Der Krieg und die Normalisierung des Grauens

Seite 2: Gegen das "große Schweigen"

Unvermittelt fühlen wir Leserinnen und Leser uns unter die giftigen Bäume unserer eigenen Abstumpfung katapultiert. Geht es uns heute nach einem Jahr Krieg in der Ukraine nicht ähnlich? Macht sich nicht auch bei uns Müdigkeit und ein Verlust der Empathie breit?

Und der Wunsch, die Ukrainer mögen doch bitte endlich klein beigeben und Frieden schließen, damit wir wieder unsere Ruhe und unseren Nachtschlaf finden. Hatten die Bilder der auf den Straßen von Butscha zurückgelassenen Leichen bei vielen Entsetzen und seelische Erschütterung ausgelöst, tritt nach zahllosen weiteren Bildern von Trümmern und Leichenbergen das ein, was Herbert Marcuse als "Normalisierung des Grauens" bezeichnet hat.

Die Opfer der Bomben- und Drohnenangriffe werden in einem Atemzug mit Börsen- und Sportnachrichten genannt. Alles steht auf einer Ebene und erhält das gleiche Gewicht. Auch das trägt zur Abstumpfung und zur Normalisierung des Grauens bei. Viele schauen gar nicht mehr hin, wenn in den Abendnachrichten der Ukraine-Block beginnt.

Eines Tages gleichen auch wir den Anglern an der Seine. Wir hoffen, dass wir selbst verschont bleiben, und gehen unseren Alltagsbeschäftigungen und Vergnügungen nach. Glück ist für uns wie für die alten Griechen, wenn der Pfeil den Nebenmann trifft.

Gerade die Linken sollten aber daran festhalten: Glück existiert entweder für (fast) alle, oder für (fast) keinen. Was immer irgendwo auf der Welt einem unserer Mitmenschen angetan wird, wird uns allen und der gesamten Menschheit angetan.

Kritik der Appeasementpolitik

Die Tendenzen zu einer Appeasementpolitik gegenüber den frühen Annexionen Hitlers (und heute gegenüber den Annexionen und Kriegsgräueln der russischen Armee) basierten auf einer trüben Mixtur aus Indolenz, Abstumpfung und der Illusion, wenn man sich nur ruhig verhielte, könne man Kompromisse erreichen und unbehelligt bleiben.

Gegen diese anzukämpfen, war eine Intention der späten Texte von Stefan Zweig. Er erhebt seine Stimme gegen das "große Schweigen", das aus Gleichgültigkeit resultiert. Die neun Texte, die der Band versammelt, sind von rund 80 Jahren geschrieben worden, lesen sich aber zum Teil, als stammten sie aus der Gegenwart.

In ihrem Universalismus und moralischen Pathos mögen sie vielen heute vorkommen, als stammten sie von einem anderen Stern. Das spricht allerdings nicht gegen Stefan Zweig, sondern zeugt davon, wie heruntergekommen die heutige Linke moralisch und sprachlich ist und was wir uns alles, im wörtlichen Sinn, haben abmarkten lassen.

Ich kann dieses von Klaus Gräbner und Volker Michels, der ein sehr lesenswertes und informatives Nachwort beigesteuert hat, sorgfältig und liebevoll edierte Bändchen von knapp 80 Seiten, das keineswegs eine Stefan Zweig-Resteverwertung ist, nachdrücklich zur Lektüre empfehlen und ans hoffentlich noch schlagende und empfindsame Herz legen.

Stefan Zweig: Die Kunst, ohne Sorgen zu leben, Insel-Bücherei Nr. 1524, Berlin 2023

Götz Eisenberg ist ein deutscher Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitete als Gefängnispsychologe und ist Autor zahlreicher Bücher. Eisenbergs Durchhalteprosa erscheint seit Anfang 2023 unter neuer Adresse: durchhalteprosa.de

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