Der elfte September

Der Tag, an dem die Idee der Weltgesellschaft starb

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Von einer weiteren Leiche ist hier zu berichten, vom Tod der Idee einer global vernetzten Weltgesellschaft. Rumsbumbs ist sie am elften September mit den Zwillingstürmen zusammengekracht. Selbstverständlich nicht in ihrer Gesamtheit. Auch künftig werden Angehörige unterschiedlichster Rassen, Klassen und Ethnien zu bloßen Kunden, Konsumenten und Usern, während Fluten von Gütern, Nachrichten und Meinungen rund um den Erdball jagen. Dafür sorgen schon das Netz und ein "moderner Kapitalismus", der sich dieses ersten globalen Massenmediums bedient, um weitere Märkte, Techniken und Ideen seinem robusten Netzwerk aus Kapitalmehrung und Profitmaximierung einzuverleiben. Anders aber steht es um die Idee der vernetzten Weltgesellschaft in ihrer systemkonstruktivistischen Spielart. Der zufolge ist die Weltgesellschaft in autonom operierende Funktionsbereiche differenziert, in Wirtschaft, Politik, Recht, Massenmedien, Wissenschaft usw. Ihre Grenzen definiert sie nur noch systemisch, nicht mehr räumlich, ethnisch oder gar national; und ihre Besorgnisse, Konflikte und Nöte löst sie ausschließlich durch und über Anschlusskommunikation.

Eine mitunter engagierte Teilnehmerin an der Luhmann-Mailinglist muss das intuitiv geahnt haben, als sie in ihrer ersten Betroffenheit über das medial "Erlebte" die Implosion des Welthandelszentrums mit dem Ende dieses Gesellschaftstyps gleichsetzte. Die Antwort der Listenmitglieder darauf war, wie immer, wenn in diesem Forum "unangenehme Wahrheiten" an- oder ausgesprochen und Selbstgewissheiten der Theorie in Zweifel gezogen werden, betretenes Schweigen.

Dazu muss man wissen, dass Systemsoziologen die Weltgesellschaft zuletzt zu ihrem Lieblingsspielzeug erklärt haben. Wie ein Kleinkind haben sie es treu umsorgt und liebevoll gehätschelt. Sogar zur Gründung des ersten und bislang einzigen Instituts für Weltgesellschaft in Bielfeld hat das geführt. Darum ist es verständlich, dass ihr "Kindskind" Irritationen unter Systemkonstruktivisten auslöst. Doch grämen darüber braucht sich niemand. Und Tränen vergießen erst recht nicht. Auch hier gilt, wie auch sonst oder überhaupt, Karl Poppers treffendes Wort: "Es ist besser, Theorien sterben zu lassen als Menschen."

Die Theorie

Unter Systemsoziologen gilt Weltgesellschaft, seitdem globale Netzwerke und Massenmedien auch die entferntesten Winkel der Erde erschließen und sie an die Normen und Standards des Welthandels, der Weltpolitik und der Massenkommunikation anschließen, als das letzte und "einzige Gesellschaftssystem, das es gegenwärtig auf der Erde noch gibt". In ihr findet die gesellschaftliche Evolution ihren Halt und Abschluss. Längst hat sie, so ihre Anhänger, alle anderen großen Kulturen und Großraumordnungen in sich aufgesogen. Ein Außen oder eine Alternative zu ihr gibt es nicht mehr. Entwicklungen geschehen nur noch intern, und zwar eigendeterminiert, nach Maßgabe selbstdefinierter Regeln, Codierungen und Verfahren.

Die Eigenstrukturen, die die Weltgesellschaft ausbildet: die Ausdifferenzierung sozialer Funktionssysteme, die räumliche Entbindung von Netzwerken, die Globalisierung des Wissens, die weltweite Jagd nach intelligenten Köpfen etwa, legen sich über lokale und regionale Strukturen. Zwischen globalem Gesellschaftssystem und Regionalkulturen findet ein reger Austausch nach Art kommunizierender Röhren statt. Die neuen Strukturen der Weltgesellschaft drängen die Bedeutung und Macht regional verhafteter Kulturen zurück, gleichzeitig bilden sich dadurch aber auch Quellen neuer kultureller Vielfalt.

