Die Ukraine-Krise als "umgekehrte Kuba-Krise"

US-Luftaufnahmen von sowjetischen Raketen in Kuba, 1962. Bild: U.S. National Archives and Records Administration

Russlands Ukraine-Krieg ist illegal, aber für die Ukraine-Krise ist der Westen verantwortlich, so der der US-Politologe Mearsheimer. Anmerkungen zu einer bedrohlichen Entwicklung und notwendigen Verhandlungen

Ich gehöre zu der älteren Generation, deren Angehörige sich aus eigenem Erleben noch an die dramatischen Tage der Kuba-Krise im Oktober 1962 erinnern können. Diese geopolitische Krise zwischen den beiden damaligen Supermächten USA und Sowjetunion wurde durch einen Kompromiss beendet, bei dem Nikita Chruschtschow die von den USA als bedrohlich angesehenen russischen Raketen in Kuba abzog und im Gegenzug John F. Kennedy auf entsprechende in der Türkei stationierte Atomraketen und nach der Schweinebucht-Invasion 1961 auf einen weiteren militärischen Angriff auf Kuba verzichtete.

Der Journalist Mathias Bröckers berichtet, dass dieser Kompromiss, der 1962 eine atomare Katastrophe verhindert hat, das Ergebnis einer mündlichen Absprache zwischen den beiden verantwortlichen Politikern hinter dem Rücken der Militärs und der Geheimdienste gewesen sei. Deshalb war ein Mindestmaß an gegenseitigem Vertrauen Voraussetzung für ein derartiges Übereinkommen.

Dieses notwendige Vertrauen auf Seiten Russlands ist durch die Politik der Nato-Osterweiterung seit 1999 und eine in den letzten Jahren ständig zunehmende und zuletzt maßlose russlandfeindliche Propaganda in unseren Hauptmedien und die beispiellosen Sanktionen des Westens jedoch weitgehend zerstört worden.

Der seit Längerem laufende Informations- und Wirtschaftskrieg des Westens gegen Russland wird in unseren Medien von Tag zu Tag hysterischer. So hat vor einigen Wochen US-Präsident Biden seinen Kontrahenten Putin öffentlich einen "Mörder" und "Schlächter" genannt. Man fragt sich, wie auf dieser Basis noch vernünftige Gespräche bei den hoffentlich bald beginnenden Friedensverhandlungen zwischen den Verantwortlichen beider Seiten zu führen sind, mit dem dieser schreckliche Krieg beendet werden könnte.

Vorbemerkungen

Seit der Kuba-Krise habe ich die Friedensbewegung unterstützt. Zusammen mit vielen Tausenden Gleichgesinnter habe ich 1983 an den Protesten gegen den Nato-Doppelbeschluss im Bonner Hofgarten teilgenommen. Mitte der 1980er-Jahre bin ich dann Mitglied der IPPNW (Internationale Ärzte gegen den Atomkrieg und für soziale Verantwortung) geworden und habe angesichts der damals drohenden Aufstellung der amerikanischen Pershing-II-Atomraketen in Deutschland informative Veranstaltungen mit Medizinern organisiert und mit Flugblättern mit der Überschrift "Wir werden Euch nicht helfen können" vor einem nuklearen Inferno gewarnt.

Wenn ich meine aktive Erinnerung an die letzten sieben Jahrzehnte Revue passieren lasse, dann sehe ich, dass sich nach Ende des Zweiten Weltkrieges die ununterbrochene Reihe von Kriegen und Gewalttaten früherer Zeiten weltweit fortgesetzt hat, obwohl 1945 die Uno als Weltfriedensorganisation gegründet und die Charta der Vereinten Nationen mit einem zwischenstaatlichen Gewaltverbot verabschiedet worden ist.

Nach der Uno-Charta sind nur zwei Arten von Kriegen mit dem Völkerrecht vereinbar, also "legal": Kriege zur Selbstverteidigung und solche, bei denen der Weltsicherheitsrat der UNO zugestimmt hat. Angriffskriege, und das sind die meisten der seit 1945 geführten Kriege gewesen, waren und sind dagegen illegal, also völkerrechtswidrig.

Für die meisten dieser illegalen Kriege sind die USA und die Nato-Länder verantwortlich, wie der Schweizer Historiker und Friedensforscher Daniele Ganser in seinem mutigen und gut recherchierten Buch "Illegale Kriege" aus dem Jahre 2016 detailliert nachgewiesen hat.1

Auch nach dem Ende des Kalten Krieges 1990 hat sich an dieser Situation leider nichts zum Besseren geändert. Zu den seitdem geführten illegalen Kriegen gehören die Kriege der USA, der Nato und des Westens im Nahen und Mittleren Osten: im Irak 1991 und 2003, in Afghanistan von 2001 bis 2021, in Libyen 2011 und der seit 2011 andauernden Krieg in Syrien, mit Millionen von Toten und zerstörten Gesellschaften.

