Der Frosch im heißen Wasser
Die Trivialisierung von Überwachung in der informatisierten Gesellschaft des 21. Jahrhunderts
Die Reaktionsfähigkeit komplexer fortgeschrittener Gesellschaften lässt sich in bestimmter Hinsicht mit denen von Fröschen vergleichen. Wirft man eine solche Amphibie experimentehalber in heißes Wasser, so wird der Frosch dieser unangenehmen Umgebung sofort zu entfliehen versuchen und mit einem Satz heraushüpfen. Setzt man das sensible Tier hingegen behutsam in ein mit Wasser gefülltes Gefäß und erhöht die Temperatur nur ganz allmählich in kleinen Schritten, so wird es die geringfügigen Veränderungen ertragen, sich jeweils an die Erwärmung gewöhnen und schließlich so lange verharren, bis es am Ende zu spät ist. Ein plötzlicher, starker Reiz löst als Kontrast der Umgebungsbedingungen bei Lebewesen, so lernt man daraus, eine starke aversive Reaktion wie Vermeidung durch Flucht oder Aggression aus; wird der Reiz dagegen nur Schritt für Schritt verstärkt, treten Anpassungs- und Gewöhnungseffekte ein, die sich auf längere Sicht ungünstig auswirken.
So ähnlich, ist zu befürchten, verhält es sich mit dem obrigkeitshalber zugemuteten Überwachungspegel in den hypermodernen Gesellschaften: Während Orwells Vision "1984" in der öffentlichen Kultur noch vor einer Generation nahezu einhellig als Schreckbild empfunden und als warnende Dystopie verstanden wurde, ist die technische Infrastruktur zur ubiquitär-panoptischen Ausleuchtung individuellen und kollektiven sozialen Lebens zu Beginn des 21. Jahrhunderts technisch weitgehend installiert und stößt nur noch sporadisch auf ernsthaften und/oder organisierten Widerspruch, der sich im Zweifelsfall jedoch politisch leicht marginalisieren lässt oder in juristische Detailfragen von zugestandenen rechtlichen Einfriedungen abgedrängt wird.
Nachdem mit der Implosion des autoritären Staatssozialismus in den 80er Jahren die Inthronisierung von Überwachung als bevorzugtes soziales Ordnungsprinzip der Gesellschaft geschichtshistorisch insgesamt gründlich desavouiert schien, hat der "Kampf" gegen Kriminalität und Unordnung aller möglichen Art in Verbindung mit einem insbesondere innerhalb der Mittelschichten lädierten "Sicherheitsgefühl" dafür gesorgt, dass in den fortgeschrittenen Ländern des (politischen) Westens Überwachung als prinzipielles Herrschafts- und Regierungsprinzip schleichend an Attraktivität gewonnen hat. Allerdings unterliegt Überwachung, dort, wo sie nun anderen, politisch einfacher zu legitimierenden Zwecken dient und in neuartigen gesellschaftlichen Milieus zu operieren hat, auch einem signifikantem Formwandel.
So sind in den westlichen Gesellschaften in den letzten zwei bis drei Dekaden wellenartig immer wieder neue technisierte Überwachungsmethodiken von Strategen der 'Inneren Sicherheit' auf die Tagesordnung gebracht, politisch durchgesetzt und implementiert worden: die Einführung eines maschinenlesbaren Personalausweises, das Abhören von direkter wie technisch übertragener Kommunikation auch im privaten Bereich ('Kleiner' bzw. 'Großer Lauschangriff'), die Erhebung von DNA-Proben einschließlich der Einrichtung entsprechender Datenbanken, die Einführung der elektronischen Fußfessel als Sanktionsmöglichkeit sowie zur Zeit die tendenziell flächendeckende Videoüberwachung von paraprivatem und öffentlichem Raum - um hier nur die bekannteren Beispiele zu nennen.
Es lässt sich nüchtern festhalten, dass sich im Verlauf des letzten Quartals des vergangenen Jahrhunderts aufgrund technischer Innovation und herrschaftsadministrativem Bedarf eine Überwachungsinfrastruktur herausgebildet hat, gegenüber der Orwells Vision von "1984" als technisch anspruchslose Vorstudie erscheinen muss. Auch ist dies, jenseits einzelner nationaler und kultureller Variationen, ein Vorgang im internationalen Maßstab.
Objektiv gesehen leben wir in einer Gesellschaft, die sich aus einer kaum noch zu überblickenden Vielfalt kleiner und großer Überwachungssysteme zusammensetzt, die je nach Umstand, Reichweite und Kostspieligkeit von staatlichen Stellen, Wirtschaftsunternehmen oder Privatpersonen betrieben und genutzt werden. Angesichts dieses über die Gesellschaft ausgeworfenen Kontrollnetzes scheint der 'gefühlte' Überwachungsgrad, also der subjektive Eindruck der Bürger, Gegenstand von Kontrolle, Aufsicht und Regulation zu sein, merkwürdig schwach auszufallen: Paranoia kommt hin und wieder vor, bleibt aber in der Regel individuell; (politischer) Widerspruch und Reaktion artikuliert sich nur in Nischen und von den Rändern. Die Mehrheit scheint nach dem Motto zu leben: "Big Brother is watching you" - na und?
