Der Kampf um Veränderung und Vielfalt
- Der Kampf um Veränderung und Vielfalt
- Anhang: Kurze Biographie und ausgewählte Publikationen (Englisch)
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Warum die "digitale Revolution" nicht alles über Nacht verändern wird und warum die Veränderungen nicht überall gleich sein werden.
Interview mit Geoffrey M. Hodgson
In den frühen achtziger Jahren machte Geoffrey M. Hodgson, Professor für Wirtschaft an der Universität von Northumbria, UK, einen intellektuellen Wandel durch. Aus jemandem der "kritisch mit dem Marxismus sympathisierte" wurde ein Institutionen-Ökonom. Rückblickend erweist sich dieser Wandel als von guter Voraussicht getragen. Aus der Perspektive der Neoklassischen Ökonomie ist die Institutionen-Ökonomie ein winziger, aber häretischer Zweig und bis vor kurzem erschien sie auch reichlich verstaubt. Seit 1989 aber und mit der zunehmenden Bedeutung der von Kommunikationstechnologien hervorgerufenen Veränderungen, gewinnt diese Denkrichtung immer mehr Relevanz. Der Einfluß neuer Technologien ist nicht in allen Ländern gleich und führt zu verschiedenen Ausprägungen. Institutionsökonomen sehen den Grund dafür in den historisch unterschiedlich verankerten institutionellen Umgebungen. Die Rolle von Institutionen hilft auch zu erklären, warum die "digitale Revolution" nicht über nacht alles schlagartig verändern wird. Hodgson hat mit seinen Büchern dazu beigetragen, aus einem Seitenzweig eine relevante Richtung in der zeitgenössischen Wirtschaftstheorie zu formen. Telepolis präsentiert Geoffrey Hodgson mit einem einstündigen Interview, abgehalten in seinem Büro am Judge Institute of Management Studies, Universität Cambridge.
Warum sind Institutionen so wichtig?
Geoffrey Hodgson: Institutionenökonomen vertreten die Ansicht, daß die gesellschaftliche Wirklichkeit weitgehend aus Institutionen besteht: Sie sind der Stoff der gesellschaftlichen Existenz. In einer komplexen und vielseitigen Welt können durch Institutionen Verhaltensnormen geschaffen, Verhaltensregeln festgelegt und dadurch Erwartungen der Menschen hervorgerufen werden. Ohne Institutionen befänden wir uns buchstäblich im Chaos.
Ist also das Internet eine Institution wie jede andere auch?
Geoffrey Hodgson: Mit Definitionen müssen wir hier vorsichtig umgehen. Verschiedene Theoretiker definieren Institutionen auf leicht unterschiedliche Weise, ich denke jedoch, daß die für mich akzeptable Definition ganz allgemein und weithin akzeptiert ist. Institutionen sind Gewohnheiten und Verhaltensweisen, die einer Gruppe von Menschen gemein sind, die eine technologische Ausrichtung haben oder nicht und die eine Organisationsform haben oder nicht. Einige Institutionen sind zugleich Organisationen - bei Banken oder Universitäten handelt es sich um Institutionen dieser Art. Neben solchen Organisationen gibt es jedoch weitere Institutionen, wie Sprache, Gesetz, Tischmanieren und Verkehrsregeln.
Diesen Kriterien zufolge können wir auch das Internet als Institution, als etabliertes und teilweise organisiertes Netzwerk einstufen.
Wenn so viele Dinge Institutionen sind und dieser Begriff so weitgefaßt ist, liegt folgende Frage nah: Was steht hinter der Behauptung "Das Internet ist eine Institution"?
Geoffrey Hodgson: Ich weiß, worauf Sie hinaus wollen. Wenn man etwas als Institution bezeichnet, sagt man noch nicht viel über die Art der Institution. Ich spreche mich trotzdem für eine weitgefaßte Definition von "Institution" aus, und zwar deswegen, weil Institutionen - wie ich schon erwähnt habe - der Stoff des gesellschaftlichen Lebens sind. Diese Betrachtung sozialen Verhaltens unterscheidet sich sehr von vielen traditionellen Betrachtungsweisen. In vielen Bereichen der Sozialwissenschaften werden die Menschen heute als Atome dargestellt, die gewisse Vorlieben haben, Nutzenmaximierung anstreben oder nach vorgegebenen Schemata handeln. Das ist die "deinstitutionalisierte Ansicht" über die menschlichen Akteure und ihre Umgebung. Wenn Institutionen ins Spiel kommen, sind sie Hindernisse, sie stehen uns im Weg oder halten uns davon ab, bestimmte Dinge zu tun und unterstützen unser Handeln nicht.
