Der Barschel-Brief
War das belastende Schreiben an Stoltenberg wirklich eine Fälschung?
Ein Jahr nach dem mysteriösen Tod von Uwe Barschel wurde ein Brief bekannt, in dem der gescheiterte Politiker wenige Tage zuvor Gerhard Stoltenberg ein Ultimatum gestellt haben soll. Der Absender drohte für den Fall, dass ihm keine Existenzsicherung angeboten würde, mit einer für Stoltenberg und die CDU insgesamt fatalen Aussage vor dem nach dem Wochenende anstehenden Untersuchungsausschuss. Der Ablauf des Ultimatums deckt sich mit Barschels Tod. Die Echtheit des Briefes wurde dementiert und in Zweifel gezogen, er gilt seither als Fälschung. Doch ein renommierter Experte bleibt skeptisch.
Am 5. oder 6. Oktober1987 ging in der Kieler Landeszentrale der CDU offenbar ein Schreiben an den Landesvorsitzenden der CDU, Dr. Gerhard Stoltenberg ein. Der vormalige Ministerpräsident von Schleswig-Holstein hatte 1982 seinem ungeliebten Parteifreund Uwe Barschel beim Amt des neuen Bundesfinanzministers ausgestochen, das dem ehrgeizigen Barschel seinem Ziel, der Kanzlerschaft, entscheidend näher gebracht hätte. Stattdessen hatte der zum stellvertretenden Bundesvorsitzenden der CDU aufgestiegene Stoltenberg an Barschel sein Amt des Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein abgetreten.
Das nördlichste Bundesland befand sich seit Jahrzehnten auf allen Verwaltungsebenen fest in CDU-Hand. Zur Hinterlassenschaft Stoltenbergs gehörte auch die Parteienfinanzierung der dortigen CDU, die kaum anders verlaufen sein dürfte, als dies in anderen Landesverbänden der Fall war, nämlich durch industrielle Spenden, traditionell auch gerne von der Waffenindustrie. Der damals amtierende Bundeskanzler Helmut Kohl etwa hatte schon 1960 die vermögende Tochter des Waffenfabrikanten und Wehrwirtschaftsführers Wilhelm Renner geheiratet und sich seine politische Karriere vom umtriebigen Unternehmer Dr. Fritz Ries organisieren lassen. Wie das System der schwarzen Kassen der CDU funktionierte, war spätestens nach der Flick-Affäre zu erahnen und wurde Ende der 1990er erneut Gewissheit, als Waffenlobbyisten großzügig Geldkoffer verteilten. Auch in Schleswig-Holstein war die Waffenindustrie einflussreich, u.a. in Gestalt der weltweit führenden Werft für taktische U-Boote, die Barschel so am Herzen lag.
Ultimatum
Das auf den 3. Oktober 1987 datierte Schreiben stammte ausweislich seines Absenders und der Unterschrift von Uwe Barschel, der kurz zuvor im Rahmen der Pfeiffer-Affäre von allen Ämtern zurückgetreten war und am damals folgenden Montag vor einem Untersuchungsausschuss aussagen sollte. In dem vierseitigen Brief forderte der Absender von Stoltenberg Solidarität ein. Mannhaft schlug er vor, nicht vor dem Untersuchungsausschuss auszusagen und vor der Öffentlichkeit die gesamte Schuld auf sich zu nehmen, die allerdings sehr wohl eine geteilte Schuld sei. Er wolle allen Beteiligten weitere Peinlichkeiten ersparen und im Ausland bleiben, wo er sich bereits befand. Der Brief ist jedoch nicht der eines Bittstellers, sondern eines enttäuschten, jedoch selbstbewussten Menschen, der dem zweitmächtigsten CDU-Mann Stoltenberg ein Ultimatum zum Wochenende setzte. Für den darauffolgenden Montag war die Anhörung im Untersuchungsausschussangesetzt gewesen. Über einen Staatssekretär bestünde die Möglichkeit, mit ihm an seinem ansonsten geheimgehaltenen Aufenthaltsort kurzfristig Kontakt aufzunehmen, um ihm eine Existenzsicherung anzubieten.