Warum, so kann man fragen, verhallt der periodisch wiederkehrende Warnruf vor der 'Totalüberwachung' immer öfter ohne Resonanz? Weshalb ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Ressentiment gegen den Überwachungsstaat, wie es zu Zeiten des Volkszählungsboykotts bis in die gutbürgerlichen Schichten hinein zu finden war, kaum noch mobilisierbar?
Die durch Globalisierungseffekte, mediale Kriminalitätskampagnen und vielfältigen Ungewissheiten eines deregulierten Marktkapitalismus erzeugten objektiven wie subjektiven Unsicherheiten tragen jeweils in bestimmten Maße dazu bei, dass Überwachungssysteme zunehmend als Schutz- und Ordnungsinstrumente und seltener als noch vor wenigen Jahren als Belästigungs- und Bedrohungspotential für bürgerliche, individuelle wie kollektive Freiheitsrechte wahrgenommen werden. Übersehen werden darf auch nicht, dass, jenseits allen technischen Wunderwerks der neueren Systeme und Verfahren, Überwachung ein weit verbreitetes Element sozialer Ordnung und Herrschaft, schlicht eine lang bekannte soziale Tatsache ist.
Was ist Überwachung?
Überwachung ist eng mit dem Begriff der Kontrolle verknüpft: Kontrolle kann im Kern als der Vorgang bezeichnet werden, bei dem ein Sollwert mit einem (verfügbaren) aktuellen Istwert verglichen wird, gegebenenfalls einen korrigierenden Eingriff nach sich ziehend. Kontrolle setzt daher die Idee von einer gewollten Ordnung sowie den Willen zu ihrer Realisation voraus. Obwohl manchmal synonym verwendet, sollten 'Kontrolle' und 'Überwachung' begrifflich auseinandergehalten werden. Der (semantische) Unterschied liegt darin, dass der Begriff der Überwachung den zeitlichen Verlaufsaspekt hervorhebt: Überwachung kann demnach als eine zeitlich und logische miteinander verbundene Abfolge einzelner Kontrollakte aufgefasst werden. Ist somit der prozessuale Akzent des Begriffs betont, so muss noch auf den relationalen Charakter hingewiesen werden: Überwachung ist (wie soziale Kontrolle auch) in der Regel von einer asymmetrischen Beziehung von Überwachenden und Überwachten gekennzeichnet - es ist in der Regel ein hierarchisches Verhältnis vorgegeben zwischen denjenigen, die überwachen, und jenen, die überwacht werden.
Diese Interaktion muss nicht in jedem Fall negativ konnotiert, beziehungsweise mit (latentem) Konfliktpotential aufgeladen sein. Das Grimmsche Wörterbuch verzeichnet für das Wort 'überwachen' neben der Bedeutung als kontrollierender Handlung interessanterweise auch die sorgende des 'über-wachens', d.h. des 'länger Wach-Seins': der Erwachsene begleitet schützend das Einschlafen des Kindes. Außer der reglementierenden, einschränkenden und sanktionsbereiten Variante des Überwachens, der zweifellos vorherrschenden Form, existiert - unter anderem Vorzeichen also - noch die ursprünglichere, 'gütige' Variante.
Zu unterscheiden ist auch zwischen der Überwachung technischer Geräte (beziehungsweise mechanisierter und automatisierter Abläufe) und der Überwachung im sozialen Kontext - der gezielten und auf Dauer gestellten Kontrolle von Individuen, Gruppen, Organisationen, größeren sozialen Verbänden. Im sozialen Bereich bezieht sich die überwachende Aktivität stets auf sicht- und deutbares Verhalten in spezifischen Kontexten. In Frage steht dabei eine Handlung an und für sich oder aber die Aktion als Indikator für Eigenschaften oder mentale Dispositionen, die wiederum in Verbindung zu bestimmten, (un-)erwünschten Handlungen gebracht werden können. Darüber hinaus kann auch eine (für andere erschließbare) Eigenschaft wie Identität beziehungsweise Zugehörigkeit zu einer sozialen Kategorie Gegenstand von Überwachung sein.
Überwachende Aktivitäten spielen sich in einem sozialen Kontinuum ab, das von der gütigen und nützlichen Überwachung im Konsens, vielleicht sogar zum gegenseitigen Nutzen, über die proaktive Bearbeitung von Konflikten im Vorfeld bis zum Pol der repressionsbereiten Einschüchterung reicht. Überwachung zielt dabei immer auf die präventive Abwendung der Abweichung vom Sollwert und auf die Vermeidung der Realisierung von Konflikt und Risiko ab: wenn Überwachung aufhört zu funktionieren, beginnt die offene Auseinandersetzung, bisweilen der Kampf. Überwachung dient der Aufrechterhaltung des Status quo, nicht der ergebnisoffenen Veränderung. Überwachung kann daher als Herrschafts- und Regulierungsstrategie verstanden werden, die im Interesse des Status quo herrschende Ordnung(en) präventiv sichern und notwendige Zwangsinterventionen auf ein Minimum reduzieren will.
