Der Krieg und die Normalisierung des Grauens

Abstumpfung und Kriegsmüdigkeit prägen auch unsere Wahrnehmung vom Krieg in der Ukraine. Diese Erfahrung ist nicht neu. Was wir von Stefan Zweig lernen können.

We are all waves of the same sea ...

Mark Tobey

Neulich hörte ich zufällig auf Deutschlandfunk Kultur eine enthusiastische Besprechung eines gerade erschienenes Bändchen aus dem Nachlass von Stefan Zweig, das den Titel Die Kunst, ohne Sorgen zu leben trägt.

Die Buchkritik des Schriftstellers und Publizisten Marko Martin hatte mich neugierig gemacht, und als vor ein paar Tagen in einem Kasseler Buchladen mein Blick auf das Inselbändchen mit dem Bild von Claude Monet auf dem Umschlag fiel, erstand ich das schmale Bändchen. Die Insel-Bücherei, eine der schönsten Buchreihen deutscher Sprache, ist übrigens von Stefan Zweig angeregt worden. Anfänglich wurden ihre Beiträge sogar von ihm mit ausgewählt.

Was ich von Zweig weiß

Am nächsten Tag saß ich auf einer Bank in der Frühlingssonne und begann mit der Lektüre. Ich kenne den 1881 in Wien geborenen Stefan Zweig als Verfasser der Schachnovelle, des autobiographischen Romans Die Welt von gestern, den ich sehr schätze, gerade weil er nicht nur seine Biographie beinhaltet, sondern die einer ganzen Generation und Epoche. Und ich kenne den Band Sternstunden der Menschheit, der etliche historische Miniaturen versammelt.

Unlängst las ich daraus noch einmal die Episode "Der versiegelte Zug" (S.110 ff.), die schildert, wie Lenin in Begleitung von 32 anderen russischen Revolutionären mit Hilfe des Deutschen Kaiserreichs, das ein virulentes Interesse an einer Destabilisierung und Schwächung des Kriegsgegners Russlands hatte, im April 1917 in einem plombierten Zug nach Sankt Petersburg transportiert wurde und dort der Revolution Beine machte.

Außerdem weiß ich seit Langem von der Beziehung Stefan Zweigs zu Sigmund Freud. Anfänglich war Zweig Freuds Patient und Schüler, später wurden sie Freunde und Weggefährten. Sie waren, kann man ohne Übertreibung sagen, Brüder im Geist. Zweig sprach denn auch im September 1939 in einem Londoner Krematorium letzte Worte am Sarg von Sigmund Freud.

Es ist bekannt, dass Stefan Zweig, dem es finanziell gut ging, befreundeten Schriftstellern in ökonomisch-sozialer Bedrängnis - wie Joseph Roth und Ernst Weiß - eine Art Monatsrente zahlte. Joseph Roth, der inzwischen in Paris lebte, brach, als er im Mai 1939 vom Selbstmord Ernst Tollers in einem New Yorker Hotel erfuhr, zusammen und starb wenige Tage nach ihm in einem Armenspital. Ernst Weiß nahm sich, nachdem die deutschen Truppen in Paris einmarschiert waren, am 15. Juni 1940 das Leben. Stefan Zweig folgte ihnen und starb in der Nacht vom 22. zum 23. Februar 1942 in seinem brasilianischen Exil an einer Überdosis eines Schlafmittels.

Ein zeitgenössischer Diogenes

Der erste der neun in dem Band "Die Kunst, ohne Sorgen zu leben" versammelten Texte, die aus den letzten beiden Jahren vor Zweigs Suizid stammen, erzählt von der Begegnung mit einer diogenesartigen Figur während Zweigs Salzburger Jahren. Er begegnet diesem ärmlich gekleideten Mann auf einem Gang mit seinem Hund Kaspar. Der Mann erkennt am Gang und Verhalten des Hundes, dass mit ihm etwas nicht stimmt.

"Er hat eine Zecke, der arme Kerl", diagnostiziert er, und wenig später entfernt er diese auf einer Parkbank. Nach diesem kleinen chirurgischen Eingriff entfernt sich der Mann prompt, ohne Zweig Gelegenheit zu geben, ihm für seine Hilfe zu danken und ihm etwas schenken zu können. Als er zu Hause von seiner Begegnung mit dem seltsamen Fremden berichtet, erkennt die Köchin ihn sogleich als den stadtbekannten Anton.

Was dieser denn für einen Beruf ausübe und was er eigentlich mache, wollte Zweig wissen. "Nichts", antwortete die Köchin ärgerlich, als hätte Zweig sie persönlich beleidigt. "Was braucht der einen Beruf?"

Im Fortgang der Geschichte lernt Zweig diesen Anton und seine Einstellung zum Leben ein wenig näher kennen. Und wir mit ihm. Hier sei nur so viel verraten, dass dessen Haltung zu Eigentum und Geld Zweig nachhaltig beeindruckt hat.

Wenn alle Menschen untereinander dies Geheimnis der Reziprozität des Vertrauens lernten, müsste es keine Polizei geben, keine Gerichte, keine Gefängnisse und kein Geld.