Konfliktfrei ist dieser Prozess reziproker Verschränkung, Beeinflussung und Intensivierung aber nicht. Global und lokal reiben sich vielmehr laufend aneinander. Mit anderen Worten: Während ein Moslembruder zum Freitagsgebet geht, Verwünschungen in Richtung Amerika ausstößt und mit Glaubensgenossen das Sternenbanner auf der Straße verbrennt, guckt seine Frau Sex and the City im Satelliten-TV und studiert im Vogue-Heft heimlich Beduinenkleider. Oder schärfer formuliert: Während sich Islamisten und westliche Kreuzritter am Hindukusch oder bald im Irak und am Horn von Afrika bekriegen, sind sie Shareholder von Öl- und Bohrfirmen, an deren Wertsteigerungsraten sie gemeinsam interessiert sind.

Aufgrund dieses wechselseitigen Austausches kann weder von einer Angleichung oder gar Vereinheitlichung der verschiedenen Kulturen noch von einem Verschwinden kultureller Differenzen und Konflikten gesprochen werden. Eine Amerikanisierung oder Verwestlichung, wie sie in Begriffen wie "McWorld" oder "One World" anklingen, findet danach nicht statt. Im Gegenteil: Mit wachsender Inklusion in die Weltgesellschaft steigt sogar der Anspruch auf kulturelle Identität und/oder regionale Besonderheit. Man will sich schließlich von anderen Weltbürgern und Kulturen unterscheiden. Ein Dirndl oder eine Lederhose, die bei einem Empfang der Stanford-Universität getragen werden, zeigen dann vielleicht nicht bloß die lokale Verwurzeltheit ihrer Träger an, sie können sehr wohl auch deren Weltläufigkeit und Weltoffenheit signalisieren.

Wo diese legitimen Ansprüche oder Wünsche nach Eigenheit, Authentizität und regionaler Verbundenheit aber auf generalisierte Medienformen treffen, auf Marktgesetze und Distributionsverfahren, auf Marketingpraktiken oder Aufmerksamkeitsökonomien, werden sie wieder vereinheitlicht und universalisiert. Diese Strukturen und Codes entscheiden letztlich darüber, was geht oder nicht geht, was reinkommt oder was draußen bleibt, was in ist oder out. Mit Hilfe der Erfolgsmedien der Macht, des Geldes, der Wahrheit usw. hat die Weltgesellschaft abstrakte Zugangscodes entwickelt, die die Autonomie der Regionalkulturen unterminiert, aushöhlt und sie einem Kampf des "Survival of the Fittest" aussetzt. Kulturen, Regionen und Standorte stehen seitdem, so regional eigenständig, ungleichartig und konfliktreich sie sich auch immer nach außen präsentieren, unter latentem Konkurrenzdruck. Diesem weltweiten Wettbewerb um Kapital, Köpfe und gute Luft müssen sie sich beugen, wenn sie nicht hoffnungslos im Wohlstands-Ranking "zurückfallen" oder im schwarze Loch der Weltgesellschaft verschwinden wollen.

Erneut wirkt die Zweiseitenform-Logik des Mathematikers George Spencer-Brown form-, stil- und realitätsbildend. Die Weltgesellschaft wird zum Effekt und Resultat laufender Unterscheidungen im und durch das System. Sie wird zum Popanz eines Selbstläufers aufgebläht, der sich aus Unterscheidungen und Kommunikationen selbst aufbaut und dabei am Leben hält.

Der Wunsch

Wenn aber Konflikte, Kriege und Gewalt im Herzen der Weltgesellschaft entstehen, Deklassierung, Demütigung und soziale Ausschlüsse unvermeidliche Folgen globaler Verflechtung und Kommunikation sind, bleibt für den Beobachter schwer nachvollziehbar, warum Systemsoziologen den globalen Verbund sozialstruktureller Kopplungen jüngst mit dem "Ende der Geschichte" gleichgesetzt haben. Was an Veränderungen und Entwicklungen künftig noch passieren kann, ist bestenfalls ein Hochziehen auf Standards, die die funktional differenzierte Weltgesellschaft vorgibt.

