Der Nebel um den Anschlag auf Nawalny verdichtet sich
Deutschland will dem Rechtshilfeersuchen Russlands nachkommen, aber keine Informationen weitergeben. Russische Ermittlungsbehörden suchen nach Marina Pevchikh, die mit dem Rettungsflugzeug mitgeflogen war. Hat sie die ominöse Flasche nach Deutschland gebracht?
Es scheint auf deutscher Seite nach den Anschuldigungen Russlands im Fall von Nawalny und den bislang einseitigen Forderungen nach Transparenz an Moskau, doch ein wenig Bewegung zu kommen. Bislang hatte sich vor allem das deutsche Außenministerium geziert. Man habe das am 3. September eingegangene Rechtshilfeersuchen der russischen Generalstaatsanwaltschaft bereits bewilligt, sagte Außenminister Maas, aber es wurden noch keine Informationen weiter gegeben. Als Grund nannte Maas, dass der Gang durch die Behörden seine Zeit brauche.
Gestern Nachmittag hat die Berliner Generalstaatsanwaltschaft schließlich bekannt gegeben, dass sie von der Justizverwaltung Berlins den Auftrag erhalten habe, "Rechtshilfe für das russische Rechtshilfeersuchen durchzuführen und dazu Auskünfte zu dem Gesundheitszustand von A. Nawalny - vorbehaltlich dessen Zustimmung - einzuholen". Weiter wird gleich hinzugefügt: "Weitere Auskünfte sind derzeit nicht möglich." Man kann sich vorstellen, wie im Hintergrund die Mühlen gearbeitet haben, aber offenbar war der Druck doch zu groß geworden, um das weitere Mauern ohne symbolische Gesten fortzusetzen.
Man hat jedoch vorgebaut und erwähnt nur Informationen über den Gesundheitszustand, die man dann immer blockieren kann, aber nicht zum Nowitschok. Die Analyse der Giftspuren - vor allem die auf der ominösen Flasche - dürften freilich kaum als persönliche Informationen gelten, deren Weitergabe Nawalny aus Gründen des Datenschutzes verweigern kann. Der CDU-Politiker und ehemalige Generalstabsoffizier Roderich Kiesewetter hatte gesagt, man dürfe die medizinischen Daten nicht den Russen übergeben. Russland forderte im Rechtshilfeersuchen die Weitergabe aller medizinischen Daten, auch von Proben, biologischem Material und Untersuchungsergebnissen.
Deutsche Strategie: Nichts herausgeben
Gleichwohl scheint man in der Bundesregierung weiter auf Blockieren zu setzen. Regierungssprecher Seibert erklärte gestern, so berichtet die tagesschau, man habe "Schritte zur Beweissicherung eingeleitet, die noch nicht abgeschlossen sind". Es gebe auch nicht näher beschriebene "Vertraulichkeitsgepflogenheiten". Eigentlich verfüge Russland "über alles Notwendige", um eigene Ermittlungen zu dem Mordversuch durchzuführen.
Bekanntlich sagt die russische Seite, man habe keine Giftstoffe gefunden, die einen Anschlagsversuch bestätigen. So habe man zwar Vorermittlungen eingeleitet, warte aber auf die deutschen Beweise für einen Nowitschok-Anschlag. Nach Angaben der Bundesregierung sei Nowitschok vom Bundeswehrlabor "zweifelsfrei" nachgewiesen worden, nachdem zuvor die Charité zwar von einer Vergiftung sprach, aber das Gift nicht identifizieren konnte.
Neues Rechtshilfeersuchen Russlands
Kurz vor der Bekanntgabe der Berliner Generalstaatsanwaltschaft hatte die für Navalny zuständige sibirische Ermittlungsabteilung des russischen Innenministeriums angekündigt, ein weiteres Rechtshilfeersuchen an die deutschen Behörden zu stellen. Darin soll es auch darum gehen, ob russische Ermittler nach Deutschland kommen dürfen und ob ein russischer Experte mit Nawalny sprechen sowie mit den deutschen Ärzten und Experten zusammenarbeiten kann. Man darf vermuten, dass dieses Ersuchen nur taktisch eingereicht werden wird, kaum vorstellbar, dass die Bundesregierung oder auch Nawalny dem zustimmen werden. Nawalnys Mitarbeiter Leonid Wolkow erklärte schon, eine Vernehmung durch russische Ermittler sei "komplett inakzeptabel".
