Deutschlands Ukraine-Politik: Zu viel Herz, zu wenig Verstand?

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und Bundeskanzler Olaf Scholz präsentieren sich am 2. Dezember 2024 in Kiew den Kameras der Fotografen.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und Bundeskanzler Olaf Scholz am 2. Dezember 2024 in Kiew, Ukraine. Bild: paparazzza / shutterstock.com

Ukraine-Krieg, Verteidigungsfähigkeit, Friedensordnung: Die Interessenlage. Plädoyer für eine nüchterne Sicherheitsdebatte. Gespräch mit Brigadegeneral a.D. Reiner Schwalb. (Teil 2 und Schluss)

Im ersten Teil des Gesprächs betonte Brigadegeneral a.D. Reiner Schwalb die Notwendigkeit europäischer Sicherheitsgarantien für die Ukraine und diskutierte mögliche Wege zur Abschreckung und Stabilisierung der Region – eine größere Rolle kam dabei auch der Einschätzung der militärischen Bedrohung durch Russland zu.

Schwalb, der als Brigadegeneral a.D. über hochrangige militärische Expertise und Erfahrungen in Nato-Stäben verfügt, relativierte die Drohung: "Ich teile die Sorge nicht, dass Russland die Nato angreifen würde", sagte er, setzte aber hinzu:

Allerdings sage ich auch als früherer militärischer Planer, Militär muss sich für auch auf die negativsten Fälle einstellen.

Doch steht für ihn die Diplomatie im Vordergrund. Schwalb hat diplomatische Erfahrungen mit Russland aus nächster Nähe: Von Dezember 2011 bis August 2018 war er Militärattaché an der Deutschen Botschaft in Moskau.

"Wenn (berechtigte) Emotionen handlungsleitend werden, findet man keine Konfliktlösung"

▶ Inwiefern würden Sie die Diskussionen zum Ukraine-Krieg in Politik und Medien in Deutschland als emotional und moralisch aufgeladen einstufen?

Reiner Schwalb: Ja, ich stufe die öffentliche Diskussion als emotional aufgeladen ein. Man distanziert sich im Grunde nicht von den berechtigten Emotionen, sie scheinen vielmehr handlungsleitend zu sein. Emotionen werden geschürt, wenn Tote gezeigt werden, wenn Gefallene gezeigt werden, wenn Zerstörung in der Ukraine gezeigt wird.

Wenn wir über Kriegsverbrechen sprechen, führt das zu Emotionen. Wenn wir über Butscha reden, führt das zu Emotionen. Das heißt nicht, dass darüber reden nicht gerechtfertigt ist. Aber, wenn diese berechtigten Emotionen handlungsleitend werden, findet man keine Konfliktlösung.

Bei einer öffentlichen Diskussion kam zum Beispiel die Frage auf, wenn aber jetzt die Ukraine Territorien aufgeben müsse, dann überließe man Russland eine große Gruppe von Ukrainern und diese damit der Repression und der Unterdrückung.

Die Alternative?

Das stimmt, das ist das emotionale Argument, das auch faktisch begründet ist. Was ist die Alternative dazu? Ein Weiterkämpfen mit weiteren Hunderttausenden von Verwundeten, von Toten und einer kaum messbaren Zerstörung?

Diese Dilemmata kann man nicht mit emotionalen Argumenten auflösen. Deswegen wäre es mir wichtiger, über Konfliktlösung und Kriegsbeendigung zu diskutieren.

Ich wünschte mir, wir würden politisch über die Sicherheitsarchitektur Europas diskutieren, über eigene Interessen versus die Interessen Russlands; man würde darüber reden, ob man die OSZE wiederbeleben kann und sie so verändert, dass sie einer sich ändernden Weltordnung besser gerecht werden kann. Also für mich ist die Diskussion zu stark emotional aufgeladen.

Wenn man sie nüchtern führt, entsteht zwar der Vorwurf, man sei empathielos. Das ist natürlich nicht der Fall. Aber man muss sich manchmal von der emotionalen Betroffenheit distanzieren, um Lösungen zu finden.