Ein besonders aufschlussreiches Kapitel in Gansers Buches behandelt den illegalen Angriffskrieg der Nato gegen Jugoslawien im Jahre 1999, der der erste Krieg nach 1945 war, an dem sich Deutschland beteiligt hat, was in unseren Hauptmedien jetzt meist unter den Tisch gekehrt wird, wenn gesagt wird, dass der jetzige Ukraine-Krieg der erste in Europa geführte Krieg seit 1945 sei.

In dem völkerrechtswidrigen Jugoslawien-Krieg dauerte das Nato-Bombardement unter maßgeblicher Beteiligung von deutschen Tornado-Jagdflugzeugen 78 Tage und Nächte, galt besonders der zivilen Infrastruktur in Serbien und hat schätzungsweise 3500 Menschen das Leben gekostet.2

Angriffskriege sind zu verurteilen, aber die Hintergründe sind aufzuklären

Ich bin ein entschiedener Kriegsgegner, auch, weil ich überzeugt bin, dass sich durch Krieg in unserer komplexen Welt keine Probleme lösen lassen, und ich halte das zwischenstaatliche Gewaltverbot der UNO-Charta für einen wichtigen zivilisatorischen Fortschritt.

Deshalb war ich entsetzt und schockiert, als am 24.02.2022 russische Truppen die Ukraine angegriffen haben. Diesen illegalen Angriffskrieg Russlands lehne ich ebenso entschieden ab wie etwa den Jugoslawien-Krieg 1999 oder die vielen anderen oben genannten illegalen Kriege und Gewalttaten der USA und des Westens seit 1945.

Dass es zu diesem Krieg kommen würde, damit hatte ich bis zum Tag der Invasion nicht gerechnet. Deshalb habe ich mich nach dem ersten Schock in den letzten Wochen noch einmal mit der Vorgeschichte dieses Krieges, mit der seit vielen Jahren schwelenden Ukraine-Krise, beschäftigt, dessen trauriger Höhepunkt der jetzige Krieg ist, um deren Hintergründe besser zu verstehen.

Damit soll dieser Angriffskrieg natürlich nicht relativiert werden. Aber die Vorgeschichte und die Hintergründe dieses Krieges müssen zur Kenntnis genommen und berücksichtigt werden, wenn er auf diplomatischem Wege beendet werden soll.

Das wird aber nach meiner Überzeugung nur möglich sein, wenn auch den berechtigten Sicherheitsinteressen Russlands dabei Rechnung getragen wird. Und diese sind nur erkennbar, wenn man sich sachlich und ohne Vorurteile mit diesem Krieg beschäftigt.

Wer ist verantwortlich für die Ukraine-Krise?

Bei der Beantwortung dieser Frage ist von zentraler Bedeutung, dass in zahlreichen öffentlichen Verlautbarungen und Gesprächsprotokollen der verantwortlichen Politiker im Kontext der Wiedervereinigung Deutschlands von Seiten des Westens der russischen Seite immer zugesichert wurde, dass sich die Nato über die Grenzen Deutschlands hinaus keinen "Inch" weiter nach Osten ausdehnen wird.

Ohne diese Zusicherung hätte es damals wahrscheinlich keine Wiedervereinigung gegeben. Entgegen diesem Versprechen wurden 1999 und 2004 die ersten beiden Nato-Osterweiterungen vom Westen durchgeführt und viele osteuropäische Länder, ehemalige Warschauer-Pakt-Staaten, wurden in die Nato aufgenommen.

Russland als Nachfolgestaat der Sowjetunion hat dagegen protestiert, war aber zu dieser Zeit durch die erlittene und von den USA orchestrierte "Schocktherapie" bei der wirtschaftlichen Umgestaltung zu einem kapitalistischen Land schwach und zu ohnmächtig, um sich dagegen wirksam zur Wehr setzen zu können.

Als dann auf dem Bukarester Nato-Gipfel 2008 auch der Ukraine und Georgien die Nato-Mitgliedschaft perspektivisch angeboten wurde, hat Russland immer wieder darauf hingewiesen, dass es seine existentiellen Sicherheitsinteressen bedroht sieht, wenn das erfolgen sollte.