Weiter wird mitgeteilt, dass die Vorermittlungen fortgesetzt würden. Die Verkehrspolizei habe bereits viele Ermittlungen durchgeführt und eine Chronologie des Aufenthalts von Navalny und seinen Begleitpersonen in der Stadt und der Region Tomsk erstellt. Überprüft worden seien alle Unterkunfts- und Aufenthaltsorte wie das Xander Hotel mit dem Restaurant Velvet, eine gemietete Wohnung, in der ein Arbeitstreffen stattfand, und das Café am Flughafen in Tomsk. An diesen Orten habe Nawalny Essen und Getränke zu sich genommen, darunter auch Wein und Cocktails, was die Mitarbeiter Nawalnys bestreiten
Überdies würden alle verfügbaren Informationen analysiert, zudem würde der Aufenthaltsort der Passagiere ermittelt, die sich mit Nawalny in dem Flugzeug befanden. Ob am Flughafen und im Flugzeug nach Giftspuren gesucht wurde, geht daraus nicht hervor. Bekannt ist derzeit nicht, dass eine andere Person im Umkreis von Nawalny Vergiftungserscheinungen zeigte. Das sollte man eigentlich bei Nowitschok erwarten.
Maria Pevchikh und die Wasserflasche
Offenbar ist man nun auch auf die Spur der Wasserflasche geraten, die das Bundeswehrlabor aus noch nicht bekannten Wegen erhalten und darauf Nowitschok-Spuren gefunden hat. Vernommen habe man bisher 5 von 6 Personen, die Nawalny begleitet haben: Vladlen Los, Georgy Alburov, Ilja Pakhomow, Kira Yarmysh und Pavel Zelensky. Nicht vernommen werden konnte Maria Pevchikh, die in Großbritannien lebt, seit 2011 in der Ermittlungsabteilung von Nawalnys Stiftung FBK arbeitet und am 22. August nach Deutschland geflogen war. Ihr Aufenthaltsort werde derzeit ermittelt. Sie habe sich am 20. August geweigert, sich gegenüber der Polizei zu erklären.
Ob sie mit Nawalny mitgeflogen war, geht daraus nicht explizit hervor. Die nicht unbedingt vertrauenswürdige Pravda hatte am 7. September berichtet, sie sei mit dem Auto nach Nowosibirsk und von dort aus nach Omsk geflogen. Danach war sie mit Nawalny in dem Rettungsflugzeug mitgeflogen - als Übersetzerin. Möglicherweise hat sie so die Flasche mit den Nowitschokspuren, wovon wir allerdings nur über den Spiegel, The Insider und Bellingcat wissen, nach Deutschland als Beweismittel mitgebracht. Die Frage wäre dann, wie sie die Flasche, die angeblich mit dem gefährlichsten Nervenkampfstoff kontaminiert war, sicher nach Berlin bringen konnte, ohne sich und andere zu gefährden.
Die Vermutung, den Anschlag ausgeführt zu haben, wurde in der Pravda, Progoschins Konkord - Progoschin soll ein Vertrauter Putins sein und hinter der Söldnergruppe Wagner und der Trollfabrik stehen - und anderen kremlfreundlichen Medien verbreitet, was natürlich ein Ablenkungsmanöver sein dürfte. In der Pravda wurde berichtet, Pevchikh, die auch in Beziehung zu Chodorkowski stehe, sei im Auftrag von Vladimir Ashurkov, dem Direktor von Nawalnys Antikorruptionsorganisation FBK und führendem Mitglied von Nawalnys Fortschrittspartei, nach Sibirien mitgefahren.