Was genauso wichtig ist wie Abschreckung

▶ Nach der Kuba-Krise hat die Nato ihre Strategie geändert und sowohl auf Abschreckung als auch auf Dialogangebote gesetzt. Abschreckung ist heute zentral in der Politik Europas im Hinblick auf Russland. Wie verhält es sich mit der Säule des Dialogangebots?

Reiner Schwalb: Diese Säule des Dialogs ist für mich genauso wichtig wie Abschreckung. Abschreckung ohne Dialog birgt die Gefahr zum kostenintensiven Schiefgehen. Leider ist es zurzeit so, dass fast alle vertrauensbildenden und rüstungskontrollpolitischen Leitplanken weggefallen sind. Bedauerlicherweise wurden sie sehr häufig von westlicher Seite beendet.

Wir müssen genau in diesem Bereich wieder miteinander arbeiten. Da reicht es nicht, dies alleine auf der sogenannten Track-Two-Ebene, der sogenannten Experten-Ebenen unterhalb offizieller Politik, zu diskutieren. Da geschieht es ja.

Es wird diskutiert, wie die Rüstungskontrolle wiederbelebt werden kann, wie man mit einer Verlängerung oder Nicht-Verlängerung von strategischen Verträgen wie New Start umgehen kann. Wie man andere Nationen wie China einbeziehen kann, wenn es um nukleare Fragen geht.

Also auf Experten-Ebene wird das durchaus zwischen Russen, Amerikanern und Europäern diskutiert. Diese Thematik gehört aber wieder in den politischen Diskurs und muss dort wieder eine starke Bedeutung gewinnen.

Das eine – Abschreckung – darf nicht ohne das andere – Dialog – laufen.

"Ein Völkerrechtsbruch verdammt ja nicht grundsätzlich zum Schweigen"

▶ Wie wichtig ist es aus Ihrer Sicht, wieder mit Russland ins Gespräch zu kommen? Und warum sollte man das tun, obwohl Russland offensichtlich das Völkerrecht gebrochen hat?

Reiner Schwalb: Ich betonte gerade, dass Dialog wichtig ist. Ein Völkerrechtsbruch verdammt ja nicht grundsätzlich zum Schweigen. Wir haben, obwohl wir der Überzeugung waren, dass die USA im Irak das Völkerrecht gebrochen hatten, weiterhin mit den USA gesprochen, weil es gute Freunde sind, weil es in unserem Interesse war.

Ich will die beiden Fälle Irakkrieg und Ukraine-Krieg nicht gleichsetzen, aber ich will betonen, dass miteinander reden immer notwendig und möglich ist. Man kann immer wieder darauf hinweisen, wie der Völkerrechtsbruch gesehen wurde.

Und nicht nur darauf hinweisen: Man kann es klar und deutlich machen und auch Folgerungen daraus ziehen. Aber das heißt doch nicht, dass wir auf alle Ewigkeiten die Türen zuschlagen.

"Wir sollten stärker interessenbasiert handeln"

Nach jedem Krieg gab es irgendwann wieder eine Art der Verständigung. Wir sollten stärker interessenbasiert handeln.

Manche werfen mir vor, wenn ich das sage, ich würde die Werte, für die wir stehen, vernachlässigen. Da unsere Interessen aber immer auf unseren Werten basieren, weil wir immer auf Basis des Grundgesetzes handeln, agieren wir per se wertebasiert.

Wir müssen stärker unsere Interessen formulieren und auch mit denjenigen reden, die das Völkerrecht gebrochen haben. Wie wollen wir sonst eine Änderung erreichen? Wie wollen wir ein Umdenken erreichen, wenn das überhaupt gelingen kann? Es ist in unserem Interesse, Gesprächskanäle wieder zu etablieren.

Das gilt auch für zivilgesellschaftliche und wirtschaftliche Kontakte. Es ist durchaus denkbar, dass Trump Putin entsprechende Angebote macht. Dies kann die Aufhebung von Sanktionen ebenso betreffen wie Kooperationsangebote. Wollen wir dabei an der Seitenlinie stehen?

