Der Ukraine-Krieg und die zunehmende Bedrohung durch Nuklearwaffen

Mahnmal gegen den Krieg: Flandern-Bunker in Kiel. Bild: KarleHorn, CC BY-SA 4.0

Ein geplanter Redebeitrag am Flandernbunker vor der Tirpitzmole über die neue atomare Aufrüstung.

Als Mitglied der Kieler Gruppe der IPPNW, das ist die Abkürzung für die Organisation "Internationale Ärztinnen und Ärzte gegen den Atomkrieg und für soziale Verantwortung", die 1985 den Friedensnobelpreis erhalten hat, möchte ich nachdrücklich auf die uns alle bedrohende Atomkriegsgefahr hinweisen, die mit dem seit Monaten tobenden Ukraine-Krieg verbunden ist.

Der renommierte US-Politologe John Mearsheimer gehört zu den Wissenschaftlern, die sagen, dass für die seit 2014 schwelende Ukraine-Krise der Westen die Hauptverantwortung trägt und es sich bei dem Ukraine-Krieg im Grunde um einen Krieg zwischen den USA und Russland handelt, mit den Ukrainern als Stellvertreter auf dem Schlachtfeld.

Ursache der Krise sei, dass die US-Regierung die Ukraine in die Nato aufnehmen und Russland in die Knie zu zwingen will. Mearsheimer und andere Analysten warnen vor den Folgen: Es sei die gefährlichste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg, die zu einem Atomkrieg eskalieren könne.

Die Atomkriegsgefahr ist wieder real

Im jährlichen Bericht des Stockholmer Friedensforschungsinstitut Sipri, der kürzlich veröffentlicht wurde, ist von einem beunruhigenden Trend die Rede: Dem Papier zufolge hat das Risiko eines Atomwaffeneinsatzes nun den höchsten Stand seit den Zeiten des Kalten Krieges erreicht.

Laut dem Bericht der Organisation besitzen Russland und die USA mit einer Anzahl von jeweils rund 6.000 zusammen über 90 Prozent aller in der Welt vorhandenen Nuklearwaffen.

Zerstörungsradien bei der Explosion einer SS-25 in deutschen Hauptstädten (16 Bilder)

Voraussichtliche Zerstörung beim Einschlag einer russischen SS-25 mit 800 Kilotonnen in Kiel. Bild: Screenshot Nukemap. Eine ausführliche Legende zu den Zerstörungsradien finden Sie hier.

Alle neun Atommächte seien entweder dabei, neue Waffensysteme zu entwickeln und zu stationieren, oder hätten dies angekündigt. China erweitere derzeit sein Atomwaffenarsenal beträchtlich, was Satellitenbildern zufolge auch den Bau von über 300 neuen Raketensilos umfasst. Experten gehen daher davon aus, dass die Zahl der Atomwaffen auf der Welt in den nächsten zehn Jahren weiter zunehmen wird.

Obwohl im vergangenen Jahr mit dem Inkraftsetzen des Atomwaffenverbotsvertrags, auf den ich am Schluss noch kurz eingehen werde, bei der weltweiten Kontrolle der Atomwaffen ein Fortschritt erzielt wurde, ist nach Einschätzung des Sipri-Direktors das Risiko des Einsatzes von Atomwaffen heute höher als jemals zuvor seit dem Ende des Kalten Krieges 1991.Der Grund dafür ist die zunehmende Verschlechterung der Beziehungen zwischen den Atommächten der Welt.

Kuba-Krise 1962

Ich gehöre zu der älteren Generation, deren Angehörige sich aus eigenem Erleben noch an die dramatischen Tage der Kuba-Krise im Oktober und November 1962 erinnern können.

Diese Krise zwischen den beiden damaligen Supermächten USA und Sowjetunion wurde durch einen Kompromiss beendet, bei dem Nikita Chruschtschow die von den USA als bedrohlich angesehenen russischen Raketen in Kuba abzog und im Gegenzug John F. Kennedy auf entsprechende in der Türkei stationierte Atomraketen verzichtete.

