Der Körper in der Stadt
Richard Sennett: Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation. Berlin Verlag. 523 Seiten.
Die Stadt ist für Richard Sennett ein Ort des nicht-personalen, anonymen Lebens, in dem Vielfalt in jeder Hinsicht mit ihren Verführungen, Abenteuern und Risiken entsteht und sich eine "Kultur des Unterschieds" im Umgang mit dem Fremden und Unvertrauten ausprägen sollte. Schon der Titel seines neuen Buches hat etwas Nostalgisches, denn Fleisch und Stein verbinden sich heute mehr und mehr Bits, Urbanität wandert in die Medien aus, in den Computernetzwerken werden virtuelle Städte gegründet und ausgebaut.
Richard Sennett ist zweifellos einer der interessantesten Theoretiker der Stadtkultur, der in seinen Büchern vor allem den Verlust des öffentlichen Lebens und den Rückzug in die Privatheit bearbeitet, wie er sich in der Geschichte der westlichen Zivilisation und vor allem unter dem Druck der christlichen Kultur ereignet haben soll. Die Stadt, das ist für Sennett ein Ort des nicht-personalen, anonymen Lebens, in dem Vielfalt in jeder Hinsicht mit ihren Verführungen, Abenteuern und Risiken entsteht und sich eine "Kultur des Unterschieds" im Umgang mit dem Fremden und Unvertrauten ausprägen sollte. Nach seiner Kritik an der "Tyrannei der Intimität" und an den neutralen Räumen der modernen Großstadt gibt es nun auch in deutscher Übersetzung seinen groß angelegten Versuch, die Geschichte des Körpers mit dem der Stadtentwicklung zu verbinden.
Stadtarchitektur soll die Menschen an einem Ort zusammenführen
Beginnend mit der griechischen Polis in der Antike und dann in großen Sprüngen, die jeweils die Situation in einer Stadt während einer Epoche illustrieren, arbeitet Sennett viele überraschende Details des urbanen Lebens unter der Perspektive einer durchgängigen Geschichte der westlichen Zivilisation heraus. Städte und Häuser wurden oft gemäß dem jeweiligen Körperbild gebaut, und sie ermöglichen oder verhindern bestimme Weisen des körperlichen Daseins. Stadtarchitektur habe den Sinn, so Sennett, Menschen an einem Ort zusammenzuführen und deren körperliche Präsenz füreinander wahrnehmbar zu machen. Sennett interessiert sich aus dieser Perspektive vornehmlich für die öffentlichen Räume, das Trauma jedes modernen Urbanisten. Seit dem Aufkommen von Radio und Fernsehen gelingt die Schaffung öffentlicher Räume nicht mehr, verlagert sich Öffentlichkeit mehr und mehr in die elektronischen Medien und jetzt in die zerstreute Öffentlichkeit der Netze, in Räume, ohne jede Bindung an geographische Orte und erbaut von Software-Architekten.
Rückzug in eine geschützte Innerlichkeit
Gleichwohl legt Sennetts Buch den Finger auf eine Wunde, denn wir bleiben mit allen neuen Schnittstellen und Eingriffen in den Leib körperliche Wesen, die in räumlichen Umgebungen und an Orten leben. Und in der Tat vernachlässigen viele derjenigen, die emphatisch die Eroberung des neuen virtuellen Raums anpreisen, eben diese Reflexion auf die Schnittstelle mit der wirklichen Welt und mit dem Körper, der in ihr haust. Gelegentlich vermißt man zwar in Sennetts Geschichte von Stadt und Körper den Bezug zum Thema, manchmal ist er weit herbeigeholt, doch Sennett ist ein guter Erzähler, so daß man seiner Neugierde gerne folgt. Blicke auf die Stadtkultur in außereuropäischen Ländern fehlen allerdings, um die von ihm zugrundegelegte Kontinuität zu belegen. Und schon der Titel "Fleisch und Stein" hat etwas Nostalgisches, denn Fleisch und Stein verbinden sich heute mehr und mehr Bits. Urbanität wandert in die Medien aus, in den Computernetzwerken werden virtuelle Städte gegründet und ausgebaut. Sennett hält vor dieser neuen Entwicklung inne und kehrt ihr den Rücken zu, sieht sie höchstens als weitere Stufe auf dem Weg in eine geschützte Innerlichkeit, die sich vom Außen abschließt und überdies vermeidet, sich mit seinem Körper in die öffentlichen urbanen Räume zu begeben.
