Der Realitätsverlust von Bundeskanzler Olaf Scholz
ARD-Sommerinterview von Kanzler Scholz mit Tina Hassel vom Hauptstadtstudio. Bild: Bundesregierung
Im Sommerinterview redet sich der Kanzler eine schöne neue Welt herbei. Tatsächlich betreibt die Regierung eine unmenschliche Politik. Warum Missstände zu Katastrophen werden können und gehandelt werden muss.
Im Sommerinterview der ARD mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) versuchte er gute Stimmung zu verbreiten. Das "Menschliche" funktioniere in der Ampelregierung, so Scholz.
Viele Probleme und Herausforderungen würden angepackt. Jetzt habe man mit dem Gebäudeenergiegesetz, auch Heizungsgesetz genannt, zudem den Kurs Richtung eines klimafreundlichen Umbaus von Wirtschaft und Gesellschaft gestellt.
Die Botschaft ist: Alles wird gut.
Doch das ist keineswegs so. Weiter werden lediglich Heftpflaster für die großen, eskalierenden Missstände angeboten. Das Bürgergeld ist größtenteils ein Etikettenschwindel. Das entwürdigende Sanktionsregime von Hartz IV wurde damit keineswegs beendet. Die Regelsätze sind vor allem angesichts der Inflation Armutssätze, wie Sozialverbände kritisieren.
Über die Kindergrundsicherung und ihre Höhe wird weiter gestritten, weil die FDP blockiert. Dazu kommt eine ungelöste Gesundheitskrise, während weitere Kassenbeitragserhöhungen drohen.
Altersarmut und Pflegekrise, Kinderarmut, kaputte Schulen und Lehrermangel, soziale Kürzungen in abgehängten Wohnvierteln: All das müsste entschlossen mit einem kohärenten, gut finanzierten Programm angegangen werden. Doch an Mut, politischem Konzept und den finanziellen Mitteln für Wichtiges fehlt es der Bundesregierung. Das Militär bekommt es, beim Sozialen wird gespart und geknausert.
Die Kommunen leiden derweil weiter unter der Schuldenbremse, die es vielen unmöglich macht, in notwendige Infrastrukturen und soziale Dienstleistungen zu investieren. Solange sich daran nichts Wesentliches ändert, wird Frust gesät und Zorn geerntet, vor allem in vernachlässigten Regionen.
Die AfD kann davon profitieren. Da hilft auch keine Scholz-PR mit Sprüchen, gute Zukunftsperspektiven für das Land bieten zu wollen. Die Menschen registrieren sehr wohl, dass es Versprechen sind, denen seit Langem die entsprechenden Taten fehlen.
Sicherlich gibt es in Sachen Klimaschutzpolitik und Energiewende von der Ampel einige Impulse, die in die richtige Richtung gehen. So will Wirtschaft- und Klimaschutzminister Robert Habeck (Grüne) die staatlichen Hilfen für die Solar- und Windindustrie verstärken und bürokratische Hemmnisse verringern.
Aber unter dem Strich versagt die Regierung auf fatale Weise, die Wende einzuleiten. Die Wind- und Solarbranche wird in Deutschland insgesamt weiter ignoriert, die deswegen auch nicht zurückkommt, während LNG-Terminals für Erdgaslieferungen (darunter auch dreckigstes Fracking-Gas aus den USA) wie die vor Rügen gegen breiten Protest durchgeboxt werden.
Das Klimaschutzgesetz wurde derweil vom Klimakanzler aufgeweicht, auch hier konnte sich die FDP durchsetzen, auch, weil Scholz und die SPD keinen Klimakompass besitzen und Lobbys bedienen. Man muss nur nach Hamburg schauen, wo unter SPD-Herrschaft und insbesondere unter Oberbürgermeister Scholz eine der schlechtesten Bilanzen erzielt wurde, wenn es um die Minderung von Treibhausgasen geht.
So wurden die im Klimagesetz festgeschriebenen Sektorenziele von Scholz gestrichen. Damit werden den einzelnen Ministerien genaue Vorschriften gemacht, wie die Treibhausgase gesenkt werden müssen.
Wenn ein Sektor wie Industrie, Energiewirtschaft, Verkehr oder Landwirtschaft seine Ziele also zu verfehlen droht, muss ein Notfallplan erstellt und umgesetzt werden. Das ist jetzt nicht mehr notwendig – dank Klimakanzler.
