Die Blumen der Bösen

Nicht alle durften am 17. Juni ihren Kranz loswerden

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Punkt 19 Uhr war das Wesentliche schon vorbei. Da war der 17. Juni ordentlich abgefeiert, und eigentlich wollten alle nur noch eins: Nach Hause. Was essen. Ausruhen. Und was man sonst noch so macht nach einem langen, anstrengenden Tag. Ach was: nach langen, anstrengenden Wochen des Gedenkens an einen neu entdeckten Volksaufstand, der dem deutschen Volke alle Ehre macht und deshalb nicht noch einmal fünfzig Jahre lang ein Schattendasein führen darf.

Dabei geht es jetzt erst los: eine nie gekannte Zahl von Websites, Ausstellungen und authentischen Orten warten auf Besucher. Also nochmal raus und sehen, was los ist am Reichstag. Da hatten sich nämlich für den Abend des 17. Juni - punkt 19 Uhr - die Burschenschafter angekündigt. Genauer gesagt: Die Berliner Burschenschaft Gothia und die Mitglieder des Berliner Burschenschafter Stammtisches. Einen Kranz wollten sie niederlegen "am Mahnmal am Reichstagsgebäude".

Damit konnten sie eigentlich nur den so genannten Zaun des Gedenkens am östlichen Zipfel des Tiergartens meinen. In unmittelbarer Nähe des Reichstags gibt es nämlich kein Mahnmal des 17. Juni. Denn die 16 weißen Kreuze am ‚Zaun des Gedenkens' erinnern nicht an die Aufständischen von 1953, sondern an jene Menschen, die in oder an der Berliner Spree ums Leben gekommen sind beim Versuch, der DDR zu entrinnen. Auch das mehr als unfertige Holocaust-Mahnmal kommt nicht in Frage - das Gelände befindet sich bereits südlich vom Brandenburger Tor und damit keinesfalls "am Reichstagsgebäude".

Abgesehen davon dürfte es nicht weiter schwierig sein, den Ort der geplanten Kranzablage zu finden - hat doch der Asta der Freien Universität Berlin zu einer Protestaktion an eben dieser Stelle aufgerufen. Und tatsächlich: Schräg gegenüber vom Reichstag, Ecke Dorotheen-/Ebertstraße, unmittelbar vor den weißen Kreuzen, steht ein Haufen Studenten, so an die fünfzig Stück, mehr oder weniger komplett in Schwarz mit selbst gebastelten Plakaten. Am Straßenrand parkt ein roter Lautsprecherbus, aus dem unverständliche Musik dröhnt. Daneben ein großes Stoffbanner. Die Parole darauf: "Burschis aufessen".

Dazu ein Teller mit Messer und Gabel. Seit nachmittags um drei stünden sie bereits da, sagt einer der Bannerträger, er ist müde und findet, dass er schon viel zu lange rumsteht. Und wie bereits gesagt: punkt 19 Uhr war das Wesentliche schon vorbei. Die Burschenschafter waren nicht aufgekreuzt, dafür welche von der DVU, und die hätten "da drüben" einen Kranz abzulegen versucht. Dabei sei es zu einer Hauerei gekommen, vier Studenten wurden angeblich festgenommen. Wo denn "da drüben" genau sei, kann keiner sagen. Überhaupt ist keiner für irgendwas zuständig, keiner will seinen Namen sagen und direkt gesehen hat auch niemand was. Ist ja schließlich um die Ecke passiert. Dort beginnt die Straße des 17. Juni. Unterwegs dorthin immer mal wieder ein Trupp schwarz gekleideter Jugendlicher. Und immer dasselbe. Keiner hat was gesehen.

Der erste, der was gesehen hat, ist der einsame Taxifahrer gleich am Anfang des 17. Juni. Aber was er gesehen hat, das weiß er nicht. Eine Menge Leute sei da gewesen, die seien hierhin gerannt und dorthin, er habe gar nicht gewusst, wer da zu wem gehört und wer da wem hinterherläuft. Und die Kränze? Da auf dem Mittelstreifen des 17. Juni liege was. Bei der Figur da. Und dann zeigt er noch auf die Einsatzwagen querab von der Figur. Der erste Polizist weiß nicht, "was da los war". Nur dass tatsächlich ein paar Studenten festgenommen wurden. Mehr könne er im Moment nicht sagen. Der hält mich womöglich für eine Studentin, denn in der Eile hatte ich mir nur eine schwarze Hose und ein schwarzes T-Shirt angezogen. Und mein Presseausweis interessiert ihn nicht. Ob er was dagegen hat, wenn ich mir mal die Blumen da drüben auf dem Mittelstreifen angucke, frage ich einen anderen. Auch der will meinen Presseausweis nicht sehen. Stattdessen mustert er mich kurz von oben bis unten, lacht dann kurz und meint: "Na klar!"