Wir sollten zumindest darüber diskutieren und bewerten, ob ein solches Handeln langfristig europäischer Stabilität und damit unseren Interessen dienlich sein kann.

Warum Rüstungskontrolle so wichtig ist

▶ Viele Rüstungskontrollen, die durch jahrelange Verhandlungen gefunden und vereinbart wurden, sind beginnend mit dem Jahr 2001 einseitig beendet worden, vor allem, wie Sie schon gesagt haben, auf Initiative der USA. Welche Bedeutung hat aus Ihrer Sicht heute die Wiederaufnahme von Verhandlungen zur Rüstungskontrolle und das Finden und Umsetzen vertrauensbildender Maßnahmen?

Reiner Schwalb: Aus meiner Sicht hat es eine ganz große Bedeutung, weil Rüstungskontrolle und Vertrauensbildungsmaßnahmen grundsätzlich die zweite Säule bilden, die Frieden sichert.

Die eine Säule alleine kann schneller schiefgehen, wenn die andere Säule, also Rüstungskontrolle, nicht auch existiert. Rüstungskontrolle basiert ja nicht nur darauf, dass der eine sieht, was der andere macht, dass man einschränkt, was der andere machen kann, sondern sie schafft ja auch Gesprächskanäle zwischen den beiden Seiten. Gesprächskanäle, die heute kaum noch existieren, bei denen es schwieriger ist, diese wieder aufzubauen.

Rüstungskontrolle ist ein Wert an sich, um Stabilität zu erzeugen. Wir könnten auch aus der jüngsten Vergangenheit lernen, indem wir vermeiden, einseitig von unserer Seite aus Rüstungskontrollverträgen auszusteigen.

Es gab gute Gründe für die USA das zu tun, das will ich jetzt gar nicht bewerten. Da müsste man viel stärker ins Detail gehen. Es gab Gründe, warum es Vorwürfe gab, Russland habe Rüstungskontrollverträge verletzt wie den INF-Vertrag. Aber auch dort hätte man, wenn es ein stärkeres Vertrauen gegeben hätte, Verifikation durchführen können.

Es war kein Kontrollregime mehr vorgesehen, also fand das nicht statt. Letztlich sind solche Verträge und hier wiederhole ich mich, ganz entscheidend neben der militärischen Abschreckung.

Beides muss Hand in Hand gehen. Zusammenfassend: Rüstungskontrolle und Vertrauensbildungsmaßnahmen sind in unserem Interesse und sollten von uns wieder initiiert werden.

Verteidigungsfähigkeit ist entscheidend zur Friedenssicherung

▶ Europa diskutiert gerade massiv über die Gestaltung der Verteidigungsmacht Europa. Wäre es aus Ihrer Sicht wichtig, auch über eine "Friedensmacht Europa" zu diskutieren, wie der Konfliktforscher Leo Ensel vorschlägt. Brauchen wir Diskussionen über eine mögliche Neuordnung der europäischen Sicherheitsstruktur? Und auf welchen Grundgedanken könnte diese basieren?

Reiner Schwalb: Ich habe keine einfache Antwort dazu. Zunächst mal wehre ich mich gegen den aufgestellten Antagonismus zwischen Friedensmacht und Verteidigungsmacht.

Verteidigungsfähigkeit trägt aus meinem Verständnis entscheidend zur Friedenssicherung bei und ist gegenwärtig Bedingung der Friedenssicherung gegenüber Russland, weil Russland diesen Frieden in Europa mit seinem Angriff gebrochen hat.

"Frieden vor Russland priorisieren"

Das ist Fakt. Auch wenn wir Frieden mit Russland anstreben, sollten wir zunächst Frieden vor Russland priorisieren. Man kann über Russlands Gründe streiten, aber das ist zunächst mal irrelevant.

