Der Krieg und Du

Seite 2: Gründe, Zwecke und Interessen? – Fehlanzeige

Für den russischen Angriff wie für die ukrainische Gegenwehr kennt Scholz keine Gründe und Zwecke der involvierten Staaten, sondern nur Rechtfertigungen bzw. deren Fehlen, die Übereinstimmung oder die Verletzung von Normen, als deren Hüter er sich präsentiert.

So konsequent ersetzt er – und wird in der deutschen Debatte die Frage nach Gründen durch die nach Schuld und Unschuld ersetzt, dass allein die Erwähnung, dass auch die russische Seite mit ihrem Krieg einer staatlichen Logik folgt, als Entschuldigung und Relativierung ihrer Verbrechen verstanden und verworfen wird.

Ebenso konsequent vermeidet man es, die ukrainischen nationalen Ambitionen, geschweige denn die eigenen oder die strategischen Interessen der westlichen Wertegemeinschaft anzusprechen; die würden die saubere Scheidung von Gut und Böse in diesem Kampf nur verwässern. Wenn Scholz in einem ersten Schritt die Frage nach den Kriegsgründen durch die der Kriegsschuld ersetzt, dann stellt er in einem zweiten die Untat bzw. den Willen zu ihr als Grund des verurteilten Handelns hin.

So wird aus dem russischen Feldzug "Putins Krieg der Wahl", ein "grundloser Überfall auf einen friedlichen Nachbarn". Die Identifikation von Schuld und Grund ist die zweite für die nationale Meinungsbildung konstitutive falsche Gleichung.

Aus der folgt der kategorische Imperativ, die Ukraine mit Waffen auszurüsten. Diese Selbstverpflichtung geht freilich einher mit einer Distanzierung: Kriegspartei wird Deutschland damit nicht. Die Regierung hilft dem Angegriffenen. Aber dass kein Staat ganz ohne eigenen Zweck und eigene Berechnung einem andern kriegerisch gegen einen dritten hilft, nur weil der sich retten will, das geht in alle Hilfszusagen schon mit ein: Der Kanzler behält sich vor, wie weit sein Land sich engagiert; Eskalation soll nicht sein.

Er verbürgt sich dafür, dass Putin den Krieg nicht gewinnen und der Ukraine nicht seinen Frieden diktieren darf; doch ohne den Sieg über die russische Großmacht zum deutschen Kriegsziel auszurufen; aber auch ohne einen Zweifel an dem unbedingten Schulterschluss mit Putins Opfer zuzulassen. Das ist die dritte Gleichung, nach der die Regierung zu handeln verspricht.

Zu der passt die Botschaft, die die Regierung in Sachen Parteilichkeit ans große nationale "Wir" richtet; mit der Betonung: Betroffene Partei sind wir zwar nicht, umso mehr aber zu unbedingter Parteinahme bereit, ja verpflichtet. Der anständige Deutsche identifiziert sich, seine politisch aufgeweckte Privatpersönlichkeit, mit dem Selbstverteidigungsrecht des ukrainischen Staates, das seine Regierung durchzusetzen hilft. Weil es nämlich – sagt die Außenministerin, die es qua Amt ja wissen muss – gar nicht um etwas Politisches geht, sondern um die reine Menschlichkeit:

"Putin mordet Kinder und unschuldige Zivilisten. Das darf niemanden ungerührt lassen. Wer da neutral bleibt, steht auf der Seite des Unterdrückers", so Baerbock sinngemäß bei verschiedenen Gelegenheiten.

Die Fiktion, der regierte Bürger in seiner Machtlosigkeit hätte in Sachen Krieg und machtvolle Einflussnahme darauf irgendetwas zu entscheiden, bekommt den passenden Inhalt: Zu entscheiden hat ein jeder – sonst nichts, aber umso mehr – sich. Und zwar in einer Frage, in der es eine zulässige Alternative schlechterdings nicht gibt: Wie stehst du dazu, dass Putin Kinder umbringt?

Wer da Bedenkzeit braucht – womöglich für eine Überlegung der Art, dass im Krieg Staaten nach eigens geschaffenem Recht und Gesetz für sich und ihre Zwecke eigene und fremde Untertanen verheizen –, outet sich als Helfershelfer, mindestens als ideeller, eines Massenmörders; wer Kinder mag, muss dafür sein, dass der Krieg für Russland verloren geht.