Ohne Not ist die erste und letzte Gesellschaft, die kein Behälter mehr sein will, als Synonym für den weltweiten Sieg von Freihandel, Demokratie und sozialer Wohlfahrt in Umlauf gebracht worden. Demnach ist Weltgesellschaft nicht mehr bloß Wille und Vorstellung, sondern bereits Realität und sozialer Tatbestand. Grundlage für die systemsoziologische Gewissheit ist die soziale Elementareinheit Kommunikation. Sie ist, wie es bei Luhmann heißt, keine raumgebundene Operation mehr, sondern prozessiert "unabhängig von Raumgrenzen" jenseits von Territorialität. Ethnische, nationale oder kulturelle Schranken und Barrieren sind für Kommunikationen "keine sinnvolle Sinngrenze mehr".

Für die Weltgesellschaft ist die "segmentäre Ordnung von Nationalstaaten anachronistisch" so Norbert Bolz. Für den flächendeckenden und grenzüberschreitenden Verkehr der Sozialsysteme sorgen und bürgen Massenmedien und globale Transaktionsnetze. Kulturen und geopolitische Großräume, die sich auf Blutsbande oder kontinentale Landmassen stützen und Brandmauern gegen den free flow of information errichten, wirken angesichts des Tempos, das die Kommunikation ohne Grenzen vorgibt, hoffnungslos veraltet. Zwar lassen sich mit ihr keine kosmopolitischen Träume einer Weltrepublik erfüllen. Dazu ist die Weltgesellschaft innen zu konflikthaft und anfällig für fundamentalistische Ideologien. Zu einer territorial entgrenzten und geschichtslos operierenden Kommunikations-, Wissens- und Weltgesellschaft reicht es aber allemal.

Während Entfernungen und Räume im ungehinderten Datenfluss zu Sekundenbruchteilen schrumpfen, marginalisieren sie den Platz oder Standort, von dem aus sich die User in die globalen Datennetze einloggen. Massenmedien und Internet garantieren und sichern die stufenweise Integration unterschiedlicher Funktionssysteme. Im Konnektivismus einer raumenthobenen Kommunikation haben die alten Mächte und Kulturen, Hegemonien und Ideologien ausgespielt. Nationalstaat und Territorialität, Chauvinismus und Rassenhass, geographische Sonderlagen und geopolitische Hegemonien gehören der Vergangenheit an. Unter der Perspektive des Klickens, Linkens und Verschaltens werden alle User nicht nur gleich, Balinesen, Inder und Texaner genauso wie Basken, Kinder und Feministinnen. Vorm Bildschirm leben sie auch gleichweit voneinander entfernt, nämlich einen Mausklick weit. Kein Wunder, dass die Mär von einer neutralisierenden und pazifierenden Wirkung der nachrichten- und verkehrstechnischen Vernetzung und drahtlosen Kommunikation im Systemkonstruktivismus fröhliche Kopfstände feiert und alles, was die Ankunft der "Zeit der Weltkommunikation" behindern, unterbrechen oder gar aufhalten könnte: Traditionen, Körper, Territorien, Feindschaften usw. auf dem Müllhaufen der Geschichte landet.

Heimlich, still und leise haben sich unter der Hand "normative Implikationen" in eine ansonsten kühl beschreibende Beobachtertheorie eingeschlichen. Niels Werber hat darauf aufmerksam gemacht. Auf einmal wird die Weltgesellschaft an Zielpunkten, Finalitäten und Endzwecken gemessen, an sozialer Wohlfahrt, an liberaler Demokratie und freiem Markt. Dieser Rückbezug auf westliche Wertvorstellungen überrascht. Einerseits. Andererseits aber auch wieder nicht.