In ihrer inneren Mechanik fußen kontrollierende Überwachung und überwachende Kontrolle unabhängig vom Grad der technischen Mediatisierung auf drei miteinander verschränkten Teilelementen. Dazu zählt die Erhebung von Information, bezogen einerseits auf einen Abgleich von Soll- und Istwert, andererseits auf die (wie auch immer legitimierte) herrschaftliche und durchsetzungsmächtige Einforderung einer in eine Gesamtordnung eingebetteten Verhaltensnorm; die systematische Verarbeitung dieser Information in einem Referenzsystem (Informationen über Normverstöße müssen mit Daten zur Identifikation und Lokalisierung von Personen in Verbindung gebracht werden); sowie die Entscheidungen über eine notwendige Intervention sowie deren Veranlassung und Durchführung (verschiedene Sanktionen: direkter, auch körperlicher Eingriff, Festnahme, Anklage, Vorteilsentzug, Übelzufügung etc.).
Die konkrete Gestalt von Überwachung in einer Gesellschaft hängt zuletzt von dem Grad der (herrschaftlichen) Dringlichkeit von Ordnung sowie den historisch zur Verfügung stehenden Ressourcen und Instrumenten ab.
Überwachung in der hypermodernen Gesellschaft
Die Vorstellung, dass der Mensch als Einzelwesen oder auch als Kollektiv 'überwacht' wird (oder werden kann), ist wesentlich älter als "1984" und tief in der abendländischen Kultur verwurzelt. Das christliche Bild eines allwissenden, weil alles sehenden Gottes ist die religiöse Variante einer umfassenden prüfenden Beobachtung, die, dies nicht unwichtig, bei Begehung von Missetaten konsequenzenreiche Sanktionen erlaubt.
In der Aufklärung des 18. Jahrhunderts hat sich diese Vision einer generalisierten Überwachung im architektonischen Prinzip des Panopticons niedergeschlagen. Der englische Philosoph Jeremy Bentham hatte den Plan einer Gefängnisanstalt entworfen, in der von einer zentrale Warte aus alle Insassen in ihren einzelnen Zellen jederzeit beobachtet werden konnten, ohne dass diese selber den Moment des kontrollierenden Blick wahrzunehmen in der Lage wären. Den Überwachten, über das tatsächliche Entdeckungsrisiko von Devianz im Ungewissen schwebend, so die Überlegung Benthams, würde nichts anderes übrig bleiben, als sich konform zu verhalten, um einer möglichen Sanktion zu entgehen. Sie wären erfolgreich diszipliniert.
Dieses Panopticon ist in Reinform nie gebaut worden, aber wie Michel Foucault1 gezeigt hat, kommt es darauf auch gar nicht an: Das Prinzip des Panopticons - beobachten zu können, ohne dass der Beobachter bei seiner Beobachtung selbst beobachtet werden kann, und der damit zu erzielende disziplinierende Effekt - ist als Rationalisierungsmittel von Macht und Herrschaft in vielerlei Gestalt genutzt worden. Im 21. Jahrhundert bedient sich die Logik der Disziplinierung nicht mehr der Inquisition oder des Drills, sondern des subtileren Arsenals moderner Überwachungssysteme. Während aber das Panopticon noch ausschließlich auf dem ursprünglichen Wahrnehmungskanal des Überwachens, der unmittelbaren visuellen Erfassung, dem Sehen, fußte, stellt die Ingenieurskunst der Überwachung heute weitere Einfallstore zur Verfügung: die Rede ist vom "Superpanopticon"2.
In der populären Kunst ist diese Entwicklung schon 1984 von der Gruppe 'Police' (sic!) im inzwischen klassischen Hit 'Every Breath You Take' zum Ausdruck gebracht worden. Eigentlich wird in dem von Sting geschriebenen Song die Obsession und Eifersucht eines Verlassenen thematisiert, jedoch lassen sich die der begehrten Person 'angedrohten Aufmerksamkeiten' problemlos mit den neuen, technisch avancierten Möglichkeiten des Überwacht-Werdens in Zusammenhang bringen3:
Auch wenn es nicht die ursprüngliche Botschaft des Künstlers gewesen sein mag, so verweist dieser Liedtext in verblüffender Weise auf die technisch-apparative Vielfältigkeit, mit der in der technischen Zivilisation unserer Tage Eigenschaften und Verhalten einer Person im Bedarfsfall kontrolliert und für einen externen Beobachter transparent gemacht werden können. Zweifelsohne ist das Spektrum denk- und verfügbarer Überwachungssysteme durch die Revolution der Produktivkräfte erheblich erweitert worden.
Die Fülle einsetzbarer Technologien und die Bandbreite ihrer Anwendungsmöglichkeiten ist nur noch mit Mühe zu überblicken.4 Es gibt mehrere Ansätze, dieses mehrdimensional strukturierte Feld zur besseren Orientierung zu sortieren und zu analysieren. Ein Weg geht dabei über die Zuordnung auf Unterfunktionen des komplexen Gesamtvorgangs Überwachung. In dieser Hinsicht wären Technologien, deren Kernfunktion die Alarmierung bei 'Störungen' des Systems bzw. die 'Entdeckung' von Normverstößen ist (sie sollen hier als Detektionstechnologien bezeichnet werden), zu unterscheiden von solchen, deren Primärzweck jeweils in der Identifizierung, der Ortung (Lokalisierung) bzw. der Informationstransformation gesehen werden kann.
