Die Dialektik des Klimawandels
Wie quantitative Änderungen der Treibhausgaskonzentration zu qualitativen Umbrüchen im globalen Klimasystem führen können
Während die Bundesregierung sich langsam aus der Klimapolitik verabschiedet und auch auf europäischer Ebene der Klimaschutz immer weiter aufgeweicht wird, bemühen sich US-amerikanische Wissenschaftler, mittels einer fast schon verzweifelten Kampagne der Öffentlichkeit die Dringlichkeit einer massiven globalen Absenkung der CO2-Emissionen vor Augen zu führen.
Der "What We Know" titulierte Bericht, der vor der weltweit größten Wissenschaftsvereinigung, der American Association for the Advancement of Science (AAAS), publiziert wurde, bemüht sich um eine möglichst allgemein verständliche Darstellung des aktuellen Wissensstandes und der wissenschaftlichen Diskussion zum Thema Klimawandel. Zum einen räumt er mit dem Mythos auf, die Tatsache des menschengemachten Klimawandels sei innerhalb der Wissenschaft immer noch umstritten. Rund 97 Prozent der Klimawissenschaftler seien inzwischen der Auffassung, dass der menschengemachte Klimawandel sich bereits vollziehe, heißt es in dem Bericht. Die diesbezüglichen wissenschaftlichen Erkenntnisse seien ähnlich schlüssig, wie diejenigen, die "Rauchen mit Lungen- oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen" in Verbindung bringen.
Die bisherigen Folgen des Klimawandels, die wissenschaftlich erfasset werden konnten, werden in der Studie knapp auf den Punkt gebracht:
Die durchschnittliche globale Temperatur ist in den vergangenen 100 Jahren um 1,4 Grad Fahrenheit (0,8 Grad Celsius) angestiegen. Der Meeresspiegel steigt an, und einige Arten extremer Wetterereignisse - wie Hitzewellen und Starkregenfälle - finden häufiger statt. Neueste Wissenschaftserkenntnisse deuten darauf hin, dass der Klimawandel für die Zunahme der Intensität dieser Ereignisse in den vergangenen Jahren verantwortlich ist.
Plötzliche, unvorhersehbare Klimaveränderungen
Dabei würden die gegenwärtigen Klimaturbulenzen nur den Beginn potenziell verheerender Klimaumbrüche darstellen, sollten die Treibhausgasemissionen auf globaler Ebene nicht schnellstmöglich massiv reduziert werden, warnen die Autoren der Studie. Ohne rasches Gegensteuern bestehe die Gefahr, das globale Klimasystem "in abrupte, unvorhersehbare und irreversible Veränderungen mit höchst zerstörerischen Folgen" zu treiben. Je schneller ein radikales Umsteuern bei dem Emissionsausstoß erfolge, desto größer seien