Verantwortliche russische Politiker haben seitdem bei vielen Gelegenheiten zum Ausdruck gebracht, dass sie die Aufnahme der Ukraine und Georgiens in die Nato als eine "existentielle Bedrohung" für Russland ansehen würden und haben hier eine eindeutige rote Linie gezogen, wie das 1962 Kennedy bei der Stationierung von russischen Raketen auf Kuba getan hat.

Kurz vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine erschien in der Schweizer Onlinezeitung infosperber ein Interview mit dem britischen Politikwissenschaftler Richard Sakwa, der den gegenwärtigen Ost-West-Konflikt erläutert.

Er spricht von einem zweiten Kalten Krieg, in dem wir uns wieder befinden, und von einer "umgekehrten Kuba-Krise in Zeitlupe", die sich in der Ukraine, einem Land mit einer aus historischen Gründen kulturell gespaltenen Bevölkerung an der Grenze zu Russland, spätestens seit dem von den USA und den EU-Ländern unterstützten Maidan-Putsch 2014 entwickelt hat.

Sakwa schreibt, dass die USA und die Nato-Staaten auf die nationalistischen Kräfte im Westen der Ukraine gesetzt haben, um die Ukraine in ihren Einflussbereich zu ziehen. Deshalb wurde 2008 auf dem Bukarest-Gipfel dem Land die Nato-Mitgliedschaft angeboten. Viele auf Russland orientierte Menschen im Osten des Landes waren aber mit einer Nato-Mitgliedschaft nicht einverstanden.

Als Reaktion auf den Maidan-Putsch 2014 kam es zu Anti-Maidan-Protesten im Donbass, aus dem sich ein Bürgerkrieg entwickelt hat, über den wir in Deutschland nur wenig wissen. Dieser Krieg tobt in und um die ukrainischen Städte Donezk und Lugansk ebenfalls seit 2014 und hat bis zum Beginn des russischen Einmarschs in die Ukraine rund 14.000 Zivilisten das Leben gekostet.

Die Entstehungsgeschichte und bedrückende Einzelheiten dieses Krieges werden in dem neuen Buch des Journalisten und Reporters Ulrich Heyden mit dem Titel "Der längste Krieg in Europa seit 1945" anschaulich geschildert.3

Dieser Bürgerkrieg ging trotz der völkerrechtlich-verbindlichen Minsker Abkommen 2015 Jahr für Jahr unvermindert weiter und hatte in den letzten Wochen vor dem Einmarsch Russlands noch an Heftigkeit zugenommen.

Nach der Auffassung des britischen Politologen Sakwa sind dafür vor allem die ukrainische Regierung und der Westen, insbesondere die beiden Signaturstaaten Deutschland und Frankreich, verantwortlich, denn sie haben für die Umsetzung dieses Vertrages zu wenig getan.

Mearsheimer: Nato-Osterweiterung Wurzel der Krise

Diese Auffassung vertritt seit 2015 auch der renommierte US-amerikanische Politikwissenschaftler John J. Mearsheimer in mehreren didaktisch und inhaltlich exzellenten Video-Vorträgen, die auf Youtube aufzurufen sind.

Von diesen Präsentationen möchte ich als Erstes hier seinen Video-Vortrag mit Interview vom 14.3.2022 verlinken, den er einige Tage vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine gehalten hat.

Ich empfehle, sich zumindest die ersten 25 Minuten dieser eindrucksvollen Rede von Mearsheimer anzuhören, in dem er die wichtigsten Ursachen und Zusammenhängen der Ukraine-Krise erläutert.

Er betont, dass niemand Putin vor dem 22. Februar 2014, dem Tag, an dem ein von den USA beeinflusster Putsch in der Ukraine stattfand, bei dem eine pro-russische Regierung gewaltsam gestürzt und durch eine pro-amerikanische Regierung ausgetauscht wurde, expansionistische Ambitionen vorgeworfen hat. Mearsheimer macht deutlich, dass die Torheit der Nato-Osterweiterung die Wurzel der Krise ist.

Der zweite Video-Vortrag von Mearsheimer, den ich hier verlinke (von Minute vier bis Minute 27), stammt vom 3.3.2022, einige Tage nach Beginn des russischen Einmarsches in die Ukraine.

Hier begründet der Politikwissenschaftler noch einmal ganz eindeutig seine seit vielen Jahren vertretene Auffassung, dass die USA für die Ukraine-Krise und das damit verbundene weltweite Desaster die Hauptverantwortung trägt, weil sie die Ukraine in die Nato aufnehmen wollen, obwohl allen Verantwortlichen in den USA seit Jahren bekannt ist, dass damit für Russland eine rote Linie überschritten ist.