Vermenschlichung des Krieges und staatlicher Akteure

Der Krieg ist damit perfekt in ein Moraltheater verwandelt, nämlich an beiden Enden vermenschlicht: Der staatliche Akteur Putin wird auf den bösen Menschen Putin heruntergebrochen – die staatlichen Akteure und Interessen der anderen Seite werden ausgeblendet; der Fokus liegt dort auf den unschuldigen Kindern von Butscha und anderswo.

Der ukrainische Staat, dessen Ambitionen Russland nicht duldet und dessen Kriegserfolg Deutschland aus seinen Gründen will, wird – die unwahre vierte Gleichung – identifiziert mit unschuldigen ukrainischen Menschen, die in der Realität russischen Waffen ebenso zum Opfer fallen wie der kämpferischen Selbstbehauptung ihrer Obrigkeit.

Und das ausländische Interesse an der Ukraine wird identifiziert mit der menschlichen Empathie von Privatpersonen, denen das Leiden und Sterben so sehr ans Herz geht, dass daraus unmittelbar der Ruf nach mehr Waffen und mehr Gewalt auf der richtigen Seite und mehr Opfern auf der falschen folgt.

Wer da womöglich schon wieder zögert – solche Zauderer gibt es ja sogar in höheren Positionen –, wird vor die inquisitorische Frage gestellt: "Willst du der Ukraine das Existenzrecht absprechen?" Der Umweg über die unschuldigen Kinder darf da auch mal entfallen. Aber wenn die gelieferten Waffen für den nationalen Gesinnungs-Militarismus zu klein sind, dann geht im öffentlichen Kriegsdiskurs jeder tote Ukrainer gleich wieder aufs Konto noch nicht gelieferter Haubitzen aus deutschen Beständen, ohne die sich der Russe nicht am Vergewaltigen hindern lässt.

Es ist offenbar unbeachtlich, dass in der Wirklichkeit überhaupt nichts davon abhängt und nichts daraus folgt, dass Herr und Frau Niemand einem fremden Staat irgendein Recht zu- oder absprechen.

Es gehört sich in der Meinungsbildung zum Krieg einfach, dass jedes Individuum ganz persönlich für den Krieg eine fiktive Verantwortung übernimmt und so tut, als hinge sein Verlauf und Ergebnis von seiner Stellungnahme ab:

Der Krieg ist meine Sache, eine Herausforderung an mich als Mensch, an meinen Gerechtigkeitssinn, meine Gefühle, meine Sympathien. Niemand bringt die verlogene Identifikation mit dem ukrainischen Staat und die daraus folgende Gleichung von Leiden und Kriegstreiberei so glaubwürdig und betroffen rüber wie ein Journalist der Bild-Zeitung:

Was soll man als Vater, als Mutter, als Mensch, dazu noch sagen?! Niemand ist mehr sicher vor diesem Terrorherrscher. Wir müssen Putins Regime vernichten. Bevor es uns vernichtet. Ich geh jetzt mal kurz heulen.


Tweet von Bild-Redakteur Julian Röpcke, 24. Februar 2022

Dieses fiktive Subjekt-Sein in einem Gewaltgeschehen, von dem der Normalmensch nur passiv und hilflos betroffen ist – in der Ukraine ganz praktisch, hier im Wesentlichen nur ideell –, ist die Prämisse der öffentlichen Debatte über den Krieg und die deutsche Beteiligung an ihm. Diese Prämisse stellt sicher, dass kein wahres Wort über Grund und Zweck des Zusammenpralls von Weltmächten auf dem osteuropäischen Schauplatz mehr fällt. Darüber fällt nämlich gar kein Wort.

Die Staaten und ihre Machtansprüche sind durch die komplette Vermenschlichung ihrer Konfrontation aus dem Spiel: Russland kommt als strategisch kalkulierende Staatsmacht nicht vor, die antirussische Allianz als Subjekt strategischer Kalkulationen genauso wenig. Mit der totalen Entpolitisierung des Kriegsgeschehens ist dessen wirklicher Urheber, das auf allen Seiten tätige Subjekt, das als einziges zu Krieg überhaupt fähig ist: Die Staatsmacht mit ihrem Gewaltmonopol und ihrem jeweiligen Ehrgeiz – freigesprochen.

Dieser Artikel ist zuerst in der Zeitschrift Gegenstandpunkt erschienen.