Die Blumen der Bösen liegen auf der Rückseite der Bronzefigur, die offiziell Der Rufer heißt. Besonders schön sind sie nicht: Links ein Thujen-Kranz mit orangefarbenen Gerbera und mehreren Anthurien: große grüne Blätter mit rosarotem Zentrum und keck hervorstehendem rosarotem Auswuchs. Rechts ein Tujen-Kranz mit roten Gerbera und weißen Astern. Geht man um die drei Meter hohe Figur herum, kann man folgenden Satz lesen: "Ich gehe / durch die Welt / und rufe / Friede Friede Friede".

Wobei sich "Friede Friede Friede" auf der dem Brandenburger Tor zugewandten Seite befindet, die Blumen dagegen auf der Rückseite der Figur, sozusagen in Richtung Siegessäule. Eine demonstrative Geste ist das wohl nicht, denn ehrlich gesagt ist nur auf der Rückseite der Bronze ausreichend Platz für die beiden Gebinde. Schließlich befindet sich die Nachbildung des italienischen Humanisten und Dichters Francesco Petrarca (1304-1374) nicht auf einem Niveau mit den ringsum parkenden Jeeps und Cabriolets, vielmehr steht sie auf einem dreistufigen Granitplateau - und das bietet auf der Rückseite nun mal mehr Platz für Blumen. Eine prädestinierte "Kranzabwurfstelle" also.

Man könnte sich natürlich allerlei Gedanken machen - über die Wahl der Kranzabwurfstelle auf halbem Wege zum Sowjetischen Ehrenmal oder über die Blumensprache und darüber, ob die Vertreter der Burschenschaft Gothia beziehungsweise die Vertreter der DVU darin geschult sind. Ob also die Auswahl der Farben und Gewächse eine tiefere Bedeutung hat, doch leider setzt sich in diesem Moment einer der Einsatzwagen in Bewegung. Nein, man habe die Identität der Festgenommenen nicht eindeutig feststellen können, deshalb nehme man die jetzt mit auf den "Abschnitt", sprich: auf die Dienststelle. Die Studenten, die die ganze Zeit unweit der "Wannen" gewartet haben, setzen sich in Bewegung. Eine Frau hat mitbekommen, wie die Kränze vom Mittelstreifen entführt und in die Hecken des Tiergartens geworfen worden waren. Dann sei ein großes Gerenne losgegangen, und auch sie habe bald nicht mehr gewusst, wer da wen jagt. Seien ja auch Zivten dabei gewesen. Zivten? Polizeibeamte in Zivil.

Die Spruchbänder an den Kränzen seien entfernt und die Kränze wieder bei der Figur abgelegt worden. Mehr kann und will sie nicht erzählen, denn einer aus der Gruppe will am Brandenburger Tor einen Nazi entdeckt haben. Der da mit dem schwarzen Pulli und den Springerstiefeln. Ob jemand eine Kamera dabei habe, fragt einer. Und dann rennen sie auch schon los. Drüben am Zaun des Gedenkens ist alles still. Es ist halb acht. Angemeldet war die Demo bis acht, aber weil nichts mehr los war, habe sich das Ganze aufgelöst. Sagt einer der letzten vor Ort. Die Zahl der beobachtenden Polizisten ist ebenfalls merklich gesunken. Kurz nachdem die letzten Demonstranten abgezogen sind, machen sich auch die übrigen Einsatzwagen davon. Ja, sie haben mitbekommen, dass es da irgendwie um Protest gegen "Revanchismus, Nationalismus" und solche böse Sachen ging. Aber jetzt sind ja alle weg, und deshalb sei jetzt Feierabend. Erstaunlich pünktlich die Berliner.