Barschel weilte damals im Haus eines Freundes auf Gran Canaria. Tatsächlich hatte der nunmehr erledigte Politiker erwogen, in Kanada ein neues Leben zu beginnen. Wie Barschels Witwe und eine MfS-Abhörerin bestätigten, hatte er der Regierung Kohl gedroht, er werde gegebenenfalls "auspacken", "die in Bonn" würden ihn "kennenlernen" und die damalige Bundeshauptstadt werde "wackeln". Über den Empfang eines solchen Briefs war verständlicherweise nichts verlautbart worden. Barschels Witwe Freya bestätigte, dass er ein Schreiben verfasst habe. Am 11. Oktober wurde Barschel unter grotesken Umständen tot aufgefunden. Bonn wackelte nicht.
Post eines Toten
Im April 1988, kurz vor der vorgezogenen Neuwahl in Schleswig-Holstein, kursierten Fotokopien des angeblich von Barschel stammenden Briefes im politischen Bonn, die anonym bei Parteien und Redaktionen eingingen. Doch keiner der Adressaten machte das Schreiben öffentlich, denn die unklare Herkunft und damit auch die Echtheit des Briefes weckte Misstrauen. Fünf Jahre nach dem Skandal mit den gefälschten Hitler-Tagebüchern wollte sich niemand mehr mit dubiosen Dokumenten blamieren, die nicht ohne weiteres überprüfbar waren. Nachdem DER SPIEGEL die Schleswig-Holstein-Wahl mit dem halbgaren Sud des dubiosen Medienreferenten Reiner Pfeiffer kurzfristig manipuliert hatte, war man nun vorsichtiger geworden.
Der Brief wirkte ein bisschen "geschwätzig". So teilte er dem Leser etliches mit, was Stoltenberg eigentlich hätte wissen müssen. Allerdings hätte Barschel jedoch damit rechnen müssen, dass der Brief in Kiel und Bonn auch andere Leser gefunden hätte, auf deren Textverständnis er wert gelegt hätte. Ebenso ist denkbar, dass durch die inhaltlichen Anschuldigungen eine Weitergabe an Uneingeweihte hätte vermieden werden sollen.
Sprachanalyse
Während Parteistrategen und Print-Journalisten ihre Exemplare in der Schublade verschwinden ließen, recherchierte die Redaktion des ARD-Magazins PANORAMA den Brief auf dessen mögliche Authentizität. Sie beauftragte den Linguisten Raimund Drommel mit einer Expertise, ob das Schreiben aus kriminologischer Sicht Barschel zuzuordnen sei. Bei sprachanalytischen Gutachten werden Texte auf individuelle sprachliche Merkmale untersucht, die auf den Autor zwar nicht mit der Sicherheit eines Fingerabdrucks oder einer DNS-Übereinstimmung schließen lassen. Bei längeren Texten jedoch, die computergestützt mit einer Vielzahl an eindeutig einer Person zuzuordnenden Textproben abgeglichen werden, kann eine Analyse einen hohen Grad an Zuverlässigkeit beanspruchen. Einen vierseitigen Text überzeugend sprachlich zu fälschen, dürfte als Meisterleistung auf diesem Gebiet bewertet werden.
Drommel führte zunächst eine Negativ-Analyse durch, bei der er den Brief auf sprachliche Fremdanteileabsuchte, die untypisch für Barschel gewesen wären. Derartige Fehler hätten einem Fälscher leicht unterlaufen können, der sich an öffentlichen Reden Barschels orientiert hätte, denn solche Reden werde häufig von Dritten geschrieben oder redigiert. Barschels Sprachstil wies durchaus charakteristische Züge auf. So neigte der konservative Jurist zu Archaismen und wichtigtuerischen Formulierungen, die er auch in der nicht öffentlichen Konversation pflegte.
Dann glich Drommel den Brief auf sprachliche Übereinstimmungen mit privater Korrespondenz mit Familienmitgliedern ab, die ihm von Barschels Witwe Freya überlassen wurden und einem Fälscher vermutlich nicht zur Verfügung gestanden hätten. Drommel kam damals zu dem Schluss, dass das Schreiben sprachlich "mit großer Wahrscheinlichkeit" Barschel zuzuordnen sei. Auch heute, nachdem Methoden und Analyse-Software präzisere Schlussfolgerungen zulassen, hält Drommel an seinem Befund fest.
