Diagnosen psychischer Störungen steigen stark an

Seite 2: Mehr ADHS, Angst- und Stressstörungen

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Die deutlichste Zunahme berichtet der Arztreport für die Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), nämlich von 24.000 auf 149.000. Das ist mehr als eine Versechsfachung in nur zwölf Jahren. Dabei muss man wissen, dass ADHS ursprünglich als Entwicklungsstörung im Kindes- wie Jugendalter verstanden wurde und man erst seit Kurzem vermehrt Erwachsenen-ADHS diagnostiziert (30 Jahre Aufmerksamkeitsstörung ADHS).

Aber auch die diagnostizierten Angststörungen stiegen von 74.000 auf 110.000, also um rund 48%; die Reaktionen auf schwere Belastungsstörungen und Anpassungsstörungen von 256.000 auf 485.000, um etwa 89%. Für alle psychischen und Verhaltungsstörungen insgesamt meldet der Barmer Arztreport einen Anstieg von rund 1,4 auf 1,9 Millionen beziehungsweise um 38% bei den jungen Erwachsenen.

Regionale Unterschiede

Dabei gibt es auch noch regionale Unterschiede: Die meisten Diagnosen werden im Nordosten der Republik gestellt, angeführt von Berlin (30,2%), Bremen (30,1), Mecklenburg-Vorpommern (29,5%) und Hamburg (29,0%). Im Südwesten sind sie seltener, insbesondere in Hessen (24,7%), Bayern (24,6%), Rheinland-Pfalz (24,5%) und Nordrhein-Westfalen (24,2%).

Der Barmer Arztreport zeigt auch Unterschiede der Diagnosehäufigkeit bei jungen Erwachsenen zwischen dem Nordosten und Südwesten der Republik. Dabei spielt sicher auch eine Rolle, dass drei der Spitzenreiter unter den Ländern, nämlich Berlin, Bremen und Hamburg, im Wesentlichen städtische Ballungsräume sind. Bekanntermaßen werden in Großstädten mehr psychische Störungen diagnostiziert. Ob die städtische Umgebung mehr Menschen krank macht oder die Diagnose dort besser ist, wird seit Jahrzehnten diskutiert.

Eine Frage der Interpretation

Diese Zahlen verlangen nach einer Interpretation. Die Epidemiologen, deren Sicht wir bereits kennengelernt haben, würden wahrscheinlich sagen: Die Störungen werden eben immer besser diagnostiziert. Demnach würden sich die Diagnosen mehr und mehr der "echten" Häufigkeit annähern. Der Haken an dieser Erklärung ist aber, dass ohne objektiven Maßstab niemand die "echte" Häufigkeit bestimmen kann und die epidemiologischen Untersuchungen zudem wenig über den Schweregrad der Probleme aussagen.

Die Sicht des Epidemiologen lässt ferner die Akteure außen vor, also die Ärzte beziehungsweise Psychotherapeuten und die Betroffenen; sie ist makroskopisch, nicht mikroskopisch. So bleibt eine Reihe alternativer Erklärungen für den Anstieg der Diagnosen:

  1. Ärzte und Psychologen diagnostizieren immer leichtere Fälle der Störungen. Salopp gesagt, wo man früher einen Urlaub empfohlen hätte, wird heute gleich eine Diagnose gestellt.
  2. Aufgrund von Medienberichten und anderen Informationsquellen halten immer mehr Betroffene ihre Probleme für psychische Störungen und gehen daher zum Arzt oder Psychologen, der dann die Diagnose stellt.
  3. Immer mehr Menschen haben tatsächlich behandlungsbedürftige psychische Probleme und gehen daher zum Arzt oder Psychologen, der dann die Diagnose stellt.
  4. Zwar erhöht sich nicht die Anzahl der Menschen mit psychischen Problemen, doch die Schwere ihrer Symptome. Daher gehen immer mehr Menschen zum Arzt oder Psychologen, der dann die Diagnose stellt.

Kompliziertes Bild

Verkompliziert wird das Bild dadurch, dass die vier Möglichkeiten einander nicht ausschließen. Vielleicht sind sie alle ein bisschen wahr. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den ersten und letzten beiden Erklärungen ist aber, dass es bei 1 und 2 kein neues Hilfsbedürfnis gibt, sondern sich nur der Umgang mit den Problemen ändert. Bei 3 und 4 gibt es hingegen einen tatsächlich steigenden Bedarf an der Behandlung psychischer Probleme. Dann stellt sich natürlich die Frage, woran das liegt.

Ich kann nicht für mich beanspruchen, die Wahrheit zu kennen. Der Schweizer Psychologe Michael P. Hengartner, der vor allem die immer weiter zunehmende Verschreibung von Psychopharmaka kritisiert, tendierte im Interview zur ersten Erklärung ("Bei rund 90% wirken Antidepressiva nicht besser als Placebo"). Wenn tatsächlich leichtere Fälle übertherapiert werden, dann spielen neben Gesundheitskosten für die Betroffenen vor allem die möglichen Nebenwirkungen von Psychopharmaka - aber auch einer Psychotherapie - eine Rolle.

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