Hatte das Christentum mit einer ortlosen Existenz in einer Diaspora und lokal gebundenen, in Regionen und repräsentativer Architektur eingebetteten Institutionen begonnen und kann in seiner Frühphase daher als Vorschein einer von der Verankerung in der Wirklichkeit gelösten Lebensweise gelten, so ist es doch bald wieder als politische Macht seßhaft geworden und hat starre hierarchische Strukturen ausgebildet, die in der urbanen Ordnung und im Stein ihren Ausdruck fanden. Zuletzt, heimgekehrt ins multikulturelle New York, für Sennett ein Paradigma der mobilen, nur noch an der freien Bewegung des Individuums ausgerichteten Stadt, untergräbt sich für ihn noch die Existenzgrundlage des entwurzelten Individualismus: ohne Mitleid, ohne Zuwendung zum Anderen und Fremden, bleibt man auch alleine mit seinem Schmerz zurück, der außen keinen Ausdruck mehr finden kann. Sennett teilt das amerikanische Trauma, etwas verloren zu haben, kein Zentrum wie die amerikanischen Städte zu besitzen. Träumen die einen von Gemeinschaften, die anderen von einer Wiedererfindung der Religion und der großen Erzählungen, so Sennett von einem gemeinschaftlichen Körper, von der Sympathie mit den anderen, von Orten der Begegnung in den immer größer werdenden Agglomerationen und unter dem Dauerbeschuß von Informationen der globalen Gesellschaft.
Tatsächlich findet der Rückzug in der realen Welt immer eindrucksvoller statt. Die Menschen verbarrikadieren sich in ihren Heimen und neuen Wehrdörfern, die elektronisch überwacht werden. Urbane Öffentlichkeit schließt sich aber auch in Malls, Freizeitzentren und ganzen Stadtteilen ab, deren Zugänge kontrolliert werden, und in der Welt der globalen Ökonomie bilden sich neue lokale und ethnische Kulturen aus. Ein zentrales Kapitel in seinem Buch, die Ausbildung des jüdischen Ghettos in Venedig, arbeitet die lange Tradition solcher Abschließungen heraus, um sie mit Sennetts Traum von einer Gemeinschaft der Heterogenen, die sich wahrnehmen und anerkennen, zu kontrastieren. Vielleicht aber, so die Hoffnung mancher, könnte die Kommunikation in den Netzen gerade eine solche Gettoisierung überwinden, was dann auch auf das Leben in den realen Städten und lokalen Gemeinschaften Einfluß haben könnte.
Neue Urbanität in digitalen Städten?
Während der Flaneur in den Straßen der in Ghettos zerfallenden Großstädte verschwindet und vom Passagier ersetzt wird, der durch neutrale Räume hetzt oder fährt, taucht er in der vermischungslosen digitalen Stadt des Cyberspace wieder auf - als aseptischer virtueller Körper, als Beobachter, der sich durch die virtuellen Orte hindurchklickt, oder als jemand, der es genießt, aus der Distanz und ohne Risiko fremden Menschen zu begegnen und mit ihnen zu kommunizieren, die er im wirklichen Leben vielleicht niemals kennenlernen wird. Sennetts Versuch, eine Kontinuität in der Geschichte der zunehmenden Verarmung der Sinne zu demonstrieren, die in den distanzierenden Medien der Beobachter ihren vorläufigen Punkt Höhepunkt findet, verliert mit zunehmender Annäherung an die Gegenwart an Plausibilität und gerät zu einem Dogma, das nur noch belegt werden soll, aber jede wirkliche Erkundung verhindert. Beispielsweise ist der Schrecken vor den großen Städten und den unüberschaubaren Menschenmassen auch in der griechischen Antike verbreitet gewesen. Die Ideal der Polis lag in einer begrenzten Gemeinschaft von Bürgern, die sich untereinander kennen sollten, auch natürlich, um die gegenseitige Kontrolle wahren zu können. Aber auch außereuropäische Stammeskulturen kennen das Prinzip der sozialen und räumlichen Abgrenzung von Mitgliedern verschiedener Clans oder von Geschlechtern.
