Die 20-Prozent-Macher: Die fatale Allianz der Extremen Mitte mit der AfD

Protest vor dem Reichstag gegen die AfD am 2. Februar 2025. Bild: Shutterstock.com
Statt das Ungleichheitsregime zu beenden, haben die etablierten Parteien den Frust auf Sündenböcke abgeleitet. Wie ein antiprogressives Klima erzeugt und die extreme Rechte stark gemacht wurde. (Teil 2)
Nach dem vorläufigen Ergebnis zur Bundestagswahl ist die extreme rechte Partei Alternative für Deutschland (AfD) zur zweitstärksten Kraft in Deutschland aufgestiegen. Sie kommt danach auf 20,8 Prozent der Stimmen und verdoppelt damit ihr Ergebnis im Vergleich zur letzten Wahl.
Im ersten Teil der Analyse konnten wir bereits sehen, wie die politische Mitte mit extremen Politiken (von dem britischen Intellektuellen Tariq Ali daher als "Extreme Mitte" bezeichnet) den Nährboden erzeugte, auf dem rechte bis rechtsextreme Antworten gedeihen konnten. Seit den 1980er-Jahren, insbesondere seit den letzten zwei Jahrzehnten, wurde ein Kurs durchgesetzt, der die Armen und auch Teile der Mittelschichten ärmer und die Reichen enorm reicher machte, während die sozialen Missstände tief in die Gesellschaft eingedrungen sind.
Anstatt die Probleme und die Ursachen der neoliberalen Maßnahmen anzugehen, haben die Parteien wie die großen Medien eine andere Strategie gewählt, um die wachsende Unzufriedenheit im Land zu adressieren. Und das hat neben der Ungleichheit einen zweiten Mobilisierungsfaktor für rechtsextreme Antworten erzeugt.
Frustableitung gemäß "Teile und Herrsche"
Im Prinzip handelt es sich um die bekannte Logik von "Teile und Herrsche" oder "Wir" gegen "Die", die Frustableitung ermöglicht und Gruppen gegeneinander ausspielt. Sie ist simpel, aber sehr effektiv: Nicht die Hyperreichen, Unternehmer und Profiteure der Umverteilung von unten nach oben (die 0,1- bzw. 1-Prozent-Klasse), inklusive der politischen Extremen Mitte und ihrer medialen Helfershelfer, sind schuld an den Zuständen und dem Frust. Es sind "die Anderen". Sie nehmen den Deutschen den Wohlstand weg und machen sie unzufrieden.
Damit konnten die Privilegien derjenigen, die die Unternehmen und große Teile des deutschen Vermögens besitzen, sowie die Politik, die ihren Interessen dient, abgeschirmt werden vor echten Reformen, um gleichzeitig die Wut der Menschen angesichts der Ungleichheit und der Missstände von den Frustverursachern wegzuleiten.
Der Flüchtling will deinen Keks!
Um das zu verdeutlichen, zitiert die Guardian-Kolumnistin Fatma Aydemir einen Witz: Ein Banker, ein Sozialhilfeempfänger und ein Asylbewerber sitzen an einem Tisch. Es liegen zwölf Kekse vor ihnen. Der Banker nimmt elf Kekse und sagt zum Sozialhilfeempfänger: "Pass auf, der Flüchtling will deinen Keks."
So erklärte man Minderheiten zu Sündenböcken, grenzte sie aus und stigmatisierte sie zur Gefahr für die unteren und mittleren Schichten. In den 1990er-Jahren, nach den Jugoslawienkriegen und Nato-Bombardierungen, stellten Meinungsmacher und prominente Politiker die vom Balkan Flüchtenden an den Pranger und machten sie für soziale und wirtschaftliche Probleme verantwortlich – um schließlich das im Grundgesetz verankerte Asylrecht zu schreddern.