Er überrascht nicht, weil damit ihre westliche Herkunft demaskiert wird. Mit "unbestimmter Welt", die den "Letzthorizont" der Weltgesellschaft angeblich bilden soll, ist natürlich die westliche gemeint, eine andere kulturelle Sicht, etwa die islamistische, kommt darin nur vor, wenn sie zuvor durch westliche Kanäle gezähmt und sozialisiert worden ist. Deswegen finden wir in den unsäglichen Talkrunden und Kommentaren nur Tibis, Kermanis oder jene, die an den Eliteschulen des Westens studiert haben. Höchst selten kommen Stimmen zu Wort, die in den Communities in Köln, Kreuzberg oder Offenbach leben, von der Lage vor Ort berichten und das nette "Märchen vom Dialog" der Kulturen als "Verharmlosung" und "Schönfärberei" entlarven. Obwohl ein Konsens über gemeinsam geteilte Überzeugungen und Werte in der Weltgesellschaft fehlt, schließt das radikale Sichtweisen, wie sie die Gotteskrieger haben, nicht etwa ein, sondern aus.

Er überrascht jedoch sehr, weil Finalität mit dem Glaubenssatz von der Evolutionsfreudigkeit des Systems kollidiert. Gerade der elfte September hat gezeigt, dass die Evolution globaler Netzwerke nicht mit der Sache selbst gleich zu setzen ist, dem "Bedeutungsschwund" von Raum und Territorium und dem Ende von Reichen und Imperien. Globalisierung bedeutet zunächst nur, dass Horizonte sich weiten, Grenzen sich verschieben und neue Knoten und Stützpunkte der Macht, Wirtschafts- und Kulturräume und politische und militärische Räume (NATO, EU-Osterweiterung ...) entstehen, die intern wie extern neue Schranken, Grenzsteine und Grenzen ins Territorium pflanzen.

Wohlfeile Semantik, Echtzeitflüsse und Autologik sind nur die eine Seite der Globalisierung; Körper und Dinge, die in lokalen und historischen Kontexten verankert sind und sich weniger durch Verlichtung als durch ihre Schwerkraft und ihr Beharrungsvermögen auszeichnen, aber die andere. Im Gegensatz zu Metaphern, Zeichen und Symbolen kann dieser Unterschied nicht bruchlos in soziale Kommunikationen übersetzt werden. Beispielsweise kann die (Vor)Gabe des Vergleichs, den die Weltgesellschaft Regionen, Standorten und Kulturen offeriert, auch anders beantwortet werden kann, nämlich mit einem symbolischen Tausch. Auch das hat der elfte September nachhaltigst demonstriert.

Die Realität

Mögen traditionelle Grenzen für den Flow von Geld, Menschen und Informationen durchlässiger werden - ein Fehler wäre es aber, Nationalstaaten und die ihnen innewohnenden geopolitische Codes: Größe des Territoriums, Bevölkerungszahl, geographische Lage, materielle Infrastruktur, technologische Entwicklung usw. der systemtheoretischen Idee von der Gleichrangigkeit der Systeme zu opfern. Ihre jeweilige Relevanz ergibt sich nicht nur aus abstrakten Vergleichsmaßstäben.

Schon bei Marx lernt man, dass der formelle Äquivalententausch ein ungleicher ist und als solcher sich vollzieht. Der Eigentümer und Warenbesitzer wird dabei immer und eindeutig bevorteilt. Genas das besagt bzw. verhüllt der Warenfetisch. Im System der Nationalstaaten verhält es sich nicht viel anders. Es besteht ein prinzipieller Unterschied zwischen den Staaten und Regionen, die sich Vergleichsmaßstäben ausschließlich unterziehen müssen, und denen, die diese Spielregeln setzen, definieren und ihre Geltung laufend überprüfen und kontrollieren. Wo dieser Unterschied, der einen wirklichen Unterschied macht, wegkommuniziert wird, macht sich eklatante Geschichts- und Machtvergessenheit breit.