Die These des zunehmenden Abschlusses vor dem Fremden und den städtischen Massen ist zu eng, vor allem stellt sie weniger eine Analyse dar, sondern eine Forderung, die man gut nachvollziehen kann und die vermutlich erst aus dem Leben in den Großstädten des 19. Jahrhunderts entstanden ist. Mit der neuen virtuellen Lebenswelt, in die Taktilität durch entsprechende Schnittstellen, wie man sie aus der VR kennt, einwachsen könnte, beginnt aber der Traum vom urbanen Leben in der Anonymität aus dem realen Stadtraum auszuwandern, unter anderem auch deswegen, weil die digitale Stadt oder Telepolis eine globale Stadt ist und nicht mehr durch ihre lokale Verankerung beschränkt wird, weil in ihr alles nur einen Mausklick weit benachbart ist und so die riesigen Räume der explosiv wachsenden Megacities auf Wege von Sekunden einschrumpfen. Man sollte nicht nur darauf sehen, was verloren geht, sondern auch darauf, was sich verändert.
Mobilität zerstört die Wahrnehmung und fördert den Ausbau von neutralen, widerstandsfreien Transitzonen
Das traditionelle Bild des Körpers ist das einer Einheit mit festen Grenzen, einer inneren Ordnung und einer Mitte. So eben wurden bis zum Zeitalter der Maschinen und Eisenbahnen auch die Städte gebaut. Zentrierte, hierarchische Körperbilder, die ein kompliziertes Gefüge von geordneten Relationen bilden, wurden aber durch eine Entdeckung maßgeblich zerstört, die, parallel mit dem allmählichen Zerfall des Feudalismus und der Durchsetzung des Liberalismus und Kapitalismus, ungehinderte Mobilität und Zirkulation vor allem anderen setzt - die Entdeckung des Kreislaufsystems oder des Netzes aus Arterien und Venen mit dem Herz als Motor im 17. Jahrhundert durch Harvey, in deren Folge man auch bald das Netz der Nervenbahnen erforschte. Gesundheit heißt seitdem freier Fluß des Blutes, der Menschen, der Waren, der Ideen oder des Geldes.
Die Planer wandten diese Idee bald auch auf die Städte an. Haussmanns Umbau von Paris, um es dem Verkehr zu öffnen, ist ebenso eine Folge dieser neuen Orientierung, wie der Einzug der Hygiene, der Bau der Kanalisation, die Sorge um die Entlüftung der Stadt und der Häuser, aber auch die Heraufkunft der Idee vom freien Markt. Sennett deutet all dies an, thematisiert jedoch nur die Ausbildung des Individualismus und dessen gleichzeitige Entwurzelung aus dem sozialen Leben. Die Möglichkeit, mobiler zu werden, sich aus dem Gegebenen zu lösen und dieses zu zerstören, war und ist auch immer ein Akt der Emanzipation, den wir heute in der (noch) reichen westlichen Zivilisation auch kritisch lesen können, weil wir seine Folgen kennen. Aber es ist gefährlich, in diesen Gesang des Untergangs einzustimmen, da viele Menschen auf der Welt erst den Besitz von Mobilität erwerben wollen, mit dem wir vielleicht nicht mehr zurechtkommen. Mobilität jedenfalls ist für Sennett nur Verhinderung der Wahrnehmung und fördert den Ausbau von neutralen, widerstandsfreien Transitzonen, in denen man zwar mit vielen Menschen im Stau stehen mag, aber keine Durchmischung und Begegnung mehr stattfindet. Das mag stimmen, was den öffentlichen Raum in den Städten angeht, doch im virtuellen Raum finden neue Begegnungen mit dem Fremden statt, entwickelt sich urbanes Leben. Es verschiebt sich der Schwerpunkt und auch die Realität. Vielleicht sind die virtuellen Städte nur eine Weiterführung des urbanen Lebens, das sich einst aus den dörflichen und Stammesgemeinschaften löste und stets die Idee des Kosmopolitismus mit sich führte.