Ashurkov war Banker und einige Jahre in führender Position bei Alfa Group Consortium. Er gründete mit Nawalny FBK und sorgte für Geldgeber, 2013 verließ er wegen Betrugsvorwürfen Russland und erhielt 2015 Asyl in Großbritannien. Pevchikh habe sich während der Sibirienreise immer bei Nawalny aufgehalten und habe auch mit ihm zusammen ein Hotelzimmer geteilt.
Ashkurov habe sich mit Nawalny über dessen Entscheidung gestritten, die FBK aufzulösen und eine neue Organisation zu gründen. Damit will Nawalny einer Schadensersatzforderung in Höhe von 88 Millionen Rubel entgehen. In einem Film über eine mit Progoschins Konkord verbundene Firma, die die Verpflegung von Schulkindern betreut, wurden nach Ansicht eines Gerichts falsche Informationen verbreitet. 2019 hatte die FBK-Zentrale nach BBC-Angaben 82,3 Millionen Rubel an Spenden erhalten, die regionalen Zentren 191 Millionen zusätzlich. Nach Konkord soll Pevchikh das Gift in die ominöse Flasche getan haben. Nach Pravda war sie hingegen die einzige, die mit Nawalny nach Berlin geflogen war, Nawalnys Ehefrau und andere Mitglieder des Teams sei die Mitreise verweigert worden. Nach Pravda habe Pevchikh die Flasche an die deutschen Behörden übergeben.
Nach Informationen von Meduza konnte Pevchikh allerdings am 22. August unbehelligt aus Russland ausreisen. Die russischen Strafverfolgungsbehörden hätten sie seitdem nicht kontaktiert, obgleich ihr russisches Handy immer eingeschaltet sei. Auch eine Vorladung habe sie nicht erhalten. Verraten wird aber auch nicht, wo sie sich jetzt aufhält. Suggeriert wird, sie könne mit den britischen Geheimdiensten und/oder mit den russischen Oligarchen in Großbritannien zusammenarbeiten. Viel über sie ist nicht bekannt.
Neues vom Spiegel
Gestern legte auch der Spiegel noch einmal in der Nawalny-Geschichte nach, allerdings ohne die Quellen zu nennen. Wiederholt wird, dass Nawalny mit einer stärkeren Nowitschok-Substanz angegriffen wurde. Das habe auch BND-Chef Bruno Kahl beim Treffen im Kanzleramt letzte Woche bestätigt. Nawalny sei, weil doch der russische Geheimdienst Nawalny und seine Mitarbeiter andauernd beobachtet habe, auf dem Weg zum oder am Flughafen vergiftet worden - was allerdings bedeuten würde, dass das Gift, das angeblich schnell wirken würde, relativ lange gebraucht hatte, bis das Opfer zusammenbrach. Jetzt soll eben die neue, "härtere" Nowitschok-Variante langsamer wirken. Und je neuer und komplexer die Variante ist, desto eher seien die russischen Geheimdienste verantwortlich. Ein Hinweis, wie und wodurch er mit dem Gift in Kontakt kam, wird nicht präsentiert. Angeblich sei es die Überzeugung der deutschen Sicherheitsbehörden, dass Nawalny im Flugzeug sterben sollte. Nur die schnelle Notlandung der russischen Piloten und die Behandlung der russischen Ärzte hätten sein Leben gerettet. Dass dies das "System Putin", das man hinter dem Anschlag vermutet, nicht verhindert hat, ist nur eine der Seltsamkeiten.
Zudem will der Spiegel erfahren haben, dass letztes Wochenende bereits ein Team der OPCW in der Charité war, dem Blut- und Urinproben zur Untersuchung übergeben worden wäre. Das deutsche Verteidigungsministerium hatte bereits erklärt, man habe Informationen über die Nowitschok-Analyse an die OPCW weitergeleitet. Der russische OPCW-Botschafter hatte sich nach dem Wochenende angeblich bei der Organisation erkundigt und dort erfahren, dass nichts angekommen sei. Von der OPCW gibt es bislang keine offizielle Erklärung.