Das gleiche Schauspiel wird seit 2015 aufgeführt. Die, die vor Krieg, Verfolgung und Elend fliehen, werden in großen Kampagnenwellen von Medien und Politik zu der zentralen Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung stilisiert.
Sie werden dargestellt als illegitime "Sozialschmarotzer", undankbare "Frauenverachter" (siehe das künstlich skandalisierte "Sodom und Gomorra" der Kölner Silvesternacht 2015/2016, von dem im Untersuchungsausschuss im NRW-Landtag nichts mehr übrig blieb) oder Terroristen und Messermörder (siehe die hochgespielten, aus dem Zusammenhang gerissenen Einzeltaten von meist traumatisierten Asylbewerbern und Flüchtlingen), die den übrig geblieben Keks den Deutschen wegschnappen wollen.
Früchte des Zorns
Die AfD konnte die Früchte des Zorns schließlich politisch einsammeln. Im Jahr 2015 war die Partei im Sinkflug begriffen, nachdem sie verzweifelt versucht hatte, über Anti-EU-Stimmungsmache zu reüssieren. Interne Streitereien schwächten sie mehr und mehr, sodass sie bei Umfragen im September 2015 bei vier Prozent landete und auf dem Weg war, in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden.
Doch dann kam die dramatische Wende. Im Herbst desselben Jahres begann der unaufhaltsame Aufstieg der Partei, als die Extreme Mitte sich entschloss, moralische Panik im Zuge der sogenannten "Flüchtlingskrise" 2015/2016 über alle Kanäle zu verbreiten. Ein Jahr später, im September 2016, lag die AfD in der Sonntagsumfrage bei 16 Prozent. Auf der Erfolgswelle schwimmend, konnte sie die politische Radikalisierung vorantreiben und "Vogelschiss"-Theorien verbreiten.
Die AfD ist also keineswegs aus eigener Kraft geworden, was sie heute ist. Es war die politische Klasse und die Mainstream-Presse, die der autoritären Rechten "illegale Eindringlinge" als perfekte Sündenböcke auf dem Silbertablett servierten, und es weiter tun. Erst dann folgte der rasante Aufstieg der extremen Rechten, die erfolgreich mit den allgemein diffamierten Flüchtlingen Kampagnen fahren und Stimmen einfangen können.
AfD-Aufstieg: Treiber Krisendiskurs
Oft wird behauptet, die Flüchtlinge, ihr Zuzug und ihre Anzahl, hätten die Rechten groß gemacht. Der "Migrationsdruck" sei schuld. Doch das stimmt nicht. Wie der Jahresbericht 2018 des Mercator Forum Migration und Demokratie (Midem) "Migration und Populismus" feststellt, war der zentrale Faktor nicht die Zuwanderung von Flüchtlingen, sondern der mediale und politische Krisendiskurs.
So fiel die Zustimmung zur AfD im Verlauf von 2015 bis in den Spätsommer desselben Jahres, wie schon gesagt, auf einen Wert von vier Prozent in der Sonntagsumfrage (von neun Prozent ein Jahr zuvor), während – gerechnet von 2014 – in dieser Zeit 750.000 Flüchtlinge nach Deutschland kamen. Die Zustimmung zur AfD war also tatsächlich negativ korreliert mit den stark ansteigenden Flüchtlingszahlen in Deutschland. Mehr Flüchtlinge führten in dieser Phase de facto zu sinkenden AfD-Werten.
Ab Oktober 2015, als der Krisendiskurs von Politik und Medien gestartet wurde, stiegen die Werte für die AfD dann massiv an, um im September 2018 mit 18 Prozent einen vorläufigen Höhepunkt zu erreichen. In dieser "AfD-Wachstumsphase" gingen die Zuzugszahlen von Flüchtlingen jedoch sowohl für Deutschland als auch für die EU deutlich zurück, sodass auf dem AfD-Peak Ende 2018 fast keine Schutzsuchenden mehr in die Bundesrepublik gelangen konnten – dank der brutalisierten Abschottungspolitik unter Führung der Merkel-Regierung.
