Deutschland im freien Fall: Die nettesten Menschen der Welt

Vorstellungsgespräch mit einem gnadenlosen Konkurrenzkampf. Bild: © NDR/Studio Zentral/Michael Ihle, Foto: Michael Ihle

"Wir wollen heute gucken, wie belastbar ihr seid und wie ihr mit Stress umgeht." Eine bahnbrechende Miniserie spiegelt Kontrollverlust und Urängste in unserer Gesellschaft.

Die Ordnung der Dinge zerfällt, ohne die nettesten Menschen der Welt.

Dirk von Lowtzow, im Titelsong

"Wir wollen heute gucken, wie belastbar ihr seid und wie ihr mit Stress umgeht." Wir sind per Du in diesem Assessment-Center, dem Rekrutierungscamps für Bewerber bei einem Wirtschaftsunternehmen.

Kay und Petra heißen die zwei Kandidatinnen, die schon weit gekommen sind und hier nun aufeinandertreffen: Ein moderner Zweikampf, bei dem es um Inszenierung der eigenen Fähigkeiten ebenso geht, wie um die Inszenierung des Umgangs mit ihnen und mit den eigenen Gefühlen, um Hardware wie um Software.

Auch Gefühle sind nur eine Währung in diesem Gefecht, und Empathie ist eine besonders wertvolle Münze. "You think outside the box", lobt Marco, der Human Resources-Leiter zu Beginn dieses Tests, der wie eine Quizshow anderer, härterer Art, ist, und man fragt sich, warum so etwas nicht schon längst im Fernsehen zu sehen ist: "Wer wird Manager?"

Die nettesten Menschen der Welt (11 Bilder)

Bild: @ NDR/Studio Zentral/Georges Pauly

"Alter, Geschlecht, Herkunft sind für mich generell sekundär"

Es ist ein Genuss zuzusehen, wie die beiden unterschiedlichen Frauen sich gegenseitig Sätze vor den Latz knallen, die de facto Bosheiten ans Gegenüber und an den zuhörenden Testleiter sind. Wie: "Alter, Geschlecht, Herkunft, sind für mich generell sekundär, was die Führung angeht" von der älteren Petra, worauf die jüngere Kay die Antwort gibt:

Die Petra, die hat so etwas total Mütterliches. Also im absolut positiven Sinn. Ich finde es toll, wenn man in dem Alter noch so viel Neugier hat und da hat sie es auch gar nicht nötig wegen ihres Alters oder so ... So alt bist du gar nicht. Und zur Führungsfrage: Ich führe gern. Aber eben auf Augenhöhe.

So geht es minutenlang weiter. Alles überaus präzise. Gar nicht so fiktional, sondern ein Gesellschaftspanorama aus der Mitte der Bundesrepublik.

"Alles, was sie tun, ist wichtig", sagt der Testleiter, "Wir freuen uns auf morgen. Sie sich auch?"

Verfolgungswahn und Vertrauensverlust

Vertrauen ist der Anfang von allem. Vertrauen kann aber auch das Ende sein. Der Zuschauer, wie der Bürger, muss, um wach zu bleiben, sein Vertrauen verlieren. Er darf kritisches Denken entwickeln.

Das hilft auch im echten Leben, denn längst haben unsere realen gesellschaftlichen, neoliberal verseuchten Verhältnisse einen Punkt erreicht, an dem Vertrauen mit Naivität gleichgesetzt werden muss. An dem man kaum noch einander vertrauen kann, jedenfalls nicht die in Kunden verwandelten Bürger den Konzernen und dem in einen Dienstleistungskonzern verwandelten Staat.

Genau davon handelt diese Serie. In ihrem Zentrum steht der universale Vertrauensverlust, der mit der zunehmenden gegenseitigen Vermischung von digitalen und analogen Welten, der schwindenden Unterscheidbarkeit von "Cyberspace" und "Real World", einhergeht.

Die Welt ist in Unordnung. Die Ordnung der Dinge, wenn es sie überhaupt gibt, ist eine magische. Magisches Denken.

Das, was "Die nettesten Menschen der Welt", die neue, ausnahmsweise einmal wirklich bahnbrechende, Serie originell und interessant macht, das ist vor allem, dass sie sehr viel mit unserer Gegenwart zu tun hat, mit verschiedenen Phänomenen aus unser aller Alltag.

Krankhafte Fehlwahrnehmungen

Neben dem erwähnten Kampfszenario im Assessment-Center, geht es unter anderem auch um den geradezu hysterischen Umgang von Eltern mit Krankheiten und Schonbedürfnissen ihrer Kinder, man erlebt übertriebene Tierliebe, eine krankhafte Fehlwahrnehmung von Tieren, die dann zwangsläufig fast zu einer Abwertung von Menschen führt, um Menschen, die sich in Computerspielwelten und ihren virtuellen Szenarien verlieren, um Künstliche Intelligenz.

Man kann an den Lockdown und die Pandemie denken, Heldengeschichten und Hexengeschichten spielen eine Rolle, Paranoia und Phantasie. Das Leitmotiv sind Verfolgungswahn und Vertrauensverlust.