Am Schluss seines Vortrags stellt Mearsheimer sich die Frage, wer bei dieser Auseinandersetzung gewinnen wird, die US-Amerikaner oder die Russen. Seine überraschende Vermutung ist, dass die US-Amerikaner verlieren werden.

Er begründet das damit, dass die Ukraine für die USA keine allzu große Bedeutung habe. So hätten die Amerikaner bekanntlich mehrfach erklärt, dass sie nicht bereit sind, für die Ukraine zu kämpfen und zu sterben.

Von den Russen dagegen wird die Ukraine, die seit 2014 durch die USA hochgerüstet wird und schon heute- wenn noch nicht de jure, aber doch de facto Nato-Gebiet ist, als weiteres zukünftiges Nato-Mitglied als eine existentielle Bedrohung wahrgenommen, und deshalb werden die Russen mit einer sehr viel größeren Entschlossenheit dafür kämpfen, dass es nicht dazu kommt.

Und wer verliert den Krieg? Mearsheimer sagt, die eigentlichen Verlierer werden nach seiner Einschätzung vor allem die Ukrainer sein, und dafür sind als Erstes die USA verantwortlich, weil sie die Ukrainer gedrängt haben, einen Nato-Beitritt anzustreben. Dieses Ziel wurde 2019 in der ukrainischen Verfassung aufgenommen.

"Geopolitik nach Drehbuch"

Zum tieferen Verständnis der Hintergründe der Ukraine-Krise sei noch auf einen Artikel von Sebastian Müller mit dem Titel "Geopolitik nach Drehbuch" hingewiesen, der im aktuellen Heft von Makroskoperschienen ist.

Der Artikel setzt sich mit einem aufschlussreichen Video mit dem einflussreichen Vordenker der US-Außenpolitik, dem Geostrategen George Friedman von der privaten Denkfabrik Stratfor auseinander. Friedman ist 2015 als Gast auf dem Chicago Council on Global Affairs aufgetreten und hat im Nachgang zu seinem Vortrag verblüffend offen die Fragen des Publikums beantwortet. So sagt Friedman ganz offen, dass Krieg, auch in Europa, ein legitimes strategisches Instrument der USA sei.

Der Autor Sebastian Müller führt in seinem Artikel dazu weiter aus:

Mit Blick auf die heutigen Geschehnisse ist brisant, was dann folgt. Friedman erläutert im lässigen Plauderton, dass es – in Anlehnung an das Römische Reich – die zentrale Strategie der US-Geopolitik sei, konkurrierende Mächte gegeneinander auszuspielen und in den Krieg zu treiben. So sei es zwischen dem Irak und dem Iran gewesen, und – so solle es auch mit Deutschland und Russland geschehen. Denn nicht der islamische Extremismus sei eine existenzielle Bedrohung für die USA, das Hauptinteresse der USA seien seit dem Ersten Weltkrieg vielmehr die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland: "Vereint sind sie die einzige Macht, die uns bedrohen kann. Unser Hauptinteresse galt sicherzustellen, dass dieser Fall nicht eintritt.

Sebastian Müller

Und weiter:

Die Frage, die jetzt für die Russen auf dem Tisch liegt, ist, ob man die Ukraine als eine Pufferzone zwischen Russland und dem Westen haben will, die wenigstens neutral bleiben wird, oder der Westen so weit in die Ukraine vordringt, dass die Nato nur 100 Kilometer von Stalingrad und 500 Kilometer von Moskau entfernt sein wird. Für Russland stellt der Status der Ukraine eine existenzielle Frage dar.

Sebastian Müller

Abschließend meint der Autor:

Die seit 2015 folgenden Ereignisse in Osteuropa zeigen, wie sehr die von Friedman genannten strategischen Eckpunkte in großen Teilen mit dem aktuellen Vorgehen der Nato übereinstimmen. Das bedeutet auch: ein Ende der Eskalationen ist nicht absehbar – und nicht gewollt. Damit relativieren Friedmans Ausführungen im Kontext der Ukraine-Krise unfreiwillig das simple Gut-Böse-Schema, das die Medien zu vermitteln suchen.

Sebastian Müller

Diese Ausführungen sprechen für sich selbst und müssen von mir nicht weiter kommentiert werden. Zum Schluss dieses Abschnitts sei stattdessen hier das aufschlussreiche Youtube-Video "Stratfor vs. Putin" verlinkt, so dass sich jede Leserin und jeder Leser ein eigenes Bild von der geopolitischen Situation, in der wir leben, machen kann.