Unterlassene Hilfeleistung

Es folgt die Schilderung einer Episode aus Zweigs Schulzeit, die ich vor allem deshalb interessant finde, weil sie eine Kontrasterfahrung zum heutigen Breitensport Mobbing schildert, das häufig viel rabiater verfährt als in der von Zweig geschilderten Episode.

Der Vater eines Mitschülers wird wegen betrügerischer Finanztransaktionen verhaftet. Sein sogenanntes Geschäft hatte sich als gigantischer Schwindel herausgestellt und viele kleine Leute um ihre Ersparnisse gebracht. Sein Sohn, der ein glänzender Schüler ist und deswegen, weil ihm eine große Karriere im diplomatischen Dienst bevorzustehen scheint, von den Mitschülern "Metternich" genannt wird, bleibt daraufhin zwei Wochen lang der Schule fern. Er schämte sich seines Vaters.

Als er dann plötzlich wieder in der Schule auftaucht, gelingt es den Mitschülern nicht, Kontakt zu ihm zu finden und ihn zu trösten. Er bleibt isoliert und einsam. Dann verschwindet er, ohne eine Erklärung abzugeben. Er zieht in eine andere Stadt, in der er eine Lehre als Apotheker beginnt.

Stefan Zweig macht sich noch fünfzig Jahre später Vorwürfe, dass sie dem Mitschüler in seiner Bedrängnis nicht beigesprungen sind und ihn in einem kritischen Augenblick im Stich gelassen haben. Er lernte aus dieser frühen Erfahrung, "dass man niemals zögern sollte, dem ersten Impuls zur Hilfeleistung zu gehorchen, denn ein Wort oder eine Tat aus Mitgefühl hat nur wirklich Wert im Augenblick der höchsten Not".

Lob des Alltagslebens

Der "Die Angler an der Seine" betitelte und für mich zentrale Text des Buches beginnt mit der Schilderung einer Beobachtung aus dem vierten Jahr der Französischen Revolution. Am Tag der Hinrichtung von Ludwig XVI. strömten Menschenmassen zur Place de la Concorde, wo das Blutgerüst aufgebaut war.

Gleichzeitig, so vermeldet empört ein zeitgenössischer Chronist, standen nur einen Steinwurf von der Guillotine entfernt Angler am Ufer der Seine und warfen ihre Angeln aus – unbekümmert wie an jedem anderen gewöhnlichen Tag. Sie hatten keinen Blick für das historische Geschehen in ihrem Rücken, sondern starrten nur auf ihren schwimmenden Kork.

Aus dieser Episode entwickelt Stefan Zweig 1941 eine Grundregel dessen, was Georg Franck später etwas nüchtern "Aufmerksamkeitsökonomie" genannt hat. Wenn Menschen über längere Zeit einer allzu großen Dosis an Dramatik ausgesetzt sind, büßen sie die Fähigkeit zur Wahrnehmung ein und stumpfen ab. Auf der der Welt zugewandten Seite ihrer Seele wächst ihnen eine Hornhaut, die sie gegen fremdes Leid unempfindlich macht. Diese seelische Hornhaut sichert ihnen ihr Überleben.

Sie brächen sonst unter dem Daueransturm schrecklicher Bilder zusammen. In geschichtlich verdichteten Zeiten, in denen die Ereignisse sich überstürzen, ziehen viele Menschen ihre Aufmerksamkeit vom historischen Geschehen ab und wenden sich den kleinen Dingen ihres Alltags zu.

Mit Blick auf seine Zeitgenossen von 1940 stellt Zweig angesichts der Hitler'schen Angriffskriege und Annexionen eine ähnliche Tendenz fest:

Je länger das Weltdrama vor unseren Blicken dauert, je grausamer seine Szenen werden, je aufregender seine Episoden, umso mehr lässt unsere Fähigkeit des inneren Miterlebens nach. Das fortwährende Denken an den Krieg zerstört das Denken, und je mehr unsere Zeit an Mitgefühl von uns fordert, umso weniger vermag die schon erschöpfte Seele ihr zu bieten.

Zur Illustration bringt Zweig ein Beispiel aus seinem eigenen Erleben im britischen Exil. Als wenige Monate vor dem Krieg das Unterseeboot Thetis sank und rund hundert Menschen mit in den Tod riss, war das ganze Land tagelang erschüttert. Theater, Cafés und Kinos blieben leer, weil alle an das Schicksal der in den Tod gerissenen Menschen dachten und mit deren Angehörigen fühlten.

Vierzig Millionen Engländer lebten in und mit diesen neunzig, hundert Menschen während zwei oder drei Tagen, eine ganze Nation spannte schmerzhaft alle ihre Sinne wegen dieses einen einzigen winzigen Bootes der riesigen Flotte.

Kurze Zeit später begann der Zweite Weltkrieg, und nun sank jede Woche mindestens ein U-Boot.

Doch die ursprüngliche Kraft des Mitfühlens verbrauchte sich immer mehr mit jeder Wiederholung.

Je länger die Katastrophe sich hinzog, desto "ungerechter wurde die Proportion zwischen Leiden und Mitleiden". Mit Erschrecken stellt Stefan Zweig diese Ermüdung der Fähigkeit zum Mitleiden auch an sich selber fest.

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