Das Ergebnis wurde der Staatsanwaltschaft übermittelt und am 18. Oktober 1988 in PANORAMA der Öffentlichkeit vorgestellt. Der von der Redaktion zuvor angefragte Stoltenberg verweigerte damals eine Stellungnahme. Nach Ausstrahlung der Sendung bestanden Stoltenberg und der damalige CDU-Landesgeneralsekretär auf einer Gegendarstellung. (Eine Gegendarstellung ist lediglich die presserechtliche Möglichkeit, einem Bericht eine eigene Version hinzuzufügen, ohne dass Gerichte die Authentizität einer solchen prüfen.) Im Gegensatz zur Gegendarstellung ist der Originalbeitrag nicht mehr in den Online-Archiven des NDR zu finden. In der Sendung mit der Gegendarstellung thematisierte PANORAMA süffisant die Problematik der signifikant höheren Alkohol- und Medikamentensucht von Spitzenpolitikern - ein Problem, das in besonderem Maße auch Uwe Barschel betraf.
Stoltenberg und der Landesgeneralsekretär bestritten den damaligen Empfang des Briefes und dessen Inhalt. Die CDU rief den Brief daher zur Fälschung aus.
Es kursiert allerdings eine Version, ein Journalist habe zwei Zeuginnen aufgetan, die den Eingang des Briefes anfangs bestätigten, dann plötzlich jedoch nicht mehr reden wollten. Auch der Journalist wurde veranlasst, die nunmehr ohnehin nicht mehr beweisbare Story ganz zu vergessen.
BKA-Untersuchung
Das mit regierungstreuem Personal besetzte Bundeskriminalamt (BKA) widersprach Drommel, der allerdings seinerseits dem BKA damals die Kompetenz für sprachkriminalistische Gutachten absprach. So waren Personen für ein halbes Jahr in Untersuchungshaft geraten, weil sie die gleichen Komma-Fehler gemacht hatten, wie sie auch in anonymen RAF-Bekennerschreiben aufgetaucht waren. Derartig weit verbreiteten Komma-Fehler unterliefen bisweilen selbst BKA-Leuten.
Das BKA führte an, der Brief sei entgegen den Gewohnheiten Barschels nicht mit der Hand, sondern mit der Maschine geschrieben, noch dazu ohne Briefpapier. Der gerade zurückgetretene Barschel hätte jedoch schlecht sein bisheriges Briefpapier mit der Bezeichnung "Ministerpräsident" verwenden können. Das BKA argumentierte, der Brief enthalte Redewendungen, die erst ein Jahr später in den deutschen Sprachgebrauch eingeführt worden seien. Dem SPIEGEL allerdings lag der Brief bereits seit dem 29. April 1988 vor, also ein halbes Jahr, bevor es nach BKA-Meinung diese Redewendungen gab. Auf Drommels Aufforderung an die BKA-Experten in der Fachzeitschrift CRIMINAL DIGEST, sein Gutachten dezidiert zu besprechen, ließen sich diese nicht ein.
Die Edelfedern des SPIEGEL schlossen sich der dem Urteil des BKA an und wiesen auf mögliche Anachronismenim Text hin. Damit war die Story beerdigt.
Unterschrift
Das schlagendste Argument des BKA für eine Fälschung aber bestand schließlich in einem Dokument Barschels, das eine deckungsgleiche Unterschrift mit der des Briefs aufweise. Es ist unmöglich, zweimal 100% identisch zu signieren. Also lag es nahe, dass ein Fälscher von dieser Vorlage eine Kopie angefertigt hatte. Allerdings ging dann der Fälscher das schließlich offenbar verwirklichte Risiko ein, dass sein Referenzdokument bei einem Abgleich entdeckt werden würde.
Der Brief lag jedoch nur in Form einer Fotokopie vor, was für einen seriösen Abgleich von Unterschriften von Gerichten nicht als beweiskräftig anerkannt wird. So kann etwa nicht die Druckstärke untersucht werden, die ein ganz wesentliches Indiz für die Echtheit von Signaturen darstellt. Auch hatte das BKA die Signaturen fotomechanisch skaliert, denn diese unterschieden sich in der Größe.
Damit man sich ein eigenes Bild von der berichteten Übereinstimmung der Unterschriften machen könnte, müsste dieses Dokument mit der Originalunterschrift jedoch benannt und veröffentlich werden. Selbst dem in der Öffentlichkeit vom BKA zum Dilettanten abgestempelten Drommel, der immerhin als der führende forensische Linguist galt, wurde dieses bis heute nicht zugänglich gemacht.