Kommunikationsbezogene Detektion
Ein in gewisser Hinsicht traditioneller, durch technische Möglichkeiten aber immens ausgedehnter Bereich von aufdeckender Überwachung ist die verdeckte Beteiligung Dritter an Kommunikation. Von den technischen Voraussetzungen her ist es möglich geworden, nahezu jede Form der nicht öffentlich adressierten Mitteilung zugänglich zu machen, ganz gleich, ob es sich dabei um verbalen oder datenmediatisierten Austausch handelt. Gespräche können über leistungsfähige und miniaturisierte Mikrophone auch über größere Distanzen hinweg erfasst und aufgezeichnet werden; dies gilt erst recht für alle Arten der Telekommunikation.
Ein vorläufiges Hindernis für die totale Kommunikationsüberwachung stellen einerseits die in gigantischem Ausmaß anfallenden Mengen dar, andererseits Versuche, über den Einsatz von kryptographischen Instrumenten unerwünschte Dritte vom Zugang zum Kommunikationsinhalt fernzuhalten. Dem ersten Problem versuchen die Überwachungsinstitutionen per Automatisierung zu begegnen (z.B. durch Wortfilter, Sprechererkennung). Die Verschlüsselungsfrage wird, wenn nicht mittels überlegener Rechnerkapazität, dann per Gesetz und administrativer Verordnung zu bewältigen versucht.
Datenbezogene Detektion
In einer weitgehend durchinformatisierten Welt, in der Individuen und Unternehmen einen weit verzweigten, oft beredten Datenschatten hinter sich herziehen, kann sich Überwachung, gestützt auf die Informationsverarbeitungskapazität moderner Rechneranlagen, auch auf die Kontrolle von Datenströmen in den diversen Netzen konzentrieren.
Was vor einigen Jahren als (kriminalpolizeiliche) Rasterfahndung debattiert worden ist, wird nunmehr in abgewandelter Form unter anderem zur Überwachung von finanziellen Transaktionen benutzt. So überprüfen die großen Kreditkartenunternehmen anhand der eingehenden Daten das Einkaufsprofil ihrer Kunden auf Inkonsistenzen, um frühzeitig Diebstahl oder anderen Missbrauch zu entdecken. In ähnlicher Weise versucht die US-amerikanische Finanzbehörde im Verbund mit dem FBI verdächtigen Finanztransaktionen, hinter denen sich der Tatbestand der Geldwäsche verbergen könnte, auf die Spur zu kommen. Allerdings unterliegen auch immer mehr Unterstützungsempfänger von staatlichen Sozialleistungen bei routinemäßigen Berechtigungsüberprüfungen dieser Form der 'Datenkontrolle'.
Substanzanzeigende Detektion
Die Aufdeckung und Anzeige von risikobehafteten Substanzen ist ein anderer wachsender Bereich detektiver Überwachung. Durch enorme technische Fortschritte kann heute nahezu jede beliebige Substanz auch in geringsten Mengen aufgespürt werden. Im Zentrum steht dabei die Suche nach qualitativ recht unterschiedlichen Materialien wie Metall (Waffen), Sprengstoffen und Drogen, die allesamt als risikoreich und damit überwachungsbedürftig eingestuft werden. Die Instrumente reichen dabei von Anlagen, in denen ganze Container durchleuchtet werden können, über die bekannten Detektor-Portale, die in Flughäfen und vielen US-amerikanischen Schulen zu finden sind, bis hin zu handlichen Kleingeräten, die sich zum Nachweis legaler oder illegaler Rauschmittel eignen.
Insbesondere der offizielle (aber wenig effektive) Krieg gegen die Drogen wird mit innovativen, aber auch äußerst zudringlichen Mitteln geführt. Routinemäßige Drogentests gehören in Schulen, Betrieben und Büros der Neuen Welt schon zum Alltag und der britische Drogenbeauftragte denkt neuerdings laut darüber nach, ob demnächst an britischen Flughäfen die Flugtickets der Passagiere auf Rückstände von Heroin, Kokain, Cannabis und Ecstasy überprüft werden sollten.(5) Vergessen werden darf in diesem Zusammenhang aber auch nicht die Überwachung von Emissionen im Umweltschutz.
Ereignisbezogene Detektion
Im Bereich der ereignisgerichteten Überwachung lassen sich zwei Bereiche grob unterscheiden. Da sind zum einen die indikatorischen Techniken und Systeme, die die bloße (unerwünschte) Veränderung eines definierten Zustandes mit Hilfe diverser Sensorik anzeigen und (ggf. alarmierend) auf eine mutmaßliche Gefährdung verweisen. Dazu zählen die klassischen Einbruchsmeldeanlagen für Haus und KFZ, aber auch Grenzsicherungen im Freiland sowie Rotlichtkameras und Radarfallen. Systeme, die das Abfeuern von Schusswaffen und den Ort in die Polizeistation melden, sind in einigen US-Städten eine neue Spielart dieser Kategorie.