Dennoch einfach zu behaupten, daß etwas eine Institution ist, sagt nicht mehr aus als eben das. Wir brauchen eine Taxonomie der unterschiedlichen Institutionsarten. Ein Element dieser Taxonomie, über das ich schon gesprochen habe, ist die grobe Unterscheidung zwischen zwei Institutionsarten: Organisationen und Institutionen, die keine Organisationen sind. Organisationen sind eine Untergruppe der Gesamtheit aller Institutionen.
Es gibt verschiedene Versuche, eine Taxonomie auf diesem Gebiet durchzuführen und bestimmte Begriffe festzulegen. Es ist für Theoretiker schwierig, bei solch einem Versuch einen Konsens zu erreichen, weil scheinbar alles davon abhängt, wie man die menschlichen Akteure und ihre Beziehung zur Institution sieht. Bisher gibt es jedoch in dieser Grundsatzfrage noch keinen Konsens.
Sie sagen, es ist schwierig, die dem institutionellen Ansatz zugrunde liegenden Annahmen über die menschlichen Akteure und ihre Umgebung zu untersuchen. Ein anderer wichtiger Aspekt ist vielleicht, wie Institutionen auf Veränderung reagieren, sich selbst verändern und Änderungen entgegentreten. Nun zu meiner Frage: Sogenannte "Futuristen", wie beispielsweise George Gilder, haben den Untergang der alten nationalen Telekommunikationsfirmen vorhergesagt, andere wiederum diskutieren das "Verkümmern" des Nationalstaates. Glauben Sie, daß traditionelle Institutionen wie große Telekommunikationsfirmen oder der Nationalstaat unter dem Druck der weltweit vernetzten Wirtschaft auseinanderbrechen? Oder funktionieren sie so, wie Institutionen funktionieren sollten, und sichern ihre Stabilität im Lauf der Zeit?
Geoffrey Hodgson: Kann ich diese Frage in zwei Teilen beantworten? Zunächst möchte ich Ihnen allgemein zustimmen, wenn Sie sagen, daß wir eine theoretischen Grundlage über die Entstehung und die Veränderung von Institutionen benötigen. Deswegen ist Institutionenökonomie eng mit der sogenannten "Evolutionsökonomie" verbunden. Mit evolutionären Gedanken versucht man zu verstehen, wie Institutionen entstehen, sich entwickeln, verändern oder mit anderen Institutionen verbinden usw..
Ich möchte den zweiten Teil Ihrer Frage hinsichtlich der Auswirkungen globaler Kräfte auf den Nationalstaat und andere Institutionen aufgreifen. Ich glaube, daß man damit sehr vorsichtig sein muß. Einige dieser Aussagen basieren auf einem ideologischen Programm. Viele der vorgebrachten Argumente zur Globalisierung sind letztlich nur eine weitere althergebrachte Rechtfertigung für Laissez faire-Politik: nämlich der Versuch, die These zu begründen, daß der Staat möglichst geringen Einfluß ausüben sollte. Unabhängig davon, ob das nun stimmt oder nicht, glaube ich, daß wir mit Analysen, die zu stark ideologisch geprägt sind, vorsichtig sein müssen.
Von Paul Q. Hirst und Grahame Thompson gibt es ein gutes Buch mit dem Titel "Globalization in Question" [1996] (Globalisierung hinterfragt). Überzeugend widerlegen sie die Theorie über das Schwinden des Nationalstaats. Meine eigene Meinung stimmt im großen und ganzen mit dieser Darstellung überein: Einerseits gibt es sehr starke globalisierende Kräfte, besonders im Bereich der Kommunikation. Diese Kräfte sind weltweit sehr wichtig. Hinzu kommt der enorme Kapitalfluß in der Welt. Dadurch verringert sich die Macht der nationalen Institutionen, ihre eigene Wirtschaft zu beeinflussen. Aber dies, um es nochmals nachdrücklich zu sagen, bedeutet nicht, daß der Nationalstaat verschwindet, sondern daß er bei seiner Kontrolle über den Kapitalfluß und hinsichtlich einer makroökonomischen Politik Begrenzungen und Einschränkungen unterliegt.
Der Staat spielt jedoch neben anderen Institutionen eine Rolle, wenn es darum geht, auf die Veränderungen in der Welt zu reagieren. Ich denke hierbei gerade an die Zunahme länderübergreifender Institutionen, wie beispielsweise die Europäische Union oder ähnliche wirtschaftliche und politische Vereinigungen andernorts in Nord- oder Südamerika sowie in Fernost. Sie stellen eine bewußte Reaktion auf die hier diskutierte Globalisierung dar.
