Die Beinahe-Machtübernahme
Seite 3: Politisches Gegenprogramm notwendig
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Die digitale Organisation einer solchen Freiheitsbewegung allein kann offenbar nicht ihren nachhaltigen Erfolg sichern. Dazu bedürfte es eines Zusammenschlusses von Menschen, die sich langfristig engagieren, ihre Interessen in einem politischen Programm umzusetzen.
Das Digitale kann einen solchen Zusammenschluss ermöglichen, es bietet aber keinen Ersatz für dauerhaftes Engagement und die institutionelle Absicherung erkämpfter Freiheiten. Demgegenüber funktionieren die Angriffe auf die Demokratie von innen wie außen durch Autokraten oder Populisten, durch Troll-Fabriken und Hacker digital umso besser.
Auch in Deutschland bekommen wir die Auswirkungen zu spüren. Nach einer Umfrage glauben nur noch weniger als die Hälfte der Deutschen, ihre Meinung frei sagen zu können.
Unfreiheit als Lebensgefühl in einem der freiesten Länder der Welt. Die gefühlte Freiheit weicht immer stärker von der verfassungsmäßig garantierten Freiheit ab. Der Grund ist nicht staatliche Überwachung, sondern sind rüde Umgangsformen und durch die allgegenwärtigen "Shitstorms" erzwungene Konformität an einen vermeintlichen Mainstream. Jeder zweite Bürgermeister im Land hat damit inzwischen einschlägige Erfahrungen, immer mehr überlegen deshalb, ihr Amt aufzugeben.
Die Mechanismen einer neuen automatisierten Öffentlichkeit unterminieren unmerklich, aber wirkungsvoll die Grundfeste der Demokratie. So hat sich die einst versprochene grenzenlose Freiheit des Cyberspace in ihr glattes Gegenteil verkehrt.
Wir müssen erneut fragen: Wenn bereits die derzeitigen dummen und auf Werbeklicks getrimmten Algorithmen von Facebook und Co. die Demokratie an den Abgrund führen, was haben wir dann in den kommenden Jahren von den Systemen zu erwarten, die sich Künstlicher Intelligenz bedienen, die täglich leistungsfähiger werden und immer mehr Steuerungsaufgaben "autonom" bündeln können?
Und das Tempo dieser Entwicklung steigert sich zusehends, denn die Schlüsseltechnologie der Digitalisierung, die Künstliche Intelligenz, entwickelt sich immer schneller. Es ist denkbar, dass an die Stelle einer Herrschaft durch Technik, die wir heute bereits sehen, auch einmal eine Herrschaft der Technik tritt.
Schließlich hören wir immer, dass KI dem Menschen überlegen sei und zunehmend eigene Entscheidungen treffen kann. Gerade deshalb wird sie ja überall eingesetzt. Um die menschlichen Schwächen, die in einer hoch technisierten Welt zum Risiko werden, zu beheben, um den Menschen selbst zu optimieren, diesen abgründigen und fehlerhaften Mutanten der Natur.
Und einige Fragen stellen sich ganz fundamental: Was passiert eigentlich mit unserem Denken, mit unserer Vernunft, wenn diese durch ihre eigene technische Erfindung übertroffen wird? Wird Homo Sapiens getrieben durch eine eigene Schöpfung zum Homo Digitalis mutieren und dabei seine Sapientia, seine Weisheit einbüßen? Wird er dadurch gar zum Homo Deus, zum Prothesengott seiner eigenen Schöpfung? Und was, wenn KI dann so etwas wie Vernunft und Bewusstsein entwickeln oder zumindest solche Phänomene erfolgreich simulieren kann? Oder bleibt das unmöglich? Und darauf zu vertrauen, dass es die KI schon richten wird, eine gefährliche Illusion?
Vernunft und Technologie
Auf diese Fragen sucht das vorliegende Buch Antworten. Dafür lade ich Sie ein auf eine kurze Reise durch verschiedene Problemzonen der Künstlichen Intelligenz und der menschlichen Vernunft. Denn die menschliche Vernunft ist Schöpferin der Technologie, die ihr den Platz streitig macht. Sie hat dem Menschen den Aufbruch aus dem Reich der Natur in das der Kultur und Zivilisation überhaupt erst ermöglicht, allerdings auf diesem Weg auch unüberschaubar große Probleme erzeugt.
Im Zeitalter der höchsten jemals entwickelten Technologie treten mit der Klimakrise, dem durch den Menschen verursachten Artensterben und gewaltiger sozialer Ungleichheit auf dem Planeten Probleme auf, die die Moderne verursacht hat, scheinbar aber mit eigenen Mitteln nicht in den Griff bekommt.
Heute stellt sich die Frage, ob diese Probleme durch die Vernunft selbst geheilt werden können, die sie erzeugt hat, oder ob wir dazu das "Andere der Vernunft" brauchen, sei es in Gestalt einer technischen Superintelligenz oder einer unbegreiflich vernunftlosen höheren Macht.
Wollen wir dabei auf die Vernunft setzen, müssen wir zunächst konstatieren, dass sie derzeit weltweit auf der Anklagebank sitzt. Sie gilt weithin als Verursacherin der großen Probleme, kaum als Mittel zu deren Lösung. Im Westen herrscht seit einigen Jahren ein radikales Vernunft-Bashing, das mit dem Scheitern der revolutionären Hoffnungen in Paris 1968 einsetzte, vor allem befeuert durch postmoderne Philosophen wie Foucault, Derrida und Lyotard5, fortgesetzt durch heutige Denker der Identitätspolitik linker wie rechter Provenienz.
Die Vernunft wird darin als Verursacherin der Probleme gesehen, der kaum noch zugetraut wird, Teil der Lösung sein zu können.
Dieses Buch will einladen zum Denken. Denn das Denken ist nicht nur Werkzeug zum "Optimieren" von Wirtschaft und Technologie, sondern auch Mittel der Selbstbesinnung und Selbstbestimmung, von Kritik und schöpferischer Fantasie.
Deshalb kann vernünftiges Denken auch helfen, diese Fragen zu beantworten. Und wenn wir nachdenken, können wir kaum anders, als die Vernunft einzusetzen. Genau betrachtet haben wir dazu nur unvernünftige Alternativen, die die Probleme mit Sicherheit vergrößern, aber kaum lösen würden.
Jetzt werden Sie fragen: Wo bleiben in diesem Szenario die enormen Möglichkeiten zur Verbesserung des menschlichen Lebens, die KI bietet? Sie sollen keinesfalls in Abrede gestellt werden. Die wichtigste positive Leistung von KI ist, dass sie uns helfen kann, uns selbst und die Welt, in der wir leben, immer besser zu verstehen.
Aber das positive Potenzial, das KI in Verbindung mit anderen digitalen Technologien birgt, kann nur entfaltet werden, wenn wir verstehen, wie sie funktioniert und sie nach menschlichen Regeln entwickelt wird. Und wenn es gelingt, eine Möglichkeit zu entwickeln, sie auf Dauer zu kontrollieren.
Das bedeutet auch: bestimmten unerwünschten Entwicklungen klare Grenzen zu setzen. Andernfalls könnte ihr negatives Potenzial sehr schnell die Oberhand gewinnen und künftige Generationen zwingen, nach ihren Regeln zu leben. Das wäre dann kein menschliches Leben mehr, jedenfalls kein Leben in Freiheit.
Haben wir also den Mut, vernünftig zu denken.
Denn wie sich zeigen wird, werden wir die Weisheit des Homo Sapiens weiter brauchen - auch und gerade im Zeitalter Künstlicher Intelligenz.