Wir wissen heute, dass dieser Kompromiss, der 1962 eine atomare Katastrophe gerade noch verhindert hat, das Ergebnis einer mündlichen Absprache zwischen den beiden verantwortlichen Politikern hinter dem Rücken der Militärs und der Geheimdienste gewesen ist. Deshalb war ein Mindestmaß an gegenseitigem Vertrauen Voraussetzung für ein derartiges Übereinkommen.

Dieses notwendige Vertrauen auf Seiten Russlands ist durch die Politik der Nato-Osterweiterung seit 1999, durch eine in den letzten Jahren ständig zunehmende und zuletzt maßlose russlandfeindliche Propaganda in unseren Hauptmedien und durch die beispiellosen Wirtschaftssanktionen des Westens gegenüber Russland jedoch weitgehend zerstört worden.

Man fragt sich, wie auf dieser Basis noch vernünftige Gespräche bei den hoffentlich bald beginnenden Friedensverhandlungen zwischen den Verantwortlichen beider Seiten zu führen sind, mit dem dieser schreckliche Krieg in der Ukraine beendet werden könnte.

Ein finaler Atomkrieg droht

Der Krieg in der Ukraine geht nun schon in den vierten Monat, aber eine Waffenruhe oder eine Lösung ist nicht in Sicht. In der Zwischenzeit versuchen die russischen Streitkräfte, die Ostukraine ganz zu erobern, während die USA und die Nato-Staaten die Regierung Selenskyj massiv mit vielen Milliarden Dollars und mit schweren Waffen unterstützen. Das erklärte Ziel ist, Russland zu schwächen, in der Hoffnung, dass es zu einem Regimewechsel in Moskau kommt.

In einem aktuellen Interview über den Ukraine-Krieg kommt Noam Chomsky, einer der bekanntesten progressiven Intellektuellen und politischen Aktivisten in der Welt, zu der Einschätzung, dass eine wachsende Bedrohung durch einen finalen Atomkrieg bestehe.

Er sagt in diesem Interview mit C. J. Polychroniou, das auf Deutsch bei Telepolis erschien, es sei nur allzu leicht, plausible Szenarien zu entwerfen, die zu einem schnellen Aufstieg auf der Eskalationsleiter führen. Chomsky nannte als Beispiel, dass sie USA derzeit moderne Antischiffsraketen in die Ukraine schickten. Das Flaggschiff der russischen Flotte sei bereits versenkt worden. "Nehmen wir an, ein größerer Teil der Flotte wird angegriffen. Wie wird Russland dann reagieren? Und was folgt dann?", so Chomsky, der anfügt:

Ein weiteres Szenario: Bisher hat Russland davon abgesehen, die Versorgungslinien anzugreifen, über die schwere Rüstungsgüter in die Ukraine geliefert werden. Nehmen wir an, die russische Regierung tut dies und gerät damit in eine direkte Konfrontation mit der Nato – also den USA.

Es kursieren noch andere Vorschläge, die mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem Atomkrieg führen würden – was für uns alle das Ende bedeutet. Aber dem wird nicht wirklich Beachtung geschenkt.

Einer der Vorschläge beinhaltet die weit verbreitete Forderung nach einer Flugverbotszone, was bedeuten würde, dass Flugabwehranlagen innerhalb Russlands angegriffen werden sollen.

Ergänzt sei noch, dass die Militärdoktrinen der Nato und auch Russlands den Ersteinsatz von Nuklearwaffen nicht ausschließen.

So ist etwa der Ersteinsatz russischer Atomwaffen möglich, wenn die Existenz der Russischen Föderation auf dem Spiel steht. Entsprechende Warnungen des russischen Außenministers Lawrow, der Ukraine-Krieg könne zu einem Weltkrieg eskalieren, liegen bekanntlich vor.

Was bedeutet vor diesem Hintergrund die Ankündigung unserer Außenministerin, dass sie "Russland ruinieren" wolle? Will sie tatsächlich einen Atomkrieg provozieren?

Gibt es Hoffnungen?