Die AfD-Zustimmungswerte sind also auch in der "Krisenphase" negativ korreliert mit der Flüchtlingszuwanderung, nun nach der Regel: weniger Flüchtlinge, mehr AfD-Zustimmung. Die reale Flüchtlingszuwanderung ist offensichtlich nicht der Grund für den Erfolg/Misserfolg der AfD. Was die AfD tatsächlich seit 2015 voranbrachte, war der politische Dauer-Krisendiskurs und eine anhaltend hohe alarmistische Berichterstattung über Asylbewerber und "illegale Migration".
Auch heute verläuft der Höhenflug der AfD parallel zu einer heraufbeschworenen zweiten "Flüchtlingskrise". Obwohl die Asylsuchenden von südlich des Mittelmeers nur einen kleinen Teil der Aufgenommenen darstellen (190.000 vs. über eine Million Ukrainer:innen im Jahr 2020), stehen sie wieder im Mittelpunkt der Mediendebatte, die auf Abschieben und Abwehr fokussiert, wie schon bei der letzten "Flüchtlingskrise" – die de facto eine Abschottungskrise gewesen ist, die mit noch mehr Abschottung beantwortet wurde.
Die sozialen "Schmarotzer"
Währenddessen werden auch Deutsche am unteren gesellschaftlichen Rand diskreditiert, um den Frust der darüber liegenden Gruppen, insbesondere der Mittelschichten, dorthin abzuleiten (und eben nicht nach oben, zu den Frustverursachern). So wurden Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger von Journalisten und Politikern als "Schmarotzer" und "Arbeitsunwillige" diskreditiert, um die Hartz-IV-Reformen und den Abbau des Sozialstaats gegen die Widerstände in der Bevölkerung durchzusetzen. Wie Umfragen zeigen, waren Mehrheiten gegen sie und wollten eine andere, solidarische Modernisierung.
Und während heute die Multimillionäre und Milliardäre im Land kaum noch vor Vermögen, Besitz und Anlage-Portfolios laufen können, wird ihnen weiteres Geld in die Taschen gestopft, während bei denen, die Unterstützung vom Staat erhalten müssen, um sich über Wasser zu halten (wegen fehlender Jobs, zu geringer Entlohnung oder den galoppierenden Mieten und Preisen), jeder Euro umgedreht wird.
So streiten die politischen Meinungsmacher über zu viel "Bürgergeld" für die Armen (bei einem Satz von 563 Euro für Alleinstehende), wobei die Anpassung kaum die Inflation ausglich, nicht jedoch über das kontinuierliche Pampern von Millionären und Milliardären.
Sündenbock "Öko-Terroristen"
Die Extreme Mitte verbreitet dabei weiter den Mythos, dass im Grunde alles in Ordnung sei und ein paar Heftpflaster hier und da ausreichten: ein Euro mehr Mindestlohn zum Beispiel – der nicht mehr als die Inflation ausgleichen würde und oft von Unternehmen ohnehin untergraben wird.
Wer jedoch an die extremen Gehälter und Vermögen, an die Kapitalerträge von Investoren und Unternehmen (oft in Steuersümpfen geparkt) will, wird entweder mit Ignoranz bestraft (siehe die linken Forderungen im Bundestag) oder mit wirtschaftlichen Untergangsszenarien angegriffen.
Und noch eine weitere Gruppe wurde zur Zielscheibe des politischen Establishments. Politiker und Journalisten befeuern toxische Narrative bei Klimaschutz. Um die fossilen Lobbys zu beschwichtigen und den Übergang zu erneuerbaren Energien zu verlangsamen, sabotiert das Establishment (bzw. gewichtige Teile davon) die Energiewende, prangert Forderungen nach Sofortmaßnahmen an, diskreditiert Demonstrierende als "Öko-Terroristen" und stellt den Klimaschutz als wirtschaftliche Belastung sowie als Bedrohung für den Wohlstand insbesondere der unteren und mittleren Schichten dar. Gleichzeitig werden Windräder, Solarmodule und Elektroautos in Kulturkämpfe hineingezogen.