Wolfs Revier
Zum vierten Todestag Barschels präsentierte 1991 Verfassungsschutz-Präsident Eckart Werthebach den angeblichen Urheber des Briefes: Das DDR-Ministerium für Staatssicherheit. Dies habe man durch Vernehmungen erfahren. Der Namen des konkreten Fälschers sei bekannt, solle jedoch nicht preisgegeben werden. Die Fälschung sei von einem inoffiziellen MfS-Mitarbeiter konzipiert und im Auftrag des damaligen Spionagechefs Werner Großmann erfolgt. Auch dessen Vorgänger, der legendäre Markus Wolf ließ sich 1991 dahingehend ein, der Brief sei von "einem seiner besten Leute" angefertigt worden.
Drommel zeigte sich für den Fall, dass es sich um eine Fälschung handele, von deren Qualität mehr als beeindruckt und hatte schon ein akademisches Interesse, mit dem geheimnisvollen Autor zu sprechen. Einiges deutete auf Major Hartmut Ritter hin, der einem von Drommels Studenten gegenüber telefonisch einräumte, Ablichtungen des Briefes nach Barschels Tod versendet zu haben - die Urheberschaft jedoch abstritt. Nach Recherchen von TELEPOLIS war Ritter allerdings auch nur ein Techniker der Abteilung gewesen. Eine Fälschung durch die legendäre "Abteilung X" des MfS für Desinformation wäre in das Ressort der beiden Oberstleutnants Günter Bohnsack und Dr. Herbert Bremer gefallen.
"Aktion Schwarz"
Bohnsack und Bremer legten 1992 in ihrem gemeinsamen Buch "Auftrag: Irreführung" ihre Lebensbeichte ab und schilderten auch die "Aktion Schwarz", die von 1966 bis 1988 lief, um die Kritik an der CDU und insbesondere Helmut Kohl zu verstärken. 1987 gab es in der CDU Flügelkämpfe zwischen dem zur "Öffnung zur linken Mitte" geneigten Generalsekretär Heiner Geißler, Späth und Biedenkopf einerseits und Finanzminister Stoltenberg andererseits, der einen Sparkurs zulasten Arbeitern und Angestellten fahren wollte. Die Abteilung X unterstützte das Aufbegehren und druckte eine scheinbar von der CDU stammende Broschüre, die den Eindruck erwecken sollte, als gäbe es eine bis in die Führung der Partei reichende Opposition gegen Kohl.
In der Pfeiffer-Affäre von 1987 schildern sich Bohnsack und Bremer nur als "Zuschauer". Sofern der Brief also - wie zwei namentlich ungenannte Zeuginnen gegenüber einem Journalisten aussagten - bereits damals eingegangen sein sollte, wäre die Abteilung X nicht beteiligt gewesen - oder es gab zwei Briefe.
Bohnsack und Bremer schreiben in ihrem Buch, man habe "Kapital aus der Affäre schlagen" wollen. "Ein Mitarbeiter der Abteilung X" habe die Fälschung ein halbes Jahr später verfasst, um Stoltenberg in Misskredit zu bringen. Die Unterschrift sei von einem Originaldokument übernommen worden, wie man sie bei den MfS-Fälschern zu derartigen Zwecken vorrätig hielt.
In ihrem Buch zitieren die beiden inzwischen wie auch Ritter verstorbenen MfS-Veteranen hauptsächlich ein veröffentlichtes Schreiben Werthebachs an Stoltenberg, in dem dieser ihm von der Fälschung berichtete. Die Desinformationsprofis, in deren Zuständigkeit ein solches Projekt gefallen wäre, berichteten also nicht aus erster Hand. Sie bezogen sich zudem auf ein SPIEGEL-Interview mit Markus Wolf, in welchem dieser die Überwachung von Barschel bei Reisen in der DDR einräumte, wobei sie nicht wüssten, zu welchem Zweck die Observationerfolgt sei.
Sollte die Informationslage von Bohnsack und Bremer authentisch sein, dann wären sie in der Tat schwach informiert gewesen. Tatsächlich wurde Barschel nämlich auch im Westen abgehört, im Osten machte das MfS mit Barschel erst später ruchbar gewordene Geschäfte, die nach wie vor im Dunkeln liegen. Gut möglich, dass Bohnsack und Bremer tatsächlich keinen Überblick über Barschel hatten, denn als Fälscher wäre die Feindaufklärung auch nicht deren Aufgabe gewesen. Ein nach dem need-to-know-Prinzip organisierter Geheimdienst hätte die delikaten Angelegenheiten nicht mit ihnen geteilt, sondern die Abteilungen voneinander abgeschottet. Dann aber wäre es konsequent gewesen, mit der Fälschung einen Barschel-Kenner aus der Auswertung zu beauftragen. Jedoch soll der geheimnisvolle Fälscher ein (Werthebach spricht von "inoffiziellem") Mitglied der Abteilung X gewesen sein. Bis heute ist unklar, wer diese Meisterleistung vollbracht haben soll.