Für den Systemkonstruktivismus ist es vollkommen egal, wo Staaten geographisch sich befinden, an Südflanken, in zones of turmoil oder strategischen Dreh- und Angelpunkten, ob sie über Rohstoffe und Ressourcen verfügen, Atom- oder Biowaffen besitzen, Terroristen oder Freiheitskämpfer ausbilden oder ob sie als Mittelmacht andere Regionen als Hinterhöfe oder Rückzugsgebiete missbrauchen. "Bei allen Unterschieden der Größe und der Macht, die Nationalstaaten voneinander trennen, genießt jedes Element in diesem System dieselbe Form von Legitimität," so jüngst Rudolf Stichweh in der Frankfurter Rundschau. Die Neue Weltzeit, die mit der Weltgesellschaft anbricht, ist demnach eine, die "auf Augenhöhe" zwischen den USA und Mazedonien, Deutschland und dem Iran, Japan und Somalia operiert und ausgehandelt wird. Rivalen und Vasallen, Schurkenstaaten und Brückenköpfe kommen darin nicht mehr vor. So wie Bürger in westlichen Demokratien unabhängig von Macht, Rang und Einkommen formell gleiche Rechte und Pflichten besitzen und mit gleicher Stimme sprechen, positionieren sich auch Nationalstaaten im weltgesellschaftlichen System gleichrangig und gleichberechtigt nebeneinander. Lauschen wir noch einmal bei Rudolf Stichweh: "Erstmals unterscheiden sich [...] große und kleine Staaten nicht wesentlich, sind kleine Staaten nicht mehr auf geographische Sonderlagen und hegemoniale Unterordnung angewiesen."

Die Krieg in Afghanistan, und nicht nur er, lehrt uns aber etwas anderes. Er zeigt, dass die Rede von der Gleichrangigkeit der Staaten ein "frommer Wunsch" ist und bleibt. Und er zeigt auch, dass das Axiom vom Ende jeglicher Hegemonie eine Ideologie mitführt, hinter der sich bestimmte Machtinteressen und Herrschaftsansprüche verbergen. Nicht, weil das Land am Hindukusch kein Stimmrecht in der UNO hatte oder sich den Vergleichsmaßstäben des weltgesellschaftlichen Systems widersetzte, ist es von den USA angegriffen worden. Sondern, weil es a) "klein", als "Schurkenstaat" bzw. nicht "satisfaktionsfähiger" Gegner identifiziert worden ist; weil es b) über keine Atomwaffen oder mächtigen Freunde und Bündnispartner in der islamischen Welt verfügt, die ihm möglicherweise beistehen oder es vor einem Angriff aus der Luft hätten schützen können; und weil es c) sich an einem für die geopolitischen Ziele der USA wichtigen geostrategischen Platz befindet, dort nämlich, wo kaspisches Öl in Pipelines künftig den Weg zum Indischen Ozean finden soll, dort also, wo der Kampf um das Herzland Eurasien seinen Ausgangspunkt nimmt und in seine erste wichtige Phase eintritt.

Man stelle sich nur einmal vor, al-Qaida operierte auf pakistanischem Hoheitsgebiet. Schlimmer noch: Das Terrornetz befände sich auf russischem, chinesischem oder indischem Hoheitsgebiet. Die jeweiligen Regierungen hätten auch auf eindeutigen Beweisen beharrt, die dessen Komplizenschaft belegen. Sicherlich wären zurückgehaltene Gelder der Weltbank, wie im Falle Pakistans, oder der USA an die UNO geflossen; sicherlich wären auch Geldkonten über Nacht gesperrt und Sparguthaben eingefroren worden, während der US-Geheimdienst in Ausnahmezustand versetzt worden wäre; und sicherlich wären die Regierungschefs befreundeter Länder zum Rapport und Befehlsempfang in Washington, D.C., angetanzt. Aber hätten die Amerikaner auch militärisch losgeschlagen?

Ortlos sind jedenfalls weder das Zentrum oder die Zentrale des räuberischen Kapitalismus mit seiner Vorstellung von "Zivilisation" noch das Terrornetz der Nomaden und Wüstensöhne. Auch das kann man vom elften September lernen. Darum sind auch die Twin Towers in New York und das Pentagon in Washington in Schutt und Asche gelegt worden, und nicht das Hochhaus der Deutschen Bank in Frankfurt/Main oder das Burj al Arab in Dubai. Mögen terroristische Zellen auch all over the world verstreut sein, seine geographischen Wurzeln hat al-Qaida, vorausgesetzt, es war Urheber und Anstifter des Anschlags, im moslemisch-arabischen Raum. Und darum hat die einzige Weltmacht auch ihre Flugzeugträger, Spezialeinheiten und Hightech-Waffen dorthin beordert. Wären Staaten und Mächte, Freunde und Feinde, Allianzen und Koalitionen tatsächlich ortlos und nicht ortbar, dann entfiele auch der Wille zu Bomben, Krieg und Terror in Zentralasien. Dann könnte man auch mithilfe der New Intangibles von amerikanischem Hoheitsgebiet aus die Welt erobern.