Das hat es der AfD und rechten Kräften leicht gemacht, Klimapolitik als Elitenprojekt darzustellen und sich selbst als Beschützer der einfachen Leute vor den Belastungen und Kosten der Energiewende. Das gleiche könnte man zeigen für die "Wokeness"-Debatte – ausufernde Gefechte um Gendersternchen oder Transsexualität, die von konservativen Schichten der Extremen Mitte gepuscht wurden, während die dadurch angefachten Abwehrreaktionen in der Bevölkerung von der extremen Rechten für Kampagnen genutzt werden konnten.
Warum die Linke (bisher) nicht profitiert
Die "politische Mitte" hat eine extreme gesellschaftliche Situation geschaffen, von der in Deutschland nur die AfD profitiert. Ihr Aufstieg ist eng verbunden mit dem politischen Versagen und Frustableitungen auf Schwächere des Establishments, dessen Vertreter dann Krokodilstränen über den Zuspruch für die AfD vergießen. Das gleiche gilt für andere europäische Länder und die USA.
Bleibt die Frage, warum linke Politikangebote nicht wie rechtsextreme die Lücke ausfüllen konnten, die die Extreme Mitte erzeugte – wobei das überraschende Wahlergebnis der Linken am Sonntag zeigt, dass das nicht so bleiben muss.
Sicherlich wurden in linken Parteien Fehler begangen. Aber der eigentliche Grund liegt an anderer Stelle. Denn die Extreme Mitte bot den Rechten über Jahrzehnte etwas an, was sie den Linken bis heute verwehrt: Mobilisierungsplattformen für ihre Politikangebote.
Während AfD-Themen wie die Bedrohung durch Flüchtlinge, eine die Bürger drangsalierende Energiewende und volkserziehende Wokeness über Jahrzehnte die Medien fluteten, wurde ein Debatte über progressive Maßnahmen, die die sozialen Ursachen des Frusts beheben, unterdrückt.
Hohle Versprechen statt Abbau Ungleichheit
Während Asylrecht und das Abschottungsregime zunehmend verschärft werden und man die Energiewende blockiert, wartet man weiter auf die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, eine Verschärfung der Erbschaftssteuer für Hyperreiche, eine Schließung von Steuerschlupflöchern sowie Steuersümpfen, den Abbau zerstörerischer Subventionen, die Regulierung der Finanzindustrie oder eine Wiederbelebung der Sozialstaats.
Wenn überhaupt werden die Deutschen mit vagen Versprechungen und Täuschungen, wie der Sozialforscher Christoph Butterwegge auf Telepolis eindringlich gezeigt hat, vor den Wahlen vertröstet. Danach werden die populären Ideen auf Wiedervorlage gelegt oder nicht ernsthaft angegangen.
Dem progressiv ausgerichteten Politikklima, wie es einmal Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre zumindest in Ansätzen vorhanden war, ist der Sauerstoff seitdem systematisch entzogen worden. Darüber könnte man lange diskutieren.
Solange aber der Abbau der Ungleichheit und der Missstände nicht ganz oben auf die politische Tagesordnung gesetzt, sondern weiter von der Extremen Mitte rechter Kulturkampf als Ablenkung betrieben wird, müssen rationale Antworten auf den Frust gegen einen mächtigen Strom anschwimmen. Zum Schaden der Republik, ihres Wohlstands und ihrer Stabilität.
Wie die Extreme Mitte durch die Verschärfung von Ungleichheit im Zuge der neoliberalen Wende in Deutschland an Attraktivität gewinnen konnte, darüber können Sie im ersten Teil der Analyse lesen.