Während die Abteilung X typischerweise Material an Einflussjournalisten spielte oder Fantasie-Broschüren lancierte, sind mit dem Barschel-Brief vergleichbare Fälschungen des MfS nicht bekannt. Hätte das MfS tatsächlich so hochtalentierte Fälscher beschäftigt, so stellt sich die Frage, warum solche nicht öfters eingesetzt wurden, etwa gegen Strauß, der aus Sicht der DDR den Frieden gefährdete.
"Bonn im Blick"
Aus eigener Anschauung hätte auch Wolf keine Auskunft geben können, denn der Spionagechef war 1988 nicht mehr im Dienst. Nachfolger Markus Großmann bekannte sich 2001 in seinen Memoiren "Bonn im Blick" zur Verantwortung für den Barschel-Brief, der im April 1988 fabriziert worden sei. Dieser sei die Reaktion auf die Unterstellung gewesen, das MfS habe Barschel ermordet. Das Ziel, eine Untersuchung in Richtung BND, Mossad oder CIA zu lenken, sei jedoch nicht erreicht worden.
Großmann widmet der Angelegenheit in seinem 315 Seiten starken Buch auffallend wenige Zeilen. 1988 hatte sich die Journaille mehr oder weniger mit der Suizid-Version abgefunden, so dass schon kein Mörder gebraucht wurde. Die bis heute geheimnisvollen Reisen des rechtskonservativen Politikers in die CSSR und die DDR, wo er im bis unters Dach verwanzten Hotel Neptun abstieg und die deutsch-deutschen Beziehungen in der Horizontalen vertiefte, waren jedenfalls 1988 öffentlich noch gar nicht bekannt gewsen, sondern erst seit 1991. Gegen wessen Verdächtigungen will sich Großmann mit solch einer ungewöhnlichen Maßnahme verteidigt haben? Und hatte ein gut informierter Geheimdienstprofi wie Großmann wirklich BND, Mossad oder CIA in Verdacht, nicht aber die Iraner oder politische Kreise der Bonner Republik, die einen Mord auch ohne einen verbeamteten Spionageapparat hätten begehen können?
Das Anfertigen von Totalfälschungen birgt stets das Risiko der Entdeckung und damit der Blamage. Da das MfS damit rechnen musste, dass sich ein solcher Brief mit anderen Briefen Barschels überschneiden könnte und auch die Barschel-Witwe von einem Brief berichtet hatte, wären bei Lancieren einer Fälschung Widersprüche zu befürchten gewesen. Die hohe Kunst des Geheimdienstgeschäfts besteht daher in erster Linie im Handel mit zutreffenden Informationen und echten Dokumenten, die man als Herrschaftswissen hortet oder mit Partnern teilt, zur Erpressung oder sonstigem strategischen Vorteil nutzt und im richtigen Moment gezielt einsetzt und platziert. Genauso hätte man es mit einem ausspionierten echten Barschel-Brief gemacht, der kurz vor der Wahl 1988 unter den CDU-Anhängern Verwirrung hätte auslösen können.
Das von Großmann gebotene Motiv, die indirekte Ehrenrettung des MfS, weicht von der Darstellung von Bohnsack und Bremer ab, die allerdings außer der Diskreditierung Stoltenbergs auch kein konkretes taktisches Ziel nennen. Es erscheint nur sehr schwer vorstellbar, dass eine so anspruchsvolle Fälschung aus Jux und Tollerei in Auftrag gegeben worden wäre. Denkbar wäre jedoch ein anderes, indirekt von Großmann nahezu eingestandenes Motiv gewesen: das Lancieren eigener Erkenntnisse, um die westlichen Behörden und Journalisten dazu zu veranlassen, den Fall zutreffend aufzuklären.