Neutralisierung der Ukraine als Lösung?

Zur Frage, wie die Krise gelöst werden könnte, kommt Mearsheimer am Ende seines Video-Vortrags zu folgendem Fazit (Transkription und Übersetzung von mir, KDK):

Die ideale Situation wäre, wenn die Ukraine, wie sie es von 1991 bis 2014 gewesen ist, ein neutraler Pufferstaat werden würde. Das wird aber nicht möglich sein, vor allem, weil die USA das nicht wollen und hinsichtlich der Nato-Erweiterung wohl keine Konzessionen machen werden. Weiterhin wäre die Voraussetzung für eine neutrale Ukraine, dass die Kiewer Regierung ein Mindestmaß an Übereinkunft mit der russisch-sprachigen Bevölkerung im Donbass anstrebt, d.h., den Bürgerkrieg entsprechend den Abmachungen des Minsker Abkommens beendet. Aber eine solche Politik ist derzeit in der Ukraine nicht durchzusetzen. Deshalb wird die Krise weiter und weiter gehen und eine Lösung ist nicht in Sicht. Das ist die traurige Wahrheit.

John J. Mearsheimer, 14.2.2022

Diese Einschätzung steht in Übereinstimmung mit dem oben erläuterten Drehbuch der Geopolitik der USA, in das wir dank Friedman einen Einblick erhalten haben.

Auch Richard Sakwa hat sich in dem oben genannten Artikel vom 20.2.2022 für eine Neutralisierung der Ukraine ausgesprochen. Er sagt: Die Lösung sei ganz einfach: Neutralität für die Ukraine. Aber niemand werde sie übernehmen. Damit meint er wahrscheinlich die US-amerikanischen und ukrainischen verantwortlichen Politiker.

Die Nachdenkseiten haben kürzlich auf einen interessanten Beitrag von Nikolai Platoschkin mit dem Titel "Wie weiter mit der Ukraine?" aufmerksam gemacht, den ich hier abschließend noch verlinken möchte.

Platoschkin spricht sich in seinem Video-Vortrag, den er in deutscher Sprache hält, ebenfalls für eine Neutralisierung der Ukraine aus, die den Krieg beenden könnte. Er ist kein "Putinversteher", sondern ein Vertreter der linken Opposition in Russland, war Leiter der Abteilung für internationale Beziehungen und Diplomatie der Moskauer Universität für Geisteswissenschaften und arbeitete von 1987 bis 2006 in Deutschland und den USA an diplomatischen Vertretungen.

Ausblick

Ich befinde mich wahrscheinlich im letzten Jahrzehnt meines Lebens, habe bisher immer optimistisch auf die Welt geblickt und möchte das auch für den Rest meines Lebens nicht ändern, obwohl man angesichts der bedrohlichen Situation, in der wir uns heute in Europa befinden, empirisch kaum mehr als ein Pessimist sein kann.

Ich hoffe, dass der Ukraine-Konflikt "nicht bis zum letzten Ukrainer" weitergeführt wird, sondern bald nach einem Waffenstillstand durch einen Friedensvertrag zu einem Ende kommt, der auch den berechtigten Sicherheitsinteressen Russlands Rechnung trägt.

Ich habe miterlebt, wie 1991 mit dem Untergang der Sowjetunion eine unipolare Weltordnung entstanden ist, in der die USA der Hegemon, also die allein bestimmende Weltmacht, sind und ihre Interessen ohne Skrupel durchsetzen. Die Kräfteverhältnisse in der Welt haben sich jedoch im letzten Jahrzehnt, vor allem durch den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas, verändert.

Deshalb hoffe ich, dass wir uns in einiger Zeit – und vielleicht werde ich das noch erleben – in einer von mehreren großen Ländern und Mächten bestimmten multipolaren Weltordnung wiederfinden, in der sich die wichtigsten Akteure auf eine friedliche Koexistenz als Grundlage für eine zeitgemäße internationale Politik zurückbesonnen haben.4

Das wäre aus meiner Sicht die wichtigste Voraussetzung dafür, dass eine notwendige und effektive Zusammenarbeit in gegenseitigem Respekt zwischen allen großen und kleinen Staaten auf dieser Welt realisiert wird, damit die drängenden Probleme der Menschheit wie die sich abzeichnende weltweite Klimakatastrophe, der Hunger in der Welt und die erneute Gefahr eines Atomkrieges gemeinsam angegangen werden können. Kriege können diese Probleme jedenfalls nicht lösen.

Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin - Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e.V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhinderung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de

Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.