Erneut rächt sich, dass in den luftigen und wolkigen Höhen des Systemkonstruktivismus kein Platz für bodennahe Verhältnisse oder erdverbundene Gegebenheiten mehr ist: für Landschaften und Traditionen, Imperien und Geschichte genauso wenig wie für Orte und Abstammung, Glaubenssätze und Mentalitäten. Dass in etlichen Regionen dieser Welt mit Gewalt, Blut und Tränen territoriale Grenzverschiebungen zum Bau neuer Staaten herbeigeführt werden; dass EU und andere Wohlstandsbündnisse juridische und polizeilich gestützte Festungsringe um ihr Territorium legen, um die weltweiten Flüchtlings- und Migrationsströme aus den östlichen und südlichen Elendsländern vor ihren Außengrenzen und Hoheitsgebieten abzuhalten, und dass Jihads um heilige, mit Mythen und Legenden belastete Orte und Plätze geführt, Treffen der Political and Global Business Class durch Zäune, Bannmeilen und Wasserwerfer geschützt und Quartiere, Sicherheitszonen und Einflusssphären mit modernster Waffen- und Medientechnik überwacht und gesichert werden, scheint Systemkonstruktivisten nicht zu irritieren.

Der elfte September gemahnt aber an anderes, er erinnert an die Fortdauer "geographischer Sonderlagen" "geopolitischer Sonderwege" und politischer Hegemonialdiskurse. Um dieses Ereignis und seine Vor- und Nachgeschichte zu verstehen, reichen Adressen, Teilhabe und der Wille zur öffentlichen Kommunikation nicht aus. Der Ulema der afghanischen Taliban hat das jedenfalls nicht geholfen. Das Kommunikationsangebot, Bin Ladin einem Drittland auszuliefern, um ihm dort den Prozess zu machen, beantwortete die Weltmacht mit einem Ultimatum. Recht hat, wer Recht setzt und die Machtmittel hat, es durchzusetzen. Und so rächt sich auch, dass der Systemkonstruktivismus über kein Kriterium verfügt, wie er zwischen Konstativa und Performativa, zwischen Verlautbarung, Propaganda und Erpressung angemessen und hinreichend unterscheiden kann. Gleichgültig, ob mit einem Sprechakt Prinzipien angemahnt, nationale Machtinteressen formuliert, Gerüchte oder beliebiges Geschwätz transportiert werden, für ihn ist jede Äußerung unterschiedslose Kommunikation.

Wieder fällt funktionale Differenzierung, die Formierung von Wirtschaft, Politik, Recht usw. zu globalen Kommunikationszusammenhängen, härter aus als die technische Evolution, als Macht- und Hegemonialinteressen oder die Unversöhnlichkeit der Kulturen. Da ist es kein Wunder, dass einer ihrer Lautsprecher und wildesten Prosaisten die Angriffe auf das Welthandelszentrum und das Pentagon als Spill-over-Effekt interpretiert hat. Danach stellen die Attacken nur einen besonders drastischen Unfall in der Evolution dieses Gesellschaftstyps dar. Es handelt sich um eine Art des Hyperventilierens, die sich als Abfallprodukt bzw. Fehlfunktion infolge überhitzter Systembildung einstellt. Warum aber gerade die USA zurückgeschlagen haben, und nicht irgendein Funktionssystem; und warum es gerade radikale Islamisten waren, und zwar solche, die sich mental, geographisch und räumlich außerhalb der Weltgesellschaft positionieren, die die Boeings gegen die Wahrzeichen der One World gelenkt haben, und nicht abtrünnige Korsen, gedemütigte Indianer oder unterdrückte Tibetaner, diese Frage wird nicht gestellt.

