Der Darm als unbekannte Größe

Wenn die Darmschleimhaut zu durchlässig wird, sind heftige Immunreaktionen die Folge

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Der Gastrointestinaltrakt ist der Ort, an dem entschieden wird, was von unserer Ernährung in den Körper aufgenommen wird. Dazu dient dem Darm eine enorme Erweiterung seiner Oberfläche und zusätzlich eine dünne Schicht von Zellen, die für die Aufnahme von Nährstoffen geeignet ist. Viele bakterielle oder virale Infektionen gelangen zwar durch die erste Zellschicht hindurch, werden dann aber von Lymphozyten und Immunzellen sowie dem lymphozytären Gewebe, das sich in dieser Ebene befindet, aufgehalten. Viele "Seuchen der Unkultur", zu denen Salmonellen, Shigellen und viele andere Erreger zählen, sind bei uns kaum mehr zu fürchten. Statt dessen bereiten Allergien und chronische Entzündungen den Menschen zunehmend Sorge.

In Science ist ein Beitrag zum Morbus Crohn und zur Colitis ulcerosa erschienen, der den aktuellen Stand der Wissenschaft zusammenfasst. So beschreibt der Beitrag von T.T. MacDonald aus Southampton und G. Monteleone aus Rom einige neue Aspekte, die das Bild von den Darmerkrankungen ergänzt.

Die Oberfläche des Darms wird durch Verzweigungen wie durch viele kleine "Finger" (Mikrovilli) auf eine Fläche ca. 400 Quadratmetern vergrößert. Dadurch wird der notwendige Platz zur Resorption der zerkleinerten Nahrung gewonnen. Doch kommt es auch zum Durchtritt von ganzen Proteinen und auch Bakterien. Dadurch wird das Lymphozytengewebe angeregt, verschiedene Gegenreaktionen zu starten. Beispielsweise werden die bakterienfressenden Zellen (Makrophagen) animiert, die Bakterien zu verschlingen. Dieser Prozess setzt gleichermaßen die Schutzzellen frei, die Bakterien und ihre Abbauprodukte aufnehmen und vernichten. In diesem Falle handelt es sich um "immunkompetente" Zellen, die dafür bereits früher, unter dem Einfluss ähnlicher Erreger, geprägt wurden. Oder es handelt sich um Zellen, die diese Prägung zunächst lernen müssen (CD4-Zellen). Ferner werden Plasmazellen aktiv, die allein täglich 3-5 Gramm Immunglobuline produzieren, die wiederum den schädigenden Stoff oder auch Bakterien und Viren ausschalten können.

Der Darm ist demnach ein höchst immunaktives Gebilde. Und doch sind bisher lediglich Bruchteile der Immunabwehr bekannt.

Schematische Darstellung der Immunantworten im Darm (Bild: Science)

Beim Morbus Crohn sprechen nun neuere Ergebnisse dafür, dass das gesteigerte Immunsystem überraschenderweise nicht zur Ruhe kommt. Entnimmt man nämlich die Zellen, die zur Abwehr da sind (CD4-Helferzellen) und überträgt sie auf ein gesundes Tier, bleibt ihr stimulierender Effekt auch nach ihrer Entnahme unverändert erhalten. Ähnliches kann bei den bakterienfressenden Zellen nachgewiesen werden.

Das aber ist nur möglich, wenn der Patient eine genetische Veranlagung für den Vorgang besitzt, der als fehlende "down regulation" bezeichnet wird. Tatsächlich haben neuere Studien eine familiäre Häufung nachgewiesen und mehr noch, den Befall von mehreren Chromosomen, nämlich 1, 5, 6, 12, 14 und 19. Deshalb glaubt man heute, dass ein Mensch, bei dem zwei oder mehrere solcher Chromosomen betroffen sind, 20-40mal häufiger an einem Morbus Crohn erkrankt. Ferner konnte gezeigt werden, dass bei ungefähr 8-17 Prozent der Morbus-Crohn-Kranken ein multipler Chromosomenbefall besteht im Vergleich zu weniger als 1 Prozent in der Normalbevölkerung.

Die Häufigkeit des Morbus Crohn hat aber seit 1960 aus nicht erklärlichen Gründen signifikant zugenommen. Obwohl die Erkrankung bevorzugt im unteren Dünndarm, d.h. im letzten Abschnitt vor dem Dickdarm, und im Dickdarm selbst gefunden wird, kann er alle Darmabschnitte vom Mund bis zum After befallen. Kennzeichnend sind der Befall mit kleinen Geschwüren in einzelnen Darmabschnitten mit dazwischen liegender normaler Schleimhaut. Ferner machen "Fisteln" das Leben unbequem. Dabei handelt es sich um kleine Gänge, die im Analbereich auftreten oder als Querverbindungen zwischen Darmabschnitten und durch die Begleitentzündung auf sich aufmerksam machen.

Hingegen soll die Colitis ulcerosa nun als autoimmuner Prozess gelten, das heißt als Abwehrreaktion des Körpers gegen eigenes Gewebe. Im Unterschied zum Morbus Crohn betrifft die Entzündung alle Abschnitte des Dickdarms, vom Enddarm bis zum Zoekum, den Beginn des Dickdarms. Wenn die Colitis ulcerosa voll ausgeprägt ist, stehen Geschwüre im Vordergrund. Daneben gibt es jedoch Zustände, in denen bloß die Entzündung das Krankheitsbild bestimmt. Die Vermutung, dass es sich nicht nur um einen "selbstzerfleischenden" Vorgang handelt, sondern vielmehr um einen psychisch unterhaltenen Prozess, ist allerdings schon sehr viel länger in Umlauf.

Aus ärztlicher Sicht sind die Unterschiede zwischen Morbus Crohn und Colitis ulcerosa allerdings nicht so klar zu trennen. Da wird ein vermeintlicher Crohn-Patient zum Colitis-Kranken, und umgekehrt. Deswegen gehört zur Diagnose vor allem eine Untersuchung des Dickdarmes, die von den Betroffenen gerne vermieden wird.