Zum anderen fallen darunter die szenisch-panoptischen Instrumente, das heißt solche Technologien, die mehr oder weniger komplexe Interaktionen dem interessierten Beobachter visuell erschließen. Die Überwachungskamera ist das Symbol dieser Form der ereignisbezogenen Detektion geworden - man sollte aber auch nicht Wärmebildgeräte, Röntgenapparate und Satelliten vergessen, mit denen es möglich geworden ist, die Hürden von räumlicher Distanz, Dunkelheit und Verdeckung für den Beobachter zu überwinden. Zweifellos nimmt die Videoüberwachung eine Sonderstellung ein, da sie als "Fern-Sehen" einerseits zu einer Art in die Zivilisation eingebetteter Kulturtechnik geworden ist, andererseits sich auf den primären Überwachungssinn, die Sicht, stützt. Überwachungskameras, deren Installation sich anfangs selten über die Schwellen von Banken oder Kaufhäusern hinaus wagten, erobern inzwischen blitzartig auch den öffentlichen und paraprivaten Raum.
Es dürfte sich herumgesprochen haben, dass Großbritannien in den urbanen Zentren ein nahezu flächendeckendes Netz von Überwachungskameras unterhält. Mehrere 100 Millionen Pfund sind in den 90er Jahren aus öffentlichen Haushalten und privaten Mitteln investiert worden. Ein Ende dieser Entwicklung ist noch nicht abzusehen. Auch wenn nach kriminologischen Begleituntersuchungen die Resultate in Hinblick auf mehr Sicherheit eher ambivalent als eindeutig ausfallen5, so gilt Videoüberwachung inzwischen nicht mehr so sehr als das Auge des Großen Bruders, sondern wird nun auch in den USA sowie neuerdings in Deutschland als eine Art Königsweg zur Bewahrung von öffentlicher Ruhe und Ordnung auf die politische Tagesordnung gesetzt.
Die Systeme der neuen digitalen Generation leisten inzwischen aber weit mehr als nur die bloße Verlängerung des Auges des Beobachters. Über zwei Entwicklungspfade ist man dabei, die traditionelle Überwachungsarbeit zu revolutionieren: die automatisierte Gesichtserkennung von Personen in Menschenmengen sowie die algorithmengestützte Alarmierung bei gefahrenverheißenden Szenen.
Seit 1998 wird von der Polizei des East-Londoner Stadtteils Newham offiziell mit videogestützter Gesichtserkennung gearbeitet - mit mäßigem Erfolg -; auch einige Geschäfte in der britischen Hauptstadt greifen inzwischen schon zum Schutz gegen Ladendiebe auf ein solches Verfahren zurück. Die langjährigen und teilweise von der EU finanzierten Experimente mit der computergestützten Interpretation von Live-Szenen scheinen inzwischen so weit gediehen zu sein, das erste Feldversuche gewagt werden können: Ladendiebe sollen in ihren Bewegungsmustern angeblich ebenso typisch von gesetzestreuen Bürgern zu unterscheiden sein wie Autodiebe oder Lebensmüde, die sich auf die Gleise der U-Bahnstation stürzen wollen. Ein Computerprogramm 'interpretiert' die Videoaufnahme nach den Vorgaben von typisch normalem und verdächtigem Verhalten und löst ggf. einen Alarm aus, der die Aufmerksamkeit des Beobachters in der Überwachungszentrale auf sich zieht. So sollen Straftaten schon im Stadium der Anbahnung verhindert werden können.6
Identifizierung
Im Bereich der Identitätsfeststellung zeichnet sich ab, daß rein ausweis- bzw. kartenbasierte Systeme durch biometrische Verfahren ergänzt, in naher Zukunft sogar weitgehend ersetzt werden. Die 'Erkennung' individualisierender körperlicher Merkmale einer Person durch maschinelle Algorithmen ist weit vorangekommen und hat diverse Technologien auf den Markt gebracht, die sich sowohl zur lokalen Zugangskontrolle als auch für eine populationsweite Erfassung eignen.
AFIS-Systeme mit Verarbeitungskapazitäten für Fingerabdrücke im Millionenbereich gehören inzwischen zur Standardausrüstung vieler nationaler Polizeibehörden. Daneben werden auch immer häufiger Verfahren, die auf den individuellen Charakteristika von Stimme und Auge basieren, als Zugangsfilter im alltäglichen Verkehr etwa mit Banken oder auch Behörden eingesetzt werden. Im forensischen Bereich wird dagegen die DNA-Analyse ("genetischer Fingeradruck") weiter perfektioniert und in industriellen Größenordnungen ausgebaut. Bis Mitte 1999 hat es beispielsweise in England und Wales bereits 120 Massenuntersuchungen gegeben, bei denen durchschnittlich 4000 Proben genommen wurden. Forderungen nach einer prophylaktischen Probenabgabe aller männlichen Erwachsenen einer Population, sind die logische Folge und in Großbritannien schon erhoben worden.7
Ortung
Das Aufspüren, Verorten und unbemerkte Verfolgen von Sachen und Personen (Lokalisierung) ist im Zeitalter des 'tagging' und weltumspannender Satellitensysteme zu einer effektiven Option für staatliche, aber auch kommerzielle Überwachungsagenturen geworden. Den technisch-funktionellen Kern von Ortungssystemen zur Bestimmung des Aufenthalts von Personen oder Gegenständen bildet in der Regel eine Kombination von (elektronischer) Sender- und Empfängereinheit, deren Signale überwiegend per drahtloser Verbindung übertragen und an ein Auswertungs- bzw. Anzeigegerät (Computer) weitergeleitet und dort verarbeitet und aufbereitet werden können. Mit den entsprechenden technischen Vorkehrungen lassen sich zum Beispiel Drogentransporte ebenso wie Speditionsfahrzeuge 'in Echtzeit' verfolgen.
