Der Angebotsschock, der ein Nachfrageschock ist

Bundesfinanzminister Christian Lindner bringt etwas durcheinander: Aufklärung eines Missverständnisses über Steuern, Staat und Nachfrage. Was das für die Schuldenbremse 2023 bedeutet.

Ende September gab Bundesfinanzminister Christian Lindner in einem Namensartikel im Spiegel eine bemerkenswerte Diagnose über den Zustand der deutschen Wirtschaft ab. Er schrieb:

In der Coronakrise erlebten wir einen Nachfrageschock. Hier ersetzte der Staat mit Steuermitteln mangelnde Nachfrage. Heute haben wir einen Schock auf der Seite des Angebots. In Zeiten knapper Angebote müssen wir diese mit ambitionierten Maßnahmen erhöhen.

Christian Lindner

Diese Aussage ist zunächst deswegen bemerkenswert, weil der Minister offensichtlich glaubt, der Staat könne mit "Steuermitteln" mangelnde Nachfrage ausgleichen. Das aber kann er nicht.

Heiner Flassbeck. Bild: United States Mission Geneva / CC-BY-2.0

Wenn er erst die Steuern erhöhen muss, um die Mittel zu generieren, die er braucht, um die Nachfrage zu beleben, dann senkt er durch die Steuererhöhung die Nachfrage, die er erhöhen will. Nein, nein, lieber Herr Lindner, schauen Sie in Ihre Bücher, dann werden Sie sehen, dass es neue Schulden waren, mit denen die Nachfrage gestützt wurde.

Noch gravierender ist jedoch das Missverständnis des Ministers hinsichtlich der Frage, was nach dem Nachfrageschock kam, der durch die Corona-Maßnahmen ausgelöst worden war. Hier glaubt der Minister, er habe es mit einem Angebotsschock zu tun. Das ist falsch.

Es gibt zwar einen Angebotsschock, aber der hat einen massiven Nachfrageschock mit sich gebracht. Wenn der Bundesfinanzminister das nicht erkennt und die dahinterstehenden Zusammenhänge nicht versteht, dann macht er unweigerlich große Fehler, die ihm später auf die Füße fallen werden.

Finanzierungssalden zeigen den Zusammenhang

Anhand der Finanzierungssalden (der Salden zwischen Einnahmen und Ausgaben) der volkswirtschaftlichen Sektoren lässt sich das schematisch sehr gut zeigen. Die privaten Haushalte sparen in Deutschland derzeit etwa 250 Milliarden Euro pro Jahr. Das heißt, dass es per se eine Nachfragelücke in dieser Größenordnung in der Volkswirtschaft gibt.

Einkommen der privaten Haushalte werden vom Staat und den Unternehmen in der Größenordnung von 1.600 Milliarden Euro pro Jahr ausbezahlt (die sogenannten Masseneinkommen), über die Käufe von Gütern und über Steuern kommen aber nur 1.350 Milliarden zurück. Diese Lücke ist in den vergangenen fast zwanzig Jahren sehr zuverlässig vom Ausland geschlossen worden, das zuletzt ein Leistungsbilanzdefizit in dieser Größenordnung gegenüber Deutschland zu verzeichnen hatte.

Was im Zuge von Corona geschah, ist nun leicht zu verstehen. Die privaten Haushalte wurden auf die eine oder andere Weise daran gehindert, so viel Geld auszugeben wie in den Vorjahren, die Einkommen liefen aber größtenteils (vom Staat in erheblichem Maße unterstützt) weiter, so dass die Ersparnisse zulegten.

Deren gesamte Summe, der Einnahmeüberschuss der privaten Haushalte also, stieg auf deutlich über 300 Milliarden Euro in den Jahren 2020 und 2021. Das ist der Nachfrageschock, den Lindner meint.

Ausgeglichen wurde dieser von den privaten Haushalten kommende Nachfragerückgang im Jahr 2021 durch den Staat und – wiederum – durch das Ausland. Das staatliche Defizit belief sich auf gut 130 Milliarden Euro, das Defizit des Auslandes stieg sogar auf 260 Milliarden Euro.

Die deutschen Unternehmen machten folglich (die Salden müssen sich, wie hier gezeigt, immer zu null addieren) einen Überschuss von über 100 Milliarden Euro, was sogar eine "Verbesserung" ihrer Position bedeutete.

Außenwirtschaftliche Wende 2022

Im vergangenen Jahr änderte sich das Bild jedoch auf dramatische Art und Weise. Zwar reduzierten die Haushalte ihre Ersparnisse wieder auf einen Wert von etwa 230 Milliarden Euro, was den Unternehmen eine gewisse Entlastung brachte.

Für den Staat bedeutete das aber keineswegs die Möglichkeit, seinen eigenen Ausgabenüberschuss (seine Nettoverschuldung) zurückfahren zu können.

Der Anstieg der Rohstoffpreise, der für sich genommen tatsächlich als Angebotsschock bezeichnet werden kann, brachte nämlich eine drastische Verringerung des deutschen Leistungsbilanzüberschusses mit sich.

Von 270 Milliarden Euro halbierte er sich fast auf 150 Milliarden Euro. Die Öl- und Gasrechnung stieg in ungeahnte Größenordnungen. Damit entstand erneut eine gewaltige Nachfragelücke in Deutschland. Diese wurde zwar vom Staat mit einem Defizit von fast 100 Milliarden Euro weitgehend geschlossen, die Spar-Position der Unternehmen ging gleichwohl erheblich zurück.

Der Grund für die Nachfragelücke ist leicht zu verstehen. Diejenigen auf dieser Welt, die vom Anstieg der Preise für die Rohstoffe profitierten, fragten bei weitem nicht so viel nach, wie ihren zusätzlichen Einnahmen entsprochen hätte.

Mit anderen Worten: Ihre Ersparnisse sind dank sehr hoher Sparquote gestiegen, was bedeutet, dass es 2022 wiederum einen Nachfrageschock durch steigende Ersparnisse gab, diesmal ausgelöst vom Ausland und nicht vom Inland.

Wenn Lindner es prinzipiell für richtig hält, auf solche Nachfragelücken mit der (schuldenfinanzierten) Erhöhung der staatlichen Nachfrage zu reagieren, dann müsste er es auch diesmal tun.