Für ein solches Manöver gäbe es im MfS immerhin historische Vorbilder: So hatte das MfS erfolgreich echte Dokumente lanciert, welche angeblich die Nazi-Vergangenheit Kiesingers und Filbingers bewiesen. Bei Lübke war das MfS auf von Lübke stammende Baupläne für Baracken in Konzentrationslager gestoßen. Da aus den diesen nicht hervorging, dass Lübke deren Verwendungszweck kannte, halfen die Fälscher der Abteilung X nach. Da dies jedoch auffiel, war damit auch der Beweiswert des Dokuments insgesamt ruiniert. Würde sich das MfS noch mal mit einem gefälschten Dokument, das garantiert überprüft werden würde, auf eine solche Blamage einlassen? Der von Freya Barschel berichtete echte Brief, den Barschel abgeschickt hatte und der durch seine Existenz logischerweise einer Fälschung widersprechen würde, ist bislang nicht bekannt worden.
Interessenkonflikte
Sowohl der inzwischen verstorbene Wolf, als auch Großmann hatten bzw. haben allerdings ein Interesse, den beerdigten Barschel ruhen zu lassen. Denn nach wie vor sind sich die MfS-Größen und der BND einig, dass die deutsch-deutsche Geschichte blinde Flecken behalten soll. Bis heute ist über die Geschäfte Barschels in der DDR nahezu nichts bekannt, die Beteiligten schweigen eisern. In den Wendejahren kam es zu bis heute unaufgearbeiteten Geschäften der Geheimen. Devisen-Beschaffer Schalck-Golodkowski verbringt in Freiheit einen harmonischen Lebensabend am Tegernsee. Wenn das MfS wusste, was im Fall Barschel lief - immerhin gab es seitens des MfS eine Untersuchung - dann wäre das ein guter Grund, warum in den Wendejahren mancher nicht angefasst wurde. Angesichts der umfassenden Überwachung Barschels, der nahezu kein Telefonat ohne Ohrenzeugenschaft von MfS-Generaloberst Horst Männchen machen konnte, ist nur schwer vorstellbar, dass man in Ostberlin nicht wusste, was lief. So hatte denn auch Wolf auf die Frage eines Journalisten nach dem Barschel-Mord geheimnisvoll zurückgefragt, ob er das wirklich wissen wolle.
Die in der Gauck-Behörde beschlagnahmten Akten blieben unergiebig. Der westdeutsche Auslandsgeheimdienst BND, der häufig in die Abdeckung von Waffengeschäften verstrickt war, bestreitet nach wie vor, zum Fall Barschel auch nur eine Akte angelegt zu haben. Da Abhörspezialist Männchen nach Zusammenbruch der DDR übergelaufen war, hätte es an Quellen kaum gemangelt.
"Der Code des Bösen"
Vielleicht stimmt die Version der beiden Spionagechefs - zwei Männer, deren Beruf u.a. das Inszenieren von Lügen war. Dann wäre der Barschel-Brief also tatsächlich eine Fälschung. Doch auch nach über zwei Jahrzehnten bleibt Linguist Drommel bei seinen Zweifeln, die er in dem Buch "Der Code des Bösen" (2011) ausführte. Drommel schildert auch ein Treffen mit einem PANORAMA-Redakteur und Barschels Bruder Eike, das kurz nach der Sendung 1988 in Nürnberg in einer Hotellobby stattfand. Die Besprechung interessierte offenbar auch einige Schlapphüte, die eine unfreiwillig komische Observation versuchten. An Slapstick erinnerte Drommel insbesondere ein Mann, der mit einer Filmkamera so "spannende" Dinge wie die Fassade des Nürnberger Hauptbahnhofs filmte und auf die drei Männer schwenkte, bis er sich nach seiner Entdeckung verschämt wieder dem noch immer statischen Gebäude zuwendete. Der PANORAMA-Journalist berichtete anschließend von telefonischen Einschüchterungsversuchen. Drommel verlor wenige Tage später in einer Autobahnauffahrt ein Hinterrad. Die Werkstatt stellte fest, dass an sämtlichen Rädern die Schrauben gelöst waren.
Gegenüber TELEPOLIS äußerte Drommel, er könne sich noch immer nicht vorstellen, dass jemand damals in der Lage gewesen wäre, eine so meisterhafte Fälschung zu produzieren. Vier Seiten perfekten Text ohne Besitz privater Textproben würde er sich jedenfalls nicht zutrauen.
Der Adressat des Briefs, Gerhard Stoltenberg, trat 1992 vom inzwischen bekleideten Amt des Bundesverteidigungsministers zurück - nachdem er die Verantwortung für eine umstrittenen Waffenlieferung ins Ausland übernommen hatte.
Teil 2: Der Mann, der - vielleicht - "Robert Roloff" war