Verständlicherweise! Würde man nämlich den Weg vom Abstrakten zum Konkreten einschlagen, den Rundflug über geschlossener Wolkendecke durch Boden taugliche, unwegsamen Gelände angepasste Fortbewegungsmittel ersetzen, stieße man unweigerlich auf jene Maginotlinie, die sich der Idee einer multipolaren und multilateralen Weltgesellschaft wirklich und absolut entgegenstellt, eine Grenze, die sich kulturell und räumlich definiert und mit "heiligen Geographien", Orten und Mythen operiert. Starr und fest ist diese Grenze sicherlich nicht, eher ist sie eine flüssige, mobile und unstete, die die Weltgesellschaft innen wie außen durchzieht und teilt. Während sich in ihren Zentren "Inseln" und "Zellen", sog. Parallelgesellschaften bilden, formiert sich nach außen eine neue Bipolarität. Und mit dieser Kluft, die sich zwischen der politischen Theologie des Islam und der "permissive cornucopia" des Westens auftut, hält auch das Gespenst des Politischen wieder Einzug.

Im Begriff der "Unversöhnlichkeit" (Adorno) und/oder der "absoluten Feindschaft" (C. Schmitt) kündigt sich seine Rückkehr an. Zu glauben, diese Intensitäten, die zur Parteiung, zur Assoziation oder Dissoziation zwingen, ließen sich mit Unterscheidungslogik und Selbstläufertum "ästhetisieren" und einfach wegkommunizieren, entpuppt sich wieder mal als Trug- und systemkonstruktivistischer Fehlschluss. Oder weiß vielleicht ein Luhmaniac, wie Menschenrechte und Scharia, Parlamentarismus und Gottesstaat im globalen Kommunikationssystem Recht oder Politik zusammenwachsen oder wie Hybriden solcher unversöhnlicher Systeme ausschauen könnten?

Das Ende

Dass die Weltgesellschaft ein sich selbst steuernder, sich unaufhörlich in autonome Zellen teilender Superautomat wäre, der Unfälle selbst zeugt und verarbeitet, aus Niederlagen lernt und dadurch sogar den Tod überlebt, ließ Skeptiker immer schon an Hybris denken, die andernorts gelegentlich unter der Rubrik Wahnvorstellungen abgebucht werden. Neu sind solche zirkuläre Deutungsweisen aber nicht. Auch andere Supertheorien wie der Marxismus und die Psychoanalyse bedienten sich ihrer. Jahrzehnte lang operierten sie mit hermeneutischen Zirkeln und anderen Strategien der Selbstabdichtung und Selbstimmunisierung.

Ulrich Sonnemann (Negative Anthropologie) hat sie deswegen bereits 1968 als Totaltheorien bezeichnet. Gestört und getroffen hat diese Kritik sie aber nie. Im Gegenteil: Widerstand und Feindschaft werteten beide als besonders starken Beweis für die Richtigkeit der Theorie. Die Psychoanalyse besitzt dafür den Begriff der "Verdrängung"; der Marxismus erkennt darin die latente Wirkung des "Warenfetisch". Und die Systemsoziologie hat dafür das "Und so weiter..." (R. Stichweh) oder das "Es kommuniziert" (D. Baecker) gefunden. Der Begriff der "Kommunikation" schafft demnach Probleme, die sie dann löst. Der Gegner wird damit auf das Schlachtfeld des Systemkonstruktivismus gelockt und gezwungen. Wer ihre "Wahrheiten" kritisieren will, muss zu ihren Bedingungen kämpfen, er muss kommunizieren und auf Anschlusskommunikation hoffen. Quod erat demonstrandum.

Marxismus und Psychoanalyse argumentierten seinerzeit ähnlich. Erst als die Realität sie einholte, die Mauer fiel oder die Patienten ausblieben, implodierten sie. Seitdem leben sie fort, als Zombie, im Zustand des Als-ob. Es besteht Grund zur Annahme, dass der elfte September der funktional differenzierten Weltgesellschaft ein ähnliches Schicksal bereitet hat.