Meine Hoffnung ist, dass der Ukraine-Krieg "nicht bis zum letzten Ukrainer" weitergeführt wird. Solange das geschieht, wird das Risiko eines sich daraus entwickelnden großen Krieges in Europa bis hin zu einem Atomkrieg wie ein Damoklesschwert über uns schweben.

Stattdessen hoffe ich, dass dieser Krieg möglichst bald nach einem Waffenstillstand auf diplomatischem Wege beendet wird, wobei auch die berechtigten Sicherheitsinteressen Russlands, die z. B. in einer Neutralisierung der Ukraine bestehen, berücksichtigt werden müssen.

Hier ist anzumerken, dass die Ukraine seit ihrer Staatsgründung 1991 bis zum Maidan-Putsch 2014, bei dem eine demokratisch-gewählte russlandfreundliche Regierung gegen eine prowestliche gewaltsam ausgetauscht wurde, ein neutraler Staat gewesen ist.

1991 ist mit dem Untergang der Sowjetunion eine unipolare Weltordnung entstanden, mit den USA als der alleinigen Führungsmacht in der Welt, die bis heute versuchen, ihre vermeintlichen Interessen rücksichtslos und mit allen Mitteln durchsetzen.

Die Kräfteverhältnisse in der Welt haben sich jedoch in den letzten ein bis zwei Jahrzehnten, vor allem durch den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas, verändert.

Deshalb hoffe ich, dass wir uns in einiger Zeit in einer von mehreren großen Ländern und Mächten bestimmten multipolaren Weltordnung wiederfinden, in der sich die wichtigsten Akteure auf eine friedliche Koexistenz als Grundlage für eine zeitgemäße internationale Politik auf der Basis des Völkerrechts zurückbesonnen haben.

Das wäre aus meiner Sicht die wichtigste Voraussetzung dafür, dass eine unbedingt notwendige weltweite Zusammenarbeit in gegenseitigem Respekt zwischen allen großen und kleinen Staaten auf dieser Welt realisiert werden könnte, damit die drängenden Probleme der Menschheit wie die sich immer stärker abzeichnende weltweite Klimakatastrophe, der Hunger in der Welt und die erneute Gefahr eines Atomkrieges gemeinsam gelöst werden können.

In einer mittel- und langfristigen Perspektive zählt zu meinen Hoffnungen auch der Atomwaffenverbotsvertrag, für den sich die IPPNW einsetzt. Diesen Vertrag haben 122 Staaten der UNO unterzeichnet und er ist im letzten Jahr in Kraft getreten. An diesem Wochenende findet in Wien die erste weltweite Konferenz der Unterzeichnerstaaten statt. Deutschland hat bisher leider nicht unterzeichnet, will aber mit einem Beobachterstatus teilnehmen.

Seit mehr als 60 Jahren sind US-Atomwaffen in Deutschland stationiert. Die in Fliegerhorst Büchel in der Eifel gelagerten 20 Atombomben sollen im Ernstfall von deutschen Piloten ins Ziel gebracht werden. Die makabre Bezeichnung dafür ist "nukleare Teilhabe". In Wirklichkeit bedeutet das, dass Büchel ein mögliches vorrangiges Ziel für einen atomaren Angriff ist.

Der Beitritt Deutschlands zum Atomwaffenverbotsvertrag würde den Abzug der Atomwaffen aus Deutschland und die Beendigung der nuklearen Teilhabe Deutschlands in der Nato bedeuten und damit das Leben in unserem Lande sicherer machen.

Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin – Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e.V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhinderung des Atomkrieges und für soziale Verantwortung) mit. E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de

Der vorliegende Text war als Redebeitrag bei der Protestmahnwache "Nein zu Baltops und Defender! Sie bereiten den nächsten Krieg vor – direkt vor unserer Haustür" am 18.6.2022 am Flandernbunker vor der Tirpitzmole geplant, konnte dort vom Autor nicht gehalten werden, wurde aber verlesen. Die Aktion wurde initiiert vom Kieler Friedensforum, unter dem Motto "Frieden auf der Ostsee! Frieden in Europa!"