Experten und Umweltverbände wie der WWF argumentieren, dass damit gegen geltendes Recht verstoßen werde. Eigentlich müsste die Regierung bis zum 17. Juli Sofortprogramme für den Verkehrs- und Gebäudesektor vorlegen. Dort wurden die Emissionsmengen im letzten Jahr überschritten.
Eine unangenehme Wahrheit
Auch in einem anderen Punkt soll die Ampel Rechtsbruch betreiben und gegen das geltende Klimaschutzgesetz verstoßen haben. So sei der Klimaschutzbericht für das Vorjahr nicht an den Bundestag fristgerecht eingereicht worden. Auch die EU-Verpflichtung, einen Nationalen Energie- und Klimaplan vorzulegen, wurde wohl missachtet.
Und nicht zuletzt wurde nach wochenlangen "Heizhammer"-Kampagnen gegen die Wärmewende das Heizungsgesetz geschreddert. Selbst beim ersten ambitionierteren Gesetzesentwurf, so das Umweltbundesamt, wären die Klimaziele im Gebäudesektor nur schwer erreichbar gewesen.
Die jetzt eingefügte "Technologieoffenheit" und die lascheren Vorgaben machen die Zielerreichung noch unwahrscheinlicher, wenn nicht unmöglich – und erzeugen zugleich Fehlinvestitionen und am Ende Mehrkosten für die verunsicherten Bürger:innen.
Dabei müsste das Klimaziel der Bundesregierung noch aufgestockt werden, und zwar schnell. Denn die Emissionsmarke der Regierung, bis 2045 klimaneutral zu werden, ist bei Weitem nicht ausreichend, um die beim Pariser Klimagipfel vereinbarte Obergrenze von maximal 1,5 bis zwei Grad Celsius Erderhitzung einhalten zu können.
Wie der Weltklimarat IPCC berechnet hat, bleiben für 1,5 bis 1,7 Grad ab jetzt nur noch 350 Milliarden Tonnen an CO2-Äquivalenten übrig. Momentan verbrauchen wir pro Jahr global 40 Milliarden Tonnen. Also in nicht einmal zehn Jahren ist der "Kohlenstoffkuchen" aufgegessen. Die Emissionen müssten in wenigen Jahren, bis 2030, daher halbiert werden, um noch eine Chance zu haben, die Obergrenze zu halten.
Industriestaaten wie Deutschland müssten dafür ihr Tempo deutlich erhöhen und dürften zwischen 2030 und 2035 bereits keine Emissionen mehr ausstoßen, wie auch der Sachverständigenrat für Umweltfragen feststellt.
Die Folgen eines Überschreitens der 1,5 bis zwei Grad Obergrenze an Erderhitzung sind allseits bekannt und an den gegenwärtigen Klimakrisen mit Hitzewellen, Dürren, Waldbränden, Stürmen, Überschwemmungen, Meeresspiegelanstieg und dem Abschmelzen von Gletschern gut zu studieren. Die rasante und eben nicht lineare Zunahme von Klimakatastrophen wird in Zukunft das Leben von Milliarden von Menschen gefährden.
Besorgniserregend ist dabei die immer dichtere Folge von Studien, die zeigen, dass Kipppunkte wie das Abschmelzen des antarktischen Eisschilds, das Auftauen von Permafrostböden oder die abnehmende Zirkulation in den Ozeanen erreicht sein könnten. Eine aktuelle Studie hat gerade davor gewarnt, dass Kipppunkte wie der Zusammenbruch des Amazonas-Regenwalds früher als vom IPCC prognostiziert schon vor 2100 eintreten könnten.
All das sollte uns zeigen, dass die Scholz-Rhetorik im Sommerinterview in einem Paralleluniversum stattfindet – und die Medien das Ganze nur wie eine Theaterperformance goutieren oder eben nicht. Die Probleme und Herausforderungen sind aber enorm und werden nicht durch nette Worte und bessere Kommunikation gelöst. Auch nicht durch ein bisschen Nachjustieren.
Am Ende ist es das politisch Radikale, das vom Aussitzen der Missstände profitieren wird.
Der renommierte Klimaforscher Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) bringt es in Bezug auf die verfehlte Klimapolitik der Ampel auf Spiegel Online derart auf den Punkt:
Wer jetzt weiterer Verschleppung das Wort redet, ruft zu verfassungswidrigem Verhalten auf. Und ist so verantwortungslos wie jemand, der bei einem nahenden Tsunami den Leuten erzählt, sie sollten ruhig noch am Strand verweilen.