Deutschland als Opfer von NS-Verfolgten

Seite 2: NS-Entschädigung: Klagewelle war absehbar

Nach diesem Urteil war absehbar, dass eine erneute Klagewelle auf Deutschland zukommt. Verfahren, die vorübergehend ausgesetzt waren, liefen weiter, neue Klagen wurden eingereicht. Bis Anfang 2019 meldete die Bundesregierung "17 Versuche einer Klageerhebung, elf Urteile und 38 laufende Verfahren". Unter den elf Urteilen waren mindestens sieben zugunsten der Kläger, über zusammen etwas über eine Million Euro.

Die Bundesregierung beharrte auf ihrer Rechtsauffassung: Die Verfahren seien völkerrechtswidrig, man beteiligte sich nicht daran, habe deswegen auch keine vollständige Übersicht und akzeptiere die Urteile ohnehin nicht. Die italienische Justiz wiederum leitete konsequenterweise Zwangsvollstreckungsverfahren ein. Das Oberste Kassationsgericht bestätigte 2019 ausdrücklich, dass deutsches Staatsvermögen auf dem Weg der Zwangsvollstreckung herangezogen werden könne, um die Forderungen von NS-Opfern zu befriedigen.

Die Bundesregierung gab die verfolgte Unschuld: "Die Zwangsvollstreckung aus einem völkerrechtswidrigen Titel stellt eine erneute Völkerrechtsverletzung dar und ist daher rechtswidrig", verlautbarte sie auf eine Anfrage der Linksfraktion. Deutschland, das Opfer eines von italienischen Nazi-Opfern ausgelösten Völkerrechtsbruchs?

Die italienische Regierung, von der Deutschland eine Erklärung einforderte, in welcher Weise sie die Befolgung des IGH-Urteils "sicherstellen" werde, versicherte, zugunsten der Bundesrepublik intervenieren zu wollen, aber man müsse nun einmal auch die Unabhängigkeit der Gerichte respektieren.

Im Mai 2022 wäre es so weit gewesen: In Rom stand eine Entscheidung über die Versteigerung von bis zu vier deutschen Liegenschaften an, das Deutsche Archäologische Institut, das Goethe-Institut, das Deutsche Historische Institut und die Deutsche Schule. Kurz bevor es so weit war, ging die Bundesregierung vor den IGH.

Dort beantragte sie, Italien dazu zu verurteilen, sicherzustellen, dass seine Gerichte keine Zivilklagen von NS-Opfern gegen Deutschland zulassen. Gleichzeitig wurden einstweilige Maßnahmen gegen die bevorstehende Zwangsversteigerung beantragt.

Wenige Tage später, am 30. April 2022, verabschiedete die italienische Regierung das eingangs erwähnte Dekret. Dessen Artikel 43 entzieht der italienischen Justiz die Befugnis zu Vollstreckungsverfahren bezüglich Nazi-Unrecht.

Sämtliche Ansprüche von NS-Opfern sollen bis zum Jahr 2026 mit maximal 55,4 Millionen Euro abgegolten werden. Gegen die Bestimmung, dass NS-Opfer, die bislang noch keine Klage erhoben haben, dies innerhalb von 30 Tagen tun müssten, andernfalls etwaige Ansprüche für immer verlören, gab es heftigen Protest unter anderem auch von Richtern, die anmerkten, dass dies kaum zu bewerkstelligen sei.

Die Frist wurde schließlich im Rahmen der parlamentarischen Beratungen, bei denen das Dekret zu einem regulären Gesetz umgewandelt wurde, auf Ende Oktober 2022 verlängert.

Die Bundesregierung zog daraufhin den Antrag auf einstweilige Anordnung zurück, ihre Klage hält sie aber aufrecht. Laut Klageschrift waren bis dahin zu den bereits bis 2014 vorliegenden Verfahren mindestens 25 weitere hinzugekommen, in 15 Fällen sei Deutschland verurteilt worden.

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