Diagnosen psychischer Störungen steigen stark an

Seite 3: Ursachen psychischer Störungen

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Allerdings haben Jahrzehnte der Forschung gezeigt, dass die psychische Gesundheit von Umständen wie einer schweren Kindheit, Krieg, Verfolgung oder Folter abhängt; dazu kommen Faktoren wie soziale Isolation, Arbeitslosigkeit, Armut, schlechte Bildung, niedriger Wohlstand und soziale Ungleichheit.

Diese Liste macht deutlich, dass die Theorie und Praxis psychischer Störungen auf einem gesellschaftspolitischen Parkett stattfindet. Davon lenkt der starke Fokus auf die Genetik oder Gehirnzustände in der Biologischen Psychiatrie ab (ADHS und die Suche nach dem Heiligen Gral).

Natürlich ist es so, dass auch Gene unsere psychische Gesundheit beeinflussen, es aber eher um eine mehr oder weniger ausgeprägte Veranlagung geht. Wir alle haben ein bestimmtes Risiko, unter nachteiligen Bedingungen psychische Probleme zu bekommen - die einen etwas früher, die anderen etwas später.

Gesellschaftspolitische Perspektive

Die gesellschaftspolitische Perspektive wirft die Frage auf, ob immer nur besser diagnostiziert wird (Erklärung des Epidemiologen), ob immer leichtere Probleme diagnostiziert werden (Erklärung 1), ob Menschen ihre Probleme immer mehr in der Sprache und Praxis psychischer Störungen begreifen (Erklärung 2) oder ob es tatsächlich immer mehr Betroffene beziehungsweise immer schwerere Probleme gibt (Erklärung 3 und 4).

Allgemein lässt sich nicht leugnen, dass sich durch Globalisierung, Flexibilisierung und Digitalisierung die Anforderungen in vielen gesellschaftlichen Bereichen und insbesondere in der Ausbildung und am Arbeitsmarkt verändern. Dazu kommt noch die eine oder andere Krise der letzten Jahre.

Andere Zeiten, andere Störungen

Wenn man also laut den Daten von Wittchen und Kollegen für das Jahr 2010 davon ausgeht, dass beispielsweise 5% der Menschen eine ausgeprägte ADHS-Problematik haben - das wäre die "Wahrheit" des Epidemiologen -, dann wirft das die Frage auf: Wurden vor den 1990er Jahren, als die Störung kaum diagnostiziert wurde, die Betroffenen übersehen oder hatten sie damals schlicht weniger Probleme?

Ein anderes Beispiel kann man sich mit Blick auf die Angststörungen vorstellen, die mit 14% auf Nummer 1 der Liste stehen: Wer sich früher nicht wohl dabei fühlte, vor Gruppen zu sprechen, der suchte sich vielleicht eine Stelle, bei der das nicht nötig war.

Wenn sich die Arbeitswelt aber so verändert, dass einfache Sekretariatsaufgaben durch Computer übernommen werden und stattdessen Stellen wie die in der Management-Assistenz entstehen, zu denen Präsentationen vor Gruppen zum Alltag gehören, dann haben diese Menschen auf einmal ein Problem. Was man früher als Schüchternheit bezeichnete, wird so vielleicht zu einer Angststörung.

Leiden und Einschränkungen stehen zentral

Ohne subjektives Leiden und ohne Einschränkung der Funktionsfähigkeit liegt aber aus prinzipiellen Gründen keine psychische Störung vor (Die "amtliche" Fassung). In den beiden genannten Beispielen würde aus den Besonderheiten der Personen unter alten Umständen keine Störung, in der neuen Umgebung hingegen schon. Das unterstreicht einerseits noch einmal, dass reines Symptomzählen, wie es die Epidemiologen betreiben, nicht reicht.

Andererseits wird so deutlich, dass man die ermittelten Zahlen zur Häufigkeit psychischer Störungen ohne Berücksichtigung sozialer Praktiken nicht im Laufe der Zeit vergleichen kann - schlicht deshalb, weil sich die Vorstellung dessen, was "normal" ist, also was etwa die Anforderungen einer normalen Schule, eines normalen Studiums oder eines normalen Arbeitsplatzes sind, im Laufe der Zeit verschieben.

Wer sucht überhaupt Hilfe?

