worden, eine Untersuchung der belgischen Atomaufsichtsbehörde FANC ergab, dass die Zahl der Risse noch höher war als zuvor angenommen (Rissige Atomkraftwerke [10]).

Doel 3 wurde am 21. Dezember nach einer 21monatigen Pause wieder ans Netz genommen. Nachdem ein Leck im "nichtnuklearen" Teil der Anlage entdeckt wurde, wurde der Neustart nun auf den 6. Januar verschoben. Auch das Kraftwerk Tihange bereitet weiterhin Probleme. Tihange 2 war Mitte Dezember wieder gestartet worden, wenig später musste Block 1 wegen eines Brandes für einige Tage abgeschaltet werden. Nordrhein-westfälische Politiker bezeichneten [11] den Weiterbetrieb der Reaktoren als unverantwortlich.

Belgien hat eigentlich im Jahr 2003 den Atomausstieg des Landes bis zum Jahr 2025 beschlossen, die Reaktoren sollten nach einer Betriebszeit von 40 Jahren abgeschaltet werden. Die Laufzeiten der Reaktoren Tihange 1 und Doel 1 und 2, die 1974/75 ans Netz gingen, wurden aber inzwischen bis 2025 verlängert.

Rückbau und Haftung

In Deutschland verbleiben [12] nach der Abschaltung von Grafenrheinfeld im Juni 2015 nunmehr 8 Kraftwerksblöcke bis zum endgültigen Atomausstieg. Nach Angaben des Bundesamtes für Strahlenschutz wird als nächstes Grundremmingen B Ende 2017 seinen Betrieb beenden. Die Laufzeiten können sich aber verkürzen, wenn die Reststrommengen schon vorher erreicht sind.

Großes Streitthema im vergangenen Jahr waren die Lagerung des Atommülls, sowie die finanzielle Verantwortung für Rückbau und Entsorgung. Eine Studie im Auftrag des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung empfahl die Einrichtung eines Rückbaufonds aus den Rückstellungen der Atomkonzerne. Derzeit seien die dafür vorgesehenen 38,6 Milliarden Euro keinesfalls insolvenzfest angelegt (Alt-AKW: Rückstellungen nicht insolvenzfest [13]).

Kritiker sahen hinter den Spaltungsplänen des Energiekonzerns E.on den Versuch, sich aus der Haftung zu stehlen. E.on hätte erneuerbare Energien und Stromnetze behalten, während die Tochter Uniper die fossilen Kraftwerke und die Atomkraftwerke übernommen hätte. Zwar hält E.on weiter an den Spaltungsplänen fest, die auf der Hauptversammlung 2016 beschlossen werden sollen, die Atomsparte soll aber nun doch beim Mutterkonzern bleiben.

Als eine Reaktion auf die Spaltungspläne kann auch der Entwurf für ein Rückbau- und Entsorgungskostennachhaftungsgesetz [14] aus dem Hause des BMWi gesehen werden. Ungeachtet der Frage, ob die Rückstellungen reichen werden, blieb auch die Frage der Endlagerung des Atommülls im Jahr 2015 ungelöst.

Zumindest bei der Verteilung der 26 Castoren, die aus der Wiederaufbereitung nach Deutschland zurückkommen, ist Entspannung in Sicht. Unlängst erklärte [15] sich auch Bayern bereit, einen Teil der Behälter an den Kraftwerksstandorten zu lagern. Die Endlagerkommission ist derweil noch immer dabei, Kriterien für die Standortauswahl festzulegen. Bis Mitte 2016 soll die Kommission hierzu einen Bericht vorlegen.

Am weitesten fortgeschritten ist die Endlagerplanung in Europa in Finnland. Die finnische Regierung erteilte im November die Baugenehmigung für ein atomares Endlager in der Nähe des in Bau befindlichen AKW Olkiluoto. Über einen Tunnel soll der Atommüll in den Untergrund unterhalb der Ostsee eingebracht werden. Das Lager soll Platz für 6.500 Tonnen Abfall bieten und angeblich für 100.000 Jahre sicher sein.

Auch die französische Nationalversammlung hat sich im Jahr 2015 für einen Endlagerstandort entschieden. 2017 soll im lothringischen Bure mit dem Bau begonnen werden. Das Genehmigungsverfahren steht aber noch aus. Die Entscheidung für Bure versteckte sich in einem Gesetzespaket zur Wirtschaftsförderung (Bure: erstes europäisches Endlager für hochradioaktiven Atommüll? [16]), so dass sie weitgehend an der Öffentlichkeit vorbei ging. Hier schlummert sowohl auf lothringischer als auch auf saarländischer Seite wohl noch einiges Protestpotenzial.


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https://www.heise.de/-3377461

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.bund.net/kohleatlas
[2] http://gofossilfree.org/commitments
[3] http://www.carbontracker.org/
[4] http://www.globalcarbonproject.org/index.htm
[5] http://www.wmo.int/media/content/global-carbon-budget-released
[6] http://www.ag-energiebilanzen.de/
[7] http://www.klimaretter.info/umwelt/nachricht/20368-australiens-emissionen-gestiegen
[8] http://www.worldnuclearreport.org/Report-2015-Executive-Summary.html
[9] https://www.heise.de/tp/features/Verkehr-verursacht-fast-ein-Viertel-der-weltweiten-CO2-Emissionen-3376825.html
[10] https://www.heise.de/tp/features/Rissige-Atomkraftwerke-3370195.html
[11] http://www1.wdr.de/themen/aktuell/tihange-122.html
[12] http://www.bfs.de/DE/themen/kt/kta-deutschland/kkw/laufzeiten/laufzeiten.html
[13] https://www.heise.de/tp/features/Alt-AKW-Rueckstellungen-nicht-insolvenzfest-3376553.html
[14] http://www.bmwi.de/BMWi/Redaktion/PDF/E/entwurf-gesetz-nachhaftung-rueckbau-entsorgungskosten-kernenergiebereich,property=pdf,bereich=bmwi2012,sprache=de,rwb=true.pdf
[15] http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/atommuell-bayern-nimmt-nun-sieben-castoren-a-1066740.html
[16] https://www.heise.de/tp/features/Bure-erstes-europaeisches-Endlager-fuer-hochradioaktiven-Atommuell-3374284.html