Eine Variante dieses Ortungsprinzips ist die 'elektronische Fußfessel', die als Mittel zur Überwachung des als Sanktion verhängten Hausarrestes weite Verbreitung gefunden hat und nun nach den USA, Kanada und europäischen Staaten wie Schweden, Großbritannien und den Niederlanden jetzt - wenn zunächst auch nur probeweise - in den bundesdeutschen Strafvollzug eingeführt wird.8
Generelle Tendenzen
Es kann erwartet werden, dass es in der nahen Zukunft weitere Innovationen im Bereich der Überwachungstechnologie geben wird, insbesondere solche, die sich eine weitere Miniaturisierung der Bauteile zu Nutze machen sowie jene, die verschiedene 'Überwachungskanäle' verbinden (z.B. Kombination von Aufenthaltskontrolle und Drogentest). Soziale Kontrolle und Disziplin könnten am Ende des Jahrhunderts aber auch schon eine Angelegenheit von Gentechnologie und Biomechanik geworden sein. Bis dahin werden automatisierte staatliche Lauschsysteme und flächendeckende Videoüberwachung im öffentlichen und paraprivatem Raum das beherrschende Thema abgeben, gekoppelt mit der Zurkenntnisnahme der raschen Ausbreitung von biometrischer Zugangskontrolle, auch an Orten mit geringem Risiko, einem Boom von Ortungssystemen für Personen und Fahrzeugen sowie dem Entstehen einer Kleinindustrie der Drogendetektion.
Ohne Zweifel ist von der technischen Seite her eine neue Qualität und Intensität der Überwachung möglich geworden, die vor 100, 50 oder 25 Jahren noch allenthalben Paranoia, zumindest aber Unheimlichkeitsgefühle und ernste Sorgen um historisch errungene Freiheitsrechte erzeugt hätte. Die gute Nachricht dabei ist: Nicht alles, was technisch denk- und machbar ist, wird auch für den Markt produziert; und nicht alles, was auf dem Markt an Überwachungstechnik angeboten wird, wird auch in nennenswerten Umfang nachgefragt, erworben und eingesetzt. Selbst dann noch können Funktions- und Zuverlässigkeitsprobleme sowie unvorhergesehene Neben- und paradoxe Wechselwirkungseffekte die Durchschlagskraft und Nachhaltigkeit von Überwachung beeinträchtigen.
Andererseits sollte man sich keine Illusionen machen: Soziale Kontrolle im Allgemeinen und zielgruppenspezifische Überwachungsmuster im Speziellen verändern sich anscheinend unaufhaltsam in eine Richtung: Sie werden immer öfter technisch vermittelt und trotz rechtlichem Daten- bzw. Persönlichkeitsschutz intrusiver.
Hyperkomplexe Gesellschaften, die sich im 21. Jahrhundert auf lokaler, regionaler, nationaler und globaler Ebene zu organisieren und zu arrangieren haben, erzeugen zwangsläufig einen hohen Bedarf an Regelungen und Vereinbarungen - vorab und unabhängig von Partikularinteressen und Herrschaftsanmaßungen von Governance-Eliten. Wenn Regeln etabliert werden, sei es nun im verständigem Konsens, sei es in machtbewehrter Durchsetzung gegen Widerstand, wird zugleich das Risiko von Übertretung und Bruch eben dieser Norm miterschaffen. Im erfahrungsgesättigten Wissen um diese essentielle Unsicherheit von Ordnung hat die Moderne sich der Prävention, des frühzeitigen absichernden Einschreitens, zu bedienen versucht. Überwachung dort zu institutionalisieren, wo die Gefährdungswahrscheinlichkeit groß ist, ist nur die logische Konsequenz aus dieser Philosophie.
So viel zur Seite der systemimmanenten 'Notwendigkeit' von Überwachung. Im Konkreten der Gesellschaft haben wir es dann weniger abstrakt mit jenen zu tun, die sich Kontrolle und Überwachung zur eigenen Sache machen: nach Außen im Namen und zum Nutzen und Wohle der Überwachten, im Selbstverständnis um den Erhalt der Ordnung willen, im Stillen aber auch ein klein wenig für die Reputation der Organisation für sich und die eigene Aufgabe und Bedeutung darin. Da gibt es die Regierenden und ihre Exekutive - an vorderster Front die Polizei in all ihren Schattierungen vom Schutzmann bis zum Agenten. Einen immer größeren Anteil daran nimmt auch die Sicherheitsindustrie, die mit Warenproduktion und Dienstleistung die Infrastruktur der verschiedenen Überwachungsnetze beliefert. Nicht zuletzt sind da noch die diversen Zusammenschlüsse wehrhafter Bürger, die die Ordnung als die ihnen zugeteilte verteidigen wollen. Sie alle sorgen mit Hilfe avancierter Technik für eine neue, den komplexen gesellschaftlichen Verhältnissen (und Konflikten) vermeintlich besser angepasste Ideologie von Risikomanagement und Sicherheitsstrategie: mehr Proaktivität und Prävention statt nachträgliches und repressives Strafverfolgen, mehr Vorfelderkundung und Informationsvorsorge, stärkere Konzentration auf die deviante Situation und den oder die Täter statt auf Tat, Schuld und Strafe, wie es noch nach traditionellem juristischen Verständnis ginge. Mehr und ausgefeiltere Überwachungssysteme sind der Schlüssel, der diesen Weg überhaupt erst gangbar macht.
