Die soziale Kluft und ihre Verästelungen

Die neuen Spaltungen der Gesellschaft (Teil 2)

Kapitalistische Industriegesellschaften sind seit ihrer Entstehung vor gut 200 Jahren durch einen tiefen Graben geprägt, der die Kapitalbesitzer von den Lohnabhängigen trennt. Dieser Graben ist seit langem Gegenstand von Erörterungen, sozialen Kämpfen, Revolutionen – von Karl Marx bis Carl Barks, wenn man dessen gezeichneten Geschichten zum Oberkapitalisten Dagobert Duck dazurechnet.

Dieser Graben existiert natürlich auch heute noch und ist tiefer als je zuvor. Und daneben haben sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten neue Risse in der Gesellschaft aufgetan, im Vergleich zum großen Graben aber eher feine Verästelungen, kleine Spalten, die es so früher nicht gab. Werfen wir einen Blick auf die Entstehung von sozialer Ungleichheit durch das Erben.

1957 brachte Kurt Pritzkoleit, ein kritischer Wirtschaftsjournalist, der sich in der Nachkriegszeit einen Namen gemacht hatte, ein Buch mit dem Titel: "Wem gehört Deutschland" heraus. Darin spannt er einen historischen Bogen von den großen Vermögen im kaiserlichen Preußen bis zu den Millionären der 1950er Jahre. Zu den 100 Reichsten im Preußen des Jahres 1910 gehörte etwa Bertha Krupp von Bohlen und Halbach, die damals auf ihrem Hügel über Essen ein Vermögen 187 Millionen Mark und ein jährliches Einkommen von 17 Millionen Mark hatte.

In der Rangliste folgen dann meist adelige Großgrundbesitzer wie Hans-Heinrich XV. Fürst von Pleß mit einem Vermögen von 84 Millionen Mark und einem Einkommen von 1,9 Millionen Mark. Erst später tauchen dann in der Liste die Industriellen auf: August Thyssen (55 Millionen Mark Vermögen, 2,6 Millionen Mark Einkommen), der Lokomotivenfabrikant Carl Henschel (49 Millionen, 3,5 Millionen), Hugo Stinnes (28 Millionen, 0,83 Millionen), Ernst von Borsig (22 Millionen, 2,15 Millionen).

Das Industrievermögen war seit der Jahrhundertwende enorm gewachsen und die industriellen Gesellschaften zahlten Dividenden von bis zu 20 und mehr Prozent. Zum Vergleich, was ein derartiges Vermögen bedeutete: Um 1900 verdiente ein Industriearbeiter knapp 800 Mark pro Jahr. Die Namen stehen für die eine Seite des Grabens, auf der wir heute die 25 Milliarden US-Dollar, auf die das Vermögen von Liliane Bettencourt - die Erbin von L’Oreal – geschätzt wird. Oder die 31 Milliarden Euro der deutschen Familie Quandt, von den US-Milliardären ganz zu schweigen.

Wenn auch all die Gates, Zuckerbergs und Booz Glücksritter des Internet-Reiches sind, der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty schätzt den Anteil der Erben an den weltweit größten Vermögen auf 60 bis 70 Prozent.

Ist das alles zumindest prinzipiell bekannt, so sind die Auswirkungen der neuen Spaltung - der kleinen Verästelungen - für den Normalbürger nun auch in seinem unmittelbaren Umfeld spürbar. Wir können diese neue Spaltung als das "neue Erben" bezeichnen. Dabei geht es um den Prozess, wie aus sozialer Gleichheit durch Erbschaften soziale Ungleichheit wird. Ein Prozess, der in dieser Form historisch relativ neu ist.

Der fiktive Erbfall

Führen wir zur Veranschaulichung zwei fiktive Personen ein, zu denen es freilich Entsprechungen in der realen Welt gibt: Die Freunde Klaus und Maximilian. Beide eint, dass ihre soziale Lage sich zunächst im Großen und Ganzen ähnelt – die finanziellen Verhältnisse sind geprägt durch "normale" Arbeitseinkommen und durch diese auch begrenzt. Wohnsituation, Urlaube und sonstiger Konsum weisen keine wirklich großen Unterschiede auf. Bis zu dem Tag, als Maximilian erbt. Und zwar in einer Größenordnung, die das Leben entscheidend zu verändern mag.

Das Häuschen der Großmutter in der Altmark mit einem Verkehrswert von 40.000 Euro gehört noch nicht dazu. Ein Erbe von einigen einhunderttausend Euro aber schon. Damit lässt sich auch in Großstädten eine Eigentumswohnung finanzieren. Oder eine berufliche Auszeit. Oder die Altersversorgung. Und so wird aus der sozialen Gleichheit soziale Ungleichheit, für Maximilian ist jetzt der Raum der Möglichkeiten ungleich größer geworden als für Klaus.

Spezifisch neu an diesem Phänomen ist, dass es auf einer langen Wohlstandsperiode seit den 1950er Jahren fußt, in der die Elterngeneration es zu Vermögen bringen konnte – meist in Form eines Eigenheimes. Zuvor gab es natürlich auch Erbschaften – das "alte Erben" – aber eben in privilegierten Schichten, während der Großteil der Arbeiterschaft nichts zu vererben hatte.

Die Auswirkungen des neuen Erbens macht folgendes Beispiel deutlich, es stammt aus einem Interview in einer Tageszeitung: Eine Theaterwissenschaftlerin lebt und arbeitet in einem gleichberechtigten Theaterkollektiv, das Einkommen wird nach gleichen Sätzen verteilt. In dem Zeitungsinterview spricht sie darüber, wie sich ihre Erbschaft (ein Reihenhaus des Vaters) auf die Beziehungen in der Gruppe auswirkt.

Es ist die Schilderung der Entstehung von sozialer Ungleichheit: "Beim Wohnen war es so, dass wir gemerkt haben, wie sich in unserem Alter Freundeskreise plötzlich spalten: In die, die erben, und die, die nicht erben. Es macht einen großen Unterschied, wenn Leute aus Journalismus, Kunst oder Bildung, die sonst prekär dastehen, auf einmal eine schicke Dachgeschosswohnung in Kreuzberg haben." Ihre Erfahrung - obwohl sie auf der begünstigten Seite der Erben steht – ist die einer kompletten gesellschaftlichen Spaltung, die sich auch innerhalb der Theatergruppe auswirkt. Auf den Freundeskreis wirkt das Erben "befremdend und zersetzend", denn "Wie kann das sein, wir waren doch immer alle auf Augenhöhe?"

So spaltet sich über das leistungslose Vermögen des neuen Erbens die "Normal"-Gesellschaft zusätzlich zu dem großen Marianen-Graben des alten Erbens auch in jenen Bereichen auf, die bisher eher homogen strukturiert waren.