Kurz gesagt stimme ich dem zu, daß zunehmende und verbesserte Kommunika- tionsmöglichkeiten enorme Auswirkungen haben, es ist jedoch noch viel zu früh, sich vom Nationalstaat schon zu verabschieden.
Bei Ihrer letzten Antwort sprachen Sie über Evolutionsökonomie. In Ihren Publikationen beschreiben Sie, wie neo-liberale Ideen und damit zusammenhängende Konzepte eines wettbewerbsorientierten Individualismus auf ein antiquiertes Verständnis der Evolutionstheorie gründen. Was lehrt uns die fortgeschrittene Evolutionstheorie im Hinblick auf institutionelle "Fitness"?
Geoffrey Hodgson: Ich denke, daß Institutionenökonomen viel aus der Biologie lernen können. Das soll nicht heißen, daß sie Gedanken aus der Biologie sklavisch übernehmen sollten, sondern sie erfahren etwas über die Art von Problemen, auf die man in komplexen Lebenssystemen stoßen kann.
"Fitness" ist in der Biologie als Konzept nicht greifbar. In der post-Darwinistischen Biologie ist sie in all ihren Formen ein äußerst wichtiges und zentrales Konzept. Dennoch ist sie als Konzept schwer festzumachen.
Fitness bedeutet, daß man sich an seine Umwelt anpaßt. Viele Menschen ver- gessen eine wichtige Komponente, wenn sie diese Ideen zu schnell auf die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften übertragen. Sie gehen einfach davon aus, daß die Umwelt vorgegeben ist. Im spanischen Baskenland gibt es zum Beispiel Finanz- und andere Institutionen, die den Arbeiterkooperativen gegenüber wohlwollender gesinnt sind. Wenn man also die finanzielle oder institutionelle Umwelt verändert, in der Firmen agieren, dann setzen sich vielleicht andere Firmen durch. "Fitness" ist also von der Umgebung abhängig. Sie ist eine Anpassung an die Umwelt. Genauso impliziert eine Existenz nicht unbedingt universelle Effizienz - weil die Effizienz zum Teil von der Umgebung abhängt.
Es könnte also heute Firmen geben, die nicht unbedingt für die derzeitige Umwelt "fit" sind, jedoch für eine künftige Umwelt "fit" sein könnten.
Geoffrey Hodgson: Genau. Oder auch umgekehrt. Sie könnten für die heutige Umwelt "fit" sein, nicht jedoch für die von morgen. Das kann alles mögliche beinhalten. Nehmen wir zum Beispiel ein japanische Firma. Die weitverbreitete Ansicht über japanische Firmen ist, daß ihre Managementstruktur der vieler westlicher - insbesondere anglo-amerikanischer Firmen - überlegen ist. Bei näherem Hinsehen stellt sich jedoch heraus, daß japanische Firmen von einer stabilen makroökonomischen Umwelt abhängig sind. Bei der Just-in-Time-Produktion verläßt man sich nicht nur auf die organisatorischen Fähigkeiten, sondern auch auf relativ stabile makroökonomische Gegebenheiten. Schwankungen bei der Nachfrage für das Produkt sollten sich nicht zu stark auf das System auswirken, damit dieses noch effektiv funktionieren kann. Wenn dieses Argument richtig ist, dann mag eine JIT- Produktion für Japan mit einer (bis vor kurzem) noch lebhaften und schnell wachsenden Wirtschaft sehr gut sein, und für eine unbeständigere Wirtschaft - wie z.B. in Großbritannien - mag es hingegen nicht zutreffen. Daraus würde folgen, daß sich japanische Organisationen in Großbritannien entwickeln könnten. Man kann jedoch nicht einfach voraussetzen, daß japanische Firmen aufgrund der Tatsache, daß sie in Japan erfolgreich sind, auch im Vereinigten Königreich gut funktionieren.
Sie sprechen in Ihren Veröffentlichungen auch über die durch Vielfalt gesicherte Entwicklung oder Evolution des Kapitalismus. Diese Vielfalt soll in verschiedenen Unternehmenskulturen gefunden werden. Glauben Sie, daß diese Vielfalt heute langsam verschwinden könnte - und wie sähen die Konsequenzen dieses Prozesses aus?
Geoffrey Hodgson: Sicherlich ist es möglich, daß die Vielfalt abnimmt. Das kommt teilweise daher, daß die sozio-ökonomische Evolution sich sehr von der biologischen Evolution unterscheidet. In der Biologie gibt es zwei Hauptquellen dieser Vielfalt, zwei Mittel, die diese Vielfalt immer wieder erneuern. Die eine Quelle ist die Mutation der DNA - was evolutionär gesehen sehr langsam und selten geschieht, die aber trotzdem eine wichtige Kraft bei der Entstehung von Vielfalt darstellt. Die andere äußerst wichtige Quelle in der Biologie sind die Möglichkeiten der Rekombination durch Fortpflanzung.