Wir werden alle überwacht: Veralltäglichung der vielen Kleinen Schwestern
Was aber ist mit denen, die mehr oder weniger freiwillig Gegenstand der Überwachung sind bzw. werden? Ist Überwachung nicht im allgemeinen Interesse - und damit auch zu ihrem eigenen Wohl? Wo hört der Zumutbarkeitsgrad auf und wann wird die Überwachung selbst zu einem Problem? Ab welchem Punkt verwandelt sich das unangenehme Gefühl, immer wieder misstrauisch beobachtet und geprüft zu werden, in Gleichgültigkeit, ja Akzeptanz?
Überwachungssysteme zielen im allgemeinen auf bestimmte Territorien und spezifische Populationen. Von ihnen erfasst zu werden, hängt also davon ab, ob der eigene oder kollektive Lebensweg bzw. -stil in eine vordefinierte Risikokategorie fällt. Gegen die Bestimmungen des Strafrechts verstoßen zu haben oder sich politisch jenseits der bedrängten Mitte zu engagieren erhöht die Wahrscheinlichkeit enorm, von einer oder mehrerer der mit Überwachung beauftragten Instanzen erfasst zu werden. Hierbei handelt es sich sozusagen um ausgemachte 'Hochrisikopopulationen'.
Unterhalb dieser offiziell anerkannten notorischen Delinquenz gibt es aber eine Reihe weiterer Kriterien, die für das Überwachtwerden qualifizieren: Diese korrespondieren einfach mit der Mannigfaltigkeit der unterschiedlichen sozialen Rollen und zahlreichen situationsbedingten Gelegenheiten zur Devianz.
- Als Autofahrer hat man sich der Rotlichtkamera sowie der Radarfalle zu fügen und warum sollte nicht auch in PKWs ein Fahrtenschreiber eingebaut werden? Die Satellitenortung von LKWs dient zwar in erster Linie dem effizienteren logistischen Einsatz, aber so lässt sich schließlich auch ein gestohlenes Fahrzeug einfacher wieder auffinden;
- Arbeiter und Angestellte stehlen ihrer Firma oder Behörde vielleicht nur ab und zu eine Minute der bezahlten Arbeitszeit, gelegentlich einen Bleistift und manchmal auch mal mehr. Warum sollte es da der Sachbearbeiter im Büro besser haben als die Kassiererin im Supermarkt, die streng, auch von Videokameras,bei ihrer Arbeit beobachtet wird? Und was, bitte schön, ist gegen regelmäßige Drogentests von Busfahrern, Lokführern und Piloten einzuwenden?
- Mit der zunehmenden Vernetzung der Computer wächst das Risiko von Virenanschlägen auf die Systeme und nationale Gesetze werden durch die Möglichkeiten des Internets ausgehebelt. Ist da nicht eine radikale Entanonymisierung der User und der Bau von Email-Überwachungszentralen, wie jetzt in Großbritannien in Angriff genommen, das Gebot der Stunde? Schreit die angebliche Unbeherrschtheit des Internets nicht geradezu nach kühnen Überwachungsanstrengungen?
- Wenn sich mit relativ einfachen Mitteln wie der elektronischen Fußfessel der Aufenthaltsort von Personen bestimmen lässt, warum dann nicht Kleinkinder oder orientierungsbehinderte Senioren und Seniorinnen damit versehen?
- Feministinnen wissen seit langem, dass in jedem Mann ein potenzieller Vergewaltiger stecken kann, und der virtuelle wie sexuelle Missbrauch von Kindern geht immer wieder als Skandal durch die Presse. Eine prophylaktische Abgabe von DNA-Proben aller männlicher Einwohner könnte dieses Problem eindämmen helfen. Darüber hinaus kann per Internet der überführte Täter von nebenan für alle zur Mahnung bekannt gemacht werden.
- Als Konsument sind wir schon lange daran gewöhnt, als vergesslichkeitsgefährdete Kunden durch Warensicherungsportale zu gehen und von Videokameras aufgezeichnet zu werden. Was ist prinzipiell anders, wenn die Videokamera nun auch in Bahn und Bus sowie auf öffentlichen Wegen über uns wacht, wo doch die Angst vor 'Straßenkriminalität' gerade unter älteren Mitbürgern besonders hoch ist und insbesondere junge Menschen als Täter und Opfer zugleich gefährdet sind?
