Der Möllemann, der Antisemitismus und der Tod eines Kritikers
Zur Selbstentlarvung der bundesrepublikanischen Polemokratie
Der 18%-Möllemann und der mobile Guido in seinem politisch wendigen Guidomobil wissen, dass auf sich selbst erfüllende Prognosen in stimmungsabhängigen Gesellschaften allein kein Verlass ist. Wähler müssen umworben werden. Was nun der Liberalismus als vorinstalliertes Betriebssystem der Bundesrepublik noch darüber hinaus an parteipolitischen Optionen zu bieten hat, könnte schlicht zu wenig sein, um zur echten Volkspartei zu avancieren. Nun hegt das Volk so seine politisch unkorrekten Meinungen, die als Feedback von den Stammtischen zu den Möllemanns und wieder zurückwandern. Und die FDP will wohl auch nicht ihre Androhung, einen originellen Wahlkampf zu führen, verraten. Gebt dem Wähler also, was des Wählers ist! Und ist ein Hauch von Antisemitismus just das Parfüm, dass die FDP auch jenseits der Besserverdienenden so sexy macht, dass es zur Teilmobilmachung des rechten Wählerspektrums reicht?
Möllemann warf Friedman vor, durch seine gehässige und intolerante Art den Antisemitismus zu befördern. Nun hat der Antisemitismus viele dunkle Quellen, die sich nicht aus Gründen, sondern aus Vorurteilen speisen, eben vielleicht auch solchen, die in Friedmans glatter Rhetorik und seinem arrogantem Auftreten ihre trüben Belege finden. Ob Möllemann nun auf den politischen Tabubruch kalkulierte, als er Friedmans öffentliche Sympathiedefizite zur Quelle antijüdischer Ressentiments machte, bleibt offen, weil innere Tatbestände so schwer ermittelbar sind, wie sich andererseits so trefflich über sie streiten lässt. Immerhin dürfte es Möllemann aber nicht unklar gewesen sein, dass seine Feststellung nicht als Beitrag zur psycho-soziologischen Ursachenforschung des Antisemitismus durchgeht, sondern just für den Tatbestand gehalten wird, den sie scheinbar nur vermeldet.
Nun hat sich die FDP in ihrer Berliner Erklärung distanziert, aber nicht entschuldigt. Dieser feine Unterschied ist inzwischen nötig, weil die auf viele Wählervoten spekulierenden Freien Demokraten weder als sekundäre Antisemiten noch als politische Weicheier gelten wollen, wenn die Regierungsverantwortung so nah ist. Rabulistik ist also das Gebot der Stunde. Möllemanns Vorstoß auf vermintes Terrain muss nun durch Parteiplänkler wieder taktisch kompensiert werden, die dabei das Klassenziel des Wahlkampfsiegs nicht aus dem Fadenkreuz verlieren. Vielleicht die unmittelbarste Wahrheit des Schmierenstücks: "Antisemitismus" ist nicht mehr das Lehrkapitel einer historisch furchtbaren Wahrheit. Stattdessen empfiehlt sich die explosive Vokabel als politisches Kampfinstrument, um jenseits der Hauptfrontlinien den Wahlkampf ebenso wie innerparteiliche Schlachten zwischen Linksliberalen, Neoliberalen und Irgendwie-Liberalen zu entfachen.
Kampf um das letzte Wort im Definitionsstreit
Westerwelle weiß, dass er sich für nichts entschuldigen kann, was er nicht verbrochen hat. Möllemann wiederum will sich nicht entschuldigen, weil er nur der von Friedman gereizte Überbringer der schlechten Botschaft ist. Dafür werde er nicht vor Friedman kriechen. Der Rechtsanwalt Friedman beharrt weiterhin auf einer förmlichen Entschuldigung, weil ihm Möllemanns Bedauern und die FDP-Distanzierung nicht ausdrücklich genug sind. Möllemann hat seine Äußerungen bedauert, vielleicht eben aus dem Grunde, dass die Aufmerksamkeitsrakete über ihr Wahlkampfziel hinaus geschossen ist und ihr Niederschlag den Artilleristen nun selbst kontaminiert. Immerhin spendete Haider eilfertig Beifall und Möllemann distanzierte sich pflichtschuldigst von seinem Fan. Allzu weit reicht das Bedauern Möllemanns jedenfalls nicht, weil er nun Friedman auch eine Entschuldigung abverlangt, von diesem des Antisemitismus bezichtigt worden zu sein.