Empathie für jugendliche Lebenswelten

Jede der sechs Folgen erzählt eine unabhängige Geschichte; die Geschichten spielen aber am gleichen Ort, die Figuren überschneiden sich und insofern haben alle Geschichten mit allen anderen doch etwas zu tun, auch manchmal so, dass Figuren beziehungsweise die Schauspieler von Figuren in verschiedenen Kontexten auftauchen.

Automatisch mitnehmen sie dann auch die Rollen des einen Szenarios und der einen Folge in die andere mit, und man weiß am Ende nicht genau: Spielt einem hier die eigene Fantasie einen Streich oder folgt man der Fantasie der Figuren?

Die Geschichten kann man am ehesten schon als zärtliche Horrorgeschichten bezeichnen. Sie ereignen sich in einer ziemlich durchschnittlichen, braven deutschen großen Kleinstadt. Nämlich in Lüneburg – pardon, liebe Lüneburger, wenn ihr das jetzt ganz furchtbar findet, aber so kommt es einem neutralen Betrachter vor.

In den allerbesten Momenten der Serie kann man sogar an David Lynch und dessen Mutter aller modernen Serien "Twin Peaks" denken, zumal Regisseur Alexander Adolph noch einen weiteren cleveren Kniff angewandt hat.

Er überblendet nämlich die ganze Serie mit anderen eigenen Werken. Auf dem Filmfest München vor drei Wochen lief auch noch sein Film "Flunkyball". Verschiedene Schauspieler sind in beidem zu sehen, und in beiden Fällen spielen sie etwas Ähnliches.

So etwa spielt Silke Bodenbender in beiden Filmen eine etwas überbesorgte Mutter, und wenn man beides gesehen hat, überlagern sich die beiden Mutterfiguren. Ähnlich der Vater, der in beiden Fällen von Fabian Hinrichs gespielt wird, wie auch der Testleiter, und ein merkwürdiger Katzenbesitzer.

Schließlich Lena Klenke, die bisher vom Kino unterschätzt wurde, und trotz ihrer Rolle in "Kokon" zu wenig bekannt ist, oder zu sehr durch "Fuck You Göte" abgestempelt. In "Flunkyball" spielt sie die Hauptrolle, in "Die nettesten Menschen..." eine Studentin, das erst mit einem stillen jungen Mann zusammen ist, dann ihn verlässt zugunsten von dessen idiotischem WG-Genossen, doch irgendwann macht sie wieder Annäherungsversuche an den anderen. Das Chamäleonhafte ihrer beiden Figuren verbindet sich auch über beide Filme.

Die besondere Stärke der Inszenierung von Alexander Adolph liegt in seiner Fähigkeit Schauspieler zu Neuem und Überraschendem, zu bringen. Sie liegt auch daran, dass dieser Regisseur sehr viel Empathie für jugendliche Lebenswelten hat.

Sehr viel Beobachtungsgabe, mit dem er und seine Drehbuch-Co-Autorin Eva Wehrum sprachliche Feinheiten festhalten und in Sätze fassen. Und sehr viel feinen Humor, mit denen den Regisseur absurde Kommunikationsmacken, der Generation Instagram auf die Leinwand bringt, sich Chatgruppen-Arroganz, Daddy-Issues, über Jungens mit Nagellack und über Mädchen mit Schlafproblemen lustig macht.

Postmoderne Konzernwelt

Die eigentliche Pointe von "Junior", der zweiten Folge von "Die nettesten Menschen der Welt" liegt nämlich nicht darin, wie das Assessment-Center immer weiter eskaliert, erst recht, als sich Petra als die zweite Testleiterin entpuppt, und es in Wahrheit nur um die jüngere, zunehmend erschütterte Kay geht. Auch nicht als Demonstranten die Zentrale dieses etwas dubiosen Food-Konzerns stürmen, Idealisten, die sich dann als Terroristen entpuppen.

Auch nicht in den kleinen Wahrheiten des modernen Lebens, die hier so en passant formuliert werden:

"Ich gebe Ihnen einen Tipp für morgen: Sie müssen nicht immer alles tun, was man ihnen sagt. Nur das Richtige. Das Richtige ist aber nicht immer das, was Kreti und Pleti dafür halten. Verstehen Sie?"

Sondern die eigentliche Pointe ist die, dass das Assessment-Center keines ist, sondern ein Trainingsprogramm für Künstliche Intelligenz, und Kay eigentlich ein hochentwickelter, vom Menschen kaum noch unterscheidbarer Roboter, ein Terminator der postmodernen Konzernwelt in Zeiten des Greenwashings.

"Sie hätte mich opfern müssen", stellt Petra am Ende traurig fest, als sich Kay von den idealistischen Fake-Terroristen hat erschießen lassen:

Na ja, der Schutz des menschlichen Lebens ist halt eine wahnsinnige Schranke. Du lass' uns diesen Schutz einfach mal ganz rausnehmen. Mal schauen, was dann passiert ...