In der Sozio-Ökonomie gibt es jedoch keine exakten Parallelen zu diesen Mechanismen. Zu den eben genannten Möglichkeiten der Rekombination durch Fortpflanzung gibt es mit Sicherheit hier kein Gegenstück. Institutionalistische Autoren wie Thorstein Veblen und John Hobson haben sich mit den Ursachen dieses Problems und den Innovationsquellen auseinandergesetzt. Veblen prägte seinen berühmten halb satirischen Ausdruck der "idle curiosity" (träge Neugier). Er ging davon aus, daß Menschen, wenn sie nicht ausdrücklich unter Druck gesetzt oder motiviert werden, neue Ideen entwickeln, und zwar durch Zufall, durch neugierige Forschung nach Dingen oder durch ihren Spürsinn. Das könnte eine Quelle für Vielfalt innerhalb eines Systems sein. Wie Veblen selbst anmerkte, trifft dies nicht immer zu, besonders dann nicht, wenn man den Druck der Geschäftswelt, Routineprozesse und die mechanische Spezifizierung von Arbeitsvorgängen in Betracht zieht. Solche Entwicklungen verhindern Innovationen, und das ist eine der interessanten Folgerungen Veblens.
Wenn das stimmt, dann besteht ernsthafte Gefahr für die Vielfalt der Quellen in einem sozio-ökonomischen System, das dann nur unzureichenden Nährboden für eine evolutionäre Selektion bietet. Es ist beispielsweise weltweit bei der Anzahl der Sprachen und den damit zusammenhängenden lokalen Traditionen ein dramatischer Rückgang zu verzeichnen. Statt dessen gibt es in den entwickelten Ländern heute an jeder Ecke ein Mc Donald's, und jeder Haushalt besitzt einen Fernsehapparat. Globale Amerikanisierung steht für eine globale Kultur, demzufolge für eine Beeinträchtigung anderer Kulturen. Es entsteht also die Gefahr einer Verringerung der Vielfalt und einer Stagnation der sozio-ökonomischen Evolution.
Dieser Prozeß würde jedoch sehr lange dauern. Auch in einem sich vereinigenden Europa und trotz der Prozesse der Amerikanisierung der europäischen Kultur bleibt in den europäischen Institutionen immer noch eine große Vielfalt erhalten. Es besteht also immer die Möglichkeit evolutionärer Regeneration. Nachdem man einmal vor den Problemen, die mit einer Verringerung der Vielfalt einhergehen, gewarnt hat, stellt man außerdem fest, daß wir ein soziales System schaffen müssen, das Innovationen unterstützt, Vielfalt pflegt, Neuheiten fördert und verschiedene Geisteshaltungen hochhält. Es besteht deshalb auch prinzipiell kein Grund für Pessimismus.
Beeinflussen nicht auch lokale institutionelle Gegebenheiten und lokale Unternehmenskulturen den Verlauf der Globalisierung? Trägt nicht jedes Land für sich auch auf unterschiedliche Weise zur Globalisierung bei?
Geoffrey Hodgson: Sie haben vollkommen recht. Das hängt wieder einmal mit den falsch ver- standenen und zu einfachen Thesen zur Globalisierung zusammen. Noch einmal: Das geht auf einen Punkt zurück, den ich schon erwähnt habe, nämlich, daß Institutionen der Stoff gesellschaftlicher Realität sind. Institutionelle Veränderungen sind immer sehr komplex und Institutionen sind immer sehr eng verflochten und verstrickt. Blickt man nach Japan, China oder in Länder des ehemaligen Ostblocks, so kann man beobachten, daß man dort trotz der immensen Veränderungen, die in den letzten 20 Jahren passiert sind und trotz des hohen Drucks der Amerikanisierung und Globalisierung nach wie vor auf die eigene Geschichte zurückgreifen muß. Die Menschen dort müssen unter umfassender Nutzung der Institutionen, die sie aus der Vergangenheit übernommen haben, etwas aufbauen und erneut aufbauen. In all diesen Fällen ist eine Synthese zu erkennen, die sich aus Elementen einer beständigen Kultur und unverwüstlichen Institutionen zusammensetzt und begleitet ist von neuen Ideen und neuen Wegen für deren Umsetzung. Alt und Neu verschmelzen. Die nationale und institutionelle Evolution ist jedoch von bestimmten Wegen sehr abhängig.