So gesehen, gibt es kaum eine soziale Rolle, in der man nicht auch als Überwachungsobjekt taugt - dies gilt in (zu differenzierender) Weise für Arm und Reich, Jung wie Alt, Mann und Frau. Am Ende ist jede/r potenziell verdächtig oder gefährdet - beides macht sicherheitsorientierte Überwachung, wenn irgend machbar, zu einer ultimativ 'vernünftigen' Option. Obwohl es Skepsis gegenüber den Segnungen und intendierten wie nicht intendierten Folgen ausgedehnter Überwachungssysteme gibt, wird sie immer öfter auch von den Skeptischen billigend oder ignorant in Kauf genommen. Mit der epidemieartigen Ausbreitung von Mobiltelefonen sorgen die kleinen und großen Bürgerinnen und Bürger beispielsweise gar selber dafür, dass nicht nur der Zugriff auf ihre Telekommunikation durch autorisierte (oder auch nur dazu fähige) Instanzen im Fall der Fälle sicher gestellt ist, sondern auch ein jeder mit einem Peilsender versehen ist, über den sich sein Aufenthaltsort unter bestimmten Umständen erschließen bzw. nachverfolgen lässt.
Es ist dabei nicht mehr nur die eine mächtige Zentralinstanz (für die lange Zeit der Staat (zu Recht) stand), die sich über ihre exekutiven Organe der durch Technisierung erheblich erweiterten Möglichkeiten sporadischer und permanenter Überwachung bedient. Technische Überwachungssysteme nutzen nun auch die Subzentren sozialer Macht immer extensiver: Konzerne, mittlere Unternehmen, kleine Geschäftsleute und nicht zuletzt auch die (bessergestellten) Bürger selbst.
Der ursprünglich als zentrale Staatsveranstaltung gedachte 'Big Brother' hat sich zellgeteilt und ist in die Gesellschaft zurückgekehrt. Statt, wie im Benthamschen Panopticon zentrisch angeordnet, organisiert sich Überwachungsmacht heute auf mehreren Ebenen über viele größere und kleinere Netzknoten, die teils staatlich, teils besitz- und eigentumsnützlich und in einigen Fällen auch privatbürgerlich verfasst sind. Zum vielbeschworenen Polizei- und Überwachungsstaat gesellt sich nun die entliberalisierte Kontrollgesellschaft. Die vielen einzelnen, oft dezentralisierten Kontroll- und Überwachungssysteme - jede für sich allem Anschein noch sozial beherrschbar - sind dabei, sich zu einer Überwachungordnung neuer Qualität zu verdichten, die sich vor allem durch ihre technische Mediatisierung von bisherigen historischen Überwachungsordnungen unterscheidet.
Dank technischer Erfindungsgabe, explodierenden Produktivkräften und auch finanzstarkem Verwertungsinteresse vollzieht sich dieser Prozess in einem atemberaubenden Tempo. Schon wächst heute eine komplette Generation von Kindern wie selbstverständlich überwacht auf: Das Babyphone zur akustischen Überwachung gehört genauso dazu wie mancherorts die Web-Kamera im Kindergarten oder der Schule. Und die Sicherheitsindustrie hat längst entdeckt, dass man nicht nur Straffällige mit Ortungssystemen ausstatten kann, sondern auch entführungsgefährdete Babys, quengelige Kinder beim Einkauf und allzu unternehmungsfrohe Teenager.
Gegenwärtig scheint ein signifikanter Widerstand als Reaktion auf diese Entwicklung, wie beispielsweise der Volkszählungsboykott der frühen 80er Jahre, eher unwahrscheinlich zu sein - unwahrscheinlich auch deshalb, weil Unterhaltungssendungen wie 'Big Brother' die fortgeschrittene kulturelle Akzeptanz der ungestraften Überschreitung von sozio-kulturellen Privatheits- und Zivilisationsschranken anzeigen.
Paradoxerweise ist Überwachung in einer zunehmend individualisierten Gesellschaft nicht mehr allgemein negativ besetzt - im Gegenteil, die Forderung nach mehr Überwachung (zum Beispiel per Video auf öffentlichen Straßen und Plätzen) wird unter dem Versprechen von 'mehr Sicherheit' auch von vielen der potenziell Überwachten gut geheißen, weil sie sich in der Bilanz einen subjektiven Sicherheitsvorteil versprechen.
Die Informatisierung der Alltagsbeziehungen sowie die Vielfältigkeit der Kontrollprozeduren, denen wir unterliegen, führen im Verein mit der Hypertechnisierung unserer Zivilisation dazu, dass das Skandalierungspotential der 'Big Brother'-Metapher rapide abnimmt. Solange sich Überwachung für eine große Mehrheit als zwar lästig und bisweilen störend, vorläufig aber nicht wirklich gefährlich darstellt, wird sie als neuer trivialer Bestandteil von Alltag akzeptiert werden. Allerdings ist anzunehmen, dass diese Akzeptanz rasch erodieren wird, wenn der gesellschaftliche Herrschaftskonsens durch politökonomische Entwicklungen nachhaltig erschüttert wird und Überwachung wieder deutlicher als das hervortritt, was sie ist: ein technokratischer Versuch Konflikte zu managen, statt sie politisch zu lösen.
Unterschätzen wir aber nicht den Frosch - er merkt vielleicht doch noch zur rechten Zeit, was sich anbahnt und wie ihm geschieht.