Zugegeben, vieles bleibt so im Spekulativen - es ist aber auch ein sehr komplexes Thema. Ein interessanter Anhaltspunkt findet sich aber doch in der Folgestudie der Epidemiologen für Deutschland: Von den Befragten, die laut der Untersuchung innerhalb des letzten Jahres eine psychische Störung hatten, gaben gerade einmal 11% an, in diesem Zeitraum einen Gesundheitsdienst aufgesucht zu haben.

Folgt man jetzt der epidemiologischen Sichtweise, dass so die "wahre" Häufigkeit psychischer Störungen erhoben wird, dann wären rund 89% der Betroffenen unterversorgt. Patienten haben aber heute schon - mitunter selbst bei ernsthaften Problemen etwa mit Suizidrisiko - mit langen Wartezeiten zu rechnen. Das wirft Zweifel auf, dass ein Gesundheitssystem nach Vorstellung der Epidemiologen überhaupt funktionieren könnte.

Oder ist es nicht eben doch so, wie ich vermute, dass viele der so ermittelten Menschen mit psychischen Störungen gar keine relevante Einschränkung ihres Alltags erleben? Immerhin hatten selbst von denjenigen, bei denen vier oder mehr Störungen identifiziert wurden, auch gerade einmal 40% Kontakt mit einem Gesundheitsdienst gehabt.

Dann fällt die makroskopisch-wissenschaftliche Sicht in sich zusammen: Die Zahlen der Epidemiologen spiegeln eben gerade nicht die Lebenswelt der Menschen wider. Das schließt nicht aus, dass mehr Menschen mit schweren psychischen Problemen Hilfe suchen - und diese auch bekommen - sollten.

Konsequenzen steigender Diagnosen

Damit bleiben zur Beantwortung der Frage, ob wir es hier mit einem wichtigen gesellschaftlichen Problem zu tun haben, nur die Diagnosedaten übrig; und diese zeigen steil nach oben. Dabei haben wir noch gar nicht berücksichtigt, dass psychologisch-psychiatrische Diagnosen auch soziale Folgen haben.

Beispielsweise könnten die vorher erwähnten 570.000 jungen Erwachsenen, die allein im Jahr 2016 eine Depression diagnostiziert bekamen, Schwierigkeiten bei der Gesundheitsüberprüfung für die Beamtenlaufbahn oder das Aufnehmen einer Hypothek haben. Bund und Länder wollen in aller Regel wissen, wie groß etwa das Risiko einer Frühberentung ihres zukünftigen Personals ist; und auch die Bank will sich absichern, Stichworte Verdienstausfall oder gar Suizid. Klinische Psychologen und Psychiater wollen ihre Patienten vor den Nachteilen einer Stigmatisierung schützen - aber erzeugen sie paradoxerweise zum größten Teil selbst.

Neue niederländische Studie

In den Niederlanden ist gerade eine Untersuchung der psychischen Gesundheit von über 3000 Studierenden bekannt geworden, die vom Dezember 2017 bis zum März 2018 durchgeführt wurde. Laut Berichten würde ein Viertel mit Burnout-Problemen kämpfen, 14% mit ernsthaften Angst- oder Depressionsbeschwerden, 20% hätten schon an Suizid gedacht.

Auch dies sind makroskopische Daten und die Zahlen der zuvor genannten Studien waren zum Teil vergleichbar. Trotzdem wäre es aber doch auch komisch, wenn tiefgreifende Änderungen des Studiums gar keinen Effekt auf die psychische Gesundheit hätten: etwa die Verkürzung der Studiendauer und die zusätzlichen Verpflichtungen durch das Bachelor-Master-System, starrere bürokratische Regeln, die einen Fachwechsel oder Neuanfang schwieriger machen, oder die Beschränkung finanzieller Förderungen seit 2015, wodurch viele niederländische Studierende mit hohen Schulden ins Berufsleben starten.

Bis wir es genauer wissen, sollten wir daher den starken Anstieg der Diagnosen gesellschaftspolitisch ernst nehmen und nicht bloß als Verbesserung des Gesundheitssystems lobpreisen. Dabei geht es nicht nur um die Folgen von Stigmatisierung, sondern vor allem um die Lebenswelt der Menschen hier und heute.

Hinweis: Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.

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