Russland hat die Ukraine angegriffen, hat damit diese europäische Sicherheitsarchitektur zerstört, und damit entstand auch bei anderen Nationen eine verstärkte Bedrohungsperzeption, die Abschreckung erfordert.

Also Verteidigungsmacht ist für mich Friedensmacht. Wie diese Verteidigungsmacht von der anderen Seite gesehen wird, liegt vor allem an dem schon Diskutierten, also auch inwieweit dies mit vertrauensbildenden Maßnahmen gekoppelt wird.

Neue Machtzentren

Es ist keine neue Feststellung, dass die Welt sich verändert hat. Neue Machtzentren entwickeln sich. Lange Zeit als gegeben Angenommes scheint seine Gültigkeit verloren zu haben.

Nach meinem Dafürhalten haben sich die Herren Trump und Putin, vielleicht auch Herr Xi, von einer multilateralen Weltordnung verabschiedet und sehen die Welt in multipolaren Einflusszonen.

Aus des Kremls Sicht existiert ein Pol dann, wenn er wirtschaftliche und militärische Macht hat. Ähnlich sieht es wohl auch Präsident Trump.

Wenn Präsident Putin und Präsident Trump das so sehen, wir Europäer aber nur in Anführungszeichen eine wirtschaftliche Macht darstellen, sind wir kein Pol, mit dem man redet, sondern mehr Verhandlungsmasse.

Das neue Europa

Wenn also Europäer sich jetzt zusammenfinden und sagen, wir müssen eine europäische Verteidigungsmacht werden, halte ich das durchaus für richtig, weil wir damit auch unsere Werte, unsere Art des Denkens und unsere Freiheit schützen und Frieden sicherstellen können, ohne dass wir aggressiv werden gegenüber einem anderen wirken.

Was dazu wichtig ist aus meiner Sicht, ist zunächst mal nicht eine komplette Umgestaltung der europäischen Sicherheitsarchitektur. Darüber wird man lange diskutieren, wie das gehen kann oder nicht gehen kann.

Zunächst mal scheint mir wichtig, dass wir neben all diesen Rüstungsideen, die wir jetzt haben, und der Stärkung der Streitkräfte, dass wir Strukturen schaffen, die dafür geeignet sind, also Strukturen, die an der Spitze jemanden haben, der dann wahrgenommen wird, als derjenige, der in diesem Pol mit etwas zu sagen hat.

Eine Verteidigungsstruktur, die parlamentarisch abgesichert ist. Eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik bedarf also auch neuer Strukturen. Das wird ein langer Weg dorthin sein. Der Weg dorthin kann sicherlich über die vorhandenen Strukturen führen.

Wir haben ja innerhalb der Nato Abkommen mit der Europäischen Union über Berlin Plus zum Beispiel, das bedeutet, dass die Nato-Strukturen genutzt werden können für europäische Einsätze. Das könnte man weiterentwickeln.

Das nicht EU-Land Großbritannien muss wieder mit einbezogen werden. Ich denke, dass über all diese Fragen jetzt diskutiert werden wird, wie man diesen Weg geht. Aber einen Gegensatz zwischen Verteidigungsmacht und Friedensmacht sehe ich nicht. Verteidigungsmacht ist die Voraussetzung, um Friedensmacht zu sein.

Helsinki 2.0?

▶ Bedarf es einer neuen Sicherheitskonferenz? Eine Art Helsinki 2.0?

Reiner Schwalb: Das ist eine gute Frage. Ich weiß nicht, ob wir dafür eine Neuauflage von Helsinki brauchen. Wir sollten uns erst einmal darum bemühen, dass wir das, was wir haben, dass wir die Institutionen, die wir haben, wieder stärken.

Jede Abschaffung einer Institution und die Schaffung einer neuen Institution ist ungleich schwieriger als die Institution, die man hat, umzugestalten.

Also ja, ein Helsinki 2.0 könnte es geben, aber basierend auf dem, was wir haben und nicht, indem wir sagen, wir müssen etwas komplett Neues entwickeln.

▶ Danke, Herr Schwalb für das Gespräch.