Der Lockdown der Gefühle
Die neuen Spaltungen der Gesellschaft (Teil 3 und Schluss)
Wenn es um sozialen Wandel geht, lässt sich die Geschichte manchmal ziemlich lange Zeit und manchmal hüpft sie wie gedopt herum. Das Mittelalter zum Beispiel dauerte von Jahrhundert zu Jahrhundert an, und viel wirklich Neues ist innerhalb eines Menschenlebens eher nicht passiert. Dagegen wirkten manche Ereignisse, wie etwa der Erste Weltkrieg, wie ein ungeheurer Prozessbeschleuniger, in dem innerhalb kurzer Zeit das Alte verdampfte und das Neue entstand.
Es spricht einiges dafür, dass Corona einer dieser Katalysatoren des Historischen ist. Es ist nun schon neun Jahre her, dass ich auf Telepolis von der Formierung einer "komitativen Sphäre" gesprochen und dabei die mediale digitale Hülle gemeint habe, die uns zusehend einschließt. Corona ist in dieser Hinsicht ein gewaltiger Beschleuniger, am Horizont droht eine Überwachunsgapp, die das Einsammeln der unzähligen Daten, die wir ohnehin hinterlassen (vom Internet-Nutzungs-Profil bis zu den Konsumgewohnheiten über die Kreditkarte etc. etc.), fast überflüssig macht.
Haben diese (noch) verstreute Daten noch den Anschein, unschuldig disparat zu sein, weil wir sie eben sukzessiv in verschiedenen sozialen Situationen erzeugen, so kommt eine künftige Überwachungsapp, mit der alle Kontakte nachvollzogen werden können, ohne ein Mäntelchen daher, das uns noch Geborgenheit vorgaukeln könnte. Diese komitative Sphäre ist dabei, sich zu schließen und eine neue Daten-Totalität zu etablieren, der man sich nicht mehr entziehen kann.
Wenn Autos, Zugänge zu Gebäuden und Dienstleistungen, Einkäufe und Kommunikation nur noch online funktionieren, dann bedeutet die Daten-Verweigerung den praktischen Ausschluss aus der Gesellschaft. In diesem Sinne ist Corona ein gigantisches Übungsprogramm für die digitale neue Normalität bzw. Totalität.
Interessanter Weise wird diese Entwicklung begleitet von einer Diskurs-Verschiebung, die sich im Massenmedialen als eine neue Orthodoxie darstellt, die Ausschluss statt Dialog praktiziert. Und wieder verlaufen hier die Schützengräben neu und gehen die Spaltungen durch Freundschaften und Familien. Es gibt nicht wenige sich als links verstehende Menschen, die sich mit ihrer Kritik an den Corona-Maßnahmen plötzlich im Abseits oder unter falschen Freunden sehen.
Andererseits wird diese Orthodoxie auch massiv von rechts kritisiert und behauptet, "man dürfe nicht mehr alles sagen". Zum Beispiel in der Neuen Zürcher Zeitung, die in ihrer Deutschland-Berichterstattung zunehmend neurechte Positionen einnimmt. So schreibt jüngst ein Autor unter dem Zwischentitel "Gespaltenes Land", Deutschland scheine sich alternativlos zwischen links oder rechts, Gut oder Böse eingerichtet zu haben.
Er thematisiert dabei die Trennung des Fischer-Verlags von der Autorin Monika Maron weil diese in einem rechten Verlag publizierte und meint, die "gesellschaftliche Ausgrenzung" habe bereits "einige prominente Dichter und Denker eingeholt", Lisa Eckhart, Thilo Sarrazin oder Dieter Nuhr zum Beispiel.
Es geht momentan ziemlich rund in der Arena: Die Antifa sieht bei Skeptikern hinsichtlich der Corona-Maßnahmen vor allem Neonazis und Antisemiten am Werk, die Rechte (wie etwa die Identitären) schieben die Diskursordnung nach rechts, die Linke ist staatstreu geworden, die Orthodoxie respektive die Leitmedien stellen "Faktenchecker" als Gralshüter der Wahrheit auf, wobei diese gerne vergessen, die Prinzipien, nach denen die "Fakten" erhoben werden, zu "checken". Gräben allenthalben.
Was soll man dazu sagen, dass netzpolitik.org jetzt endlich "Das Netzwerk gefälschter Auslandsmedien" enttarnt hat – es handelt sich um einige wahrscheinlich russisch gesteuerte Nachrichtenportale mit unterirdischen Besucherzahlen.
Das ist ungefähr so, wie wenn man auf einen Floh deutet, aber daneben den Elefanten (die riesige US-amerikanische Propagandamaschine mit all ihren Erscheinungsformen und Verästelungen) als normalen Bestandteil einer "normalen" Umwelt wahrnimmt. Das Medien-, Glaubens- und Diskurskarusell dreht sich immer schneller und dem Zuschauer wird schwindelig, wirklich greifbar scheint dann nur noch der solide Lockdown.
Ohne Zweifel ist das, was wir derzeit erleben, massiver sozialer Wandel. Vom ökonomischen Wandel mit den neuen Klüften war ja bereits die Rede. Doch anders als im sicheren historischen Abstand zu den Ereignissen, sind wir nun mitten drin in diversen Prozessen des beschleunigten Wandels und wir wissen nicht, wohin die Reise geht.
Vor einem Jahr war noch die Rede von einer Gesellschaft des Zorns, vertreten durch so manche Wutbürger. Nun haben wir eine Gesellschaft der Angst. Es ist nicht klar, was passiert, wenn die im Lockdown eingefrorenen Gefühle (und traumatische Erfahrungen) wieder auftauen. Eines scheint freilich sicher: Die gesellschaftliche Topografie wird ein paar Klüfte mehr aufweisen.
Rudolf Stumberger lehrt Soziologie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Im Dezember erschien im Alibri-Verlag Aschaffenburg sein neues Buch: "Wir Nicht-Erben. Kleiner Ratgeber zum Umgang mit tabuisierten Gefühlen".
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