In dieser Sandkastenlogik geht es längst nicht mehr um die Sache, sondern um das letzte Wort im öffentlichen Revierkampf bzw. den Endsieg um die Definitionshoheit. Friedman dürfte wohl kaum Entschuldigungen, deren Bedingungen er festlegt, mit der Reue des Übeltäters verwechseln. Das mag juristisch tauglich erscheinen, politisch oder gar moralisch klärt das gar nichts. Friedmans Gesprächsverweigerung gegenüber der FDP spricht auch dafür, dass ihm die Harmonisierung des Konflikts höchst sekundär ist. Für den Präsidenten des Zentralrats der Juden, Paul Spiegel, bleibt Möllemanns Bemerkung die "schlimmste Beleidigung deutscher Juden nach 1945." Auch das ist hoch gegriffen, weil sich das inkriminierte Statement zumindest weit unterhalb der offen antisemitischen Parolen von Neonazis und anderen braunen Wiedergängern bewegt.
Doch die Abwägung von Angriffs- und Verteidigungsmitteln spielt in diesem erhitzten Diskursmilieu so wenig eine Rolle wie die Frage, welche Wirkungsmächtigkeit dem Antisemitismus in Deutschland heute noch beizumessen ist. Der politische Endreim auf die Verhältnisse reduziert sich auf den wütenden Streit der Demokraten.
Besonders abstrus ist Claudia Roths Strafanzeige gegen Möllemann, weil darin nur die Offenbarungserklärung liegt, dass es um die diskursiven Selbstheilungskräfte der Demokratie nicht gut bestellt sein kann. Dass nun ausgerechnet eine Grüne wichtigtuerisch nach Staat und Staatsanwaltschaft ruft, um den feuerspritzenden Möllemann-Cocktail zu entschärfen, macht die Partei, die ihren eigenen Frieden mit staatlicher Machtausübung nie wirklich geschlossen hat, noch unglaubwürdiger als bereits die Tändeleien bei der bundesrepublikanischen Antiterrormission.
Allein Frau Hamm-Brücher und einige Linksliberale, die das ältere Betroffenheitsdiskursmodell repräsentieren, machen alles richtig. Nur entzieht sich die Schamliga eben damit der in diesem polemischen Leertheater entzündeten Frage, wie zwischen der Kritik an Scharons Militärpolitik und Antisemitismus zu unterscheiden ist.
Tod eines Autors?
Martin Walser ist also ab jetzt der Robert Steinhäuser im deutschen Literaturbetrieb. Seine Ressentiments gegen Marcel Reich-Ranicki hat er in seinem unveröffentlichten "Tod eines Kritikers" nun zum Amoklauf mit nur einem, dafür aber prominenten Opfer "sublimiert". Einem Opfer, das selbst nicht gerade zimperlich mit literarischen Endurteilen ist. Reich-Ranicki spricht seit Jahrzehnten seine selbstherrlichen Machtwörter, ohne sich je in hermeneutische Begründungsfeinheiten zu verlieren, wenn er seine Qualitätsmaßstäbe exekutiert.
Für die "FAZ" und andere ist mit Walsers Elaborat die Grenze des Zumutbaren überschritten. Aber was heißt zumutbar und vor allem für wen? Sollte Walsers "Tod eines Kritikers" über die persönliche Abrechnung mit einem Literaturbetrieb, der ihn gut ernährt und zumeist hofiert hat, hinausgehen und mit antisemitischen Klischees spielen, wäre das immer noch Anlass genug, auf den unhintergehbaren Unterschied zwischen Autor und Werk zu bestehen. Selbst wenn nach so eiliger wie befremdlicher Erkenntnis der FAZ angeblich für Walser Gedanken Taten sind, braucht der Leser keine Vorkoster, die sich über die Verdaulichkeit seiner Lektüren sorgen. Schirrmacher sieht elementare Anstandsregeln durch das Buch verletzt, "durch den naiven Versuch, ausgerechnet die 'FAZ' zum Komplizen einer solchen Hinrichtung ihres eigenen Mitarbeiters zu machen."
Tyrannei der Öffentlichkeit
Wenn der Versuch naiv ist, könnte man ihn beruhigt zu den Akten legen, ohne großkalibrige Medienhaubitzen auszufahren. Es steht dem Herrn Herausgeber frei, sein Blatt dem Dichter diesmal zu verweigern. Aber wenn Walsers Text doch so unerträglich antisemitisch ist, was wiederum von den Cheflesern der "Süddeutschen" bestritten wird, sollte schließlich nicht der Kritiker, sondern der Autor in einer kritischen Öffentlichkeit daran sterben. Aber bitte nur metaphorisch!
Auch Schirrmachers Begründungen, warum die Absage noch vor der Veröffentlichung des Werks öffentlich als Schlammschlacht aufgeführt wird, überzeugen nicht. Das ist nicht nur Erziehung zur Unmündigkeit, sondern eine neue Tyrannei des Öffentlichen. So werden Bücher schon vor ihrer Drucklegung verbrannt, um ihnen dann paradox genug zu wünschen, doch veröffentlicht zu werden, um keinen Mythos entstehen zu lassen, den man bereits selbst produziert hat. Walsers Nettoverkaufsbeteiligung wird Schirrmachers Schelte im Übrigen nicht schaden, so dass er sich bei diesem an sich artig für die kostenlos gewährten Aufmerksamkeitsgewinn bedanken könnte.
Im Schlepptau von Schirrmacher erscheinen jetzt die üblichen aufmerksamkeitsheischenden Frühwarner und Spätaufklärer, die sich wie Walter Jens sonst in sensiblen Lektüren ergehen, um diesmal aber Schirrmachers Meinungsfabrikat ohne eigene Sichtung absegnen. Walsers Buch wird also mehrheitlich zerrissen, bevor es gelesen wurde. Das ist Vorzensur, die nicht nur auf Kritiker zurückfällt, die sich selbst diskreditieren, sondern ihnen die armseligste Form der Publizität garantiert. Martin Walsers Riposte: Schirrmacher sei selbst ein Antisemit, wenn er vermeintlich antisemitische Klischees in seinem Werk erst durch unzulässige Interpretationen generiere. Hier wird dann die rekursive Durchschlagskraft des Antisemitismus-Projektils endgültig deutlich. Wer das Wort "Antisemitismus" falsch gebraucht, ist ab heute selbst ein Antisemit.
Entsorgung durch die schnellen Halbwertszeiten der Mediendemokratien
Das gegenwärtige Aufmerksamkeitsmassaker enthält die entbehrliche Lehre, dass auch letzte Tabus nicht davor gefeit sind, sich in wohlfeile Angriffsinstrumente politischer Alltagskämpfe zu verwandeln. Was "Antisemitismus" ist, verkommt zur marginalen Frage gegenüber dem Wissen, wie das Codewort in gleichermaßen tabuarmen wie aufmerksamkeitsabhängigen Gesellschaften schussfreudig einzusetzen ist. Die bundesrepublikanische Öffentlichkeit gefällt sich als Polemokratie, die ihr unverarbeitetes Trauma nun als politisches Kampfmittel instrumentalisiert, um es vielleicht so endgültig zu entsorgen.
Indes kann Entwarnung gegeben werden, ist doch auf die Gnade kürzester Halbwertszeiten in Mediendemokratien Verlass, die noch jeden selbstläufigen Skandal schließlich auch wieder in das Archiv der ungelösten Streitfälle verräumt.
Also zurück zum politischen Alltag. Kanzler Schröder lehnt eine Koalition mit der FDP ab, wenn sie ihre Haltung in der Antisemitismusfrage nicht ändere. Kurt Beck, SPD-Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, machte etwas deutlicher, was der Nein-Ja-Kanzler denkt: "Ich bin mir sicher, dass die SPD keine generelle Koalitionsabsage an die FDP beschließen wird. Das wäre auch nicht klug."
Der Mann ist wenigstens ehrlich. Denn beim politischen Überleben hört das Spiel mit Antisemitismus-Klischees nun wirklich auf, jetzt wo Rot-Grün zum politischen Auslaufmodell werden könnte. Zudem haben Möllemanns Statistiken wohl auch nicht so sehr gelitten, wie einige seherisch begabte Politikressorts prophezeien, die ihn bereits als Minister in spe beerdigt haben. Das letzte Wort aber geht an Reich-Ranicki alias Bert Brecht: "Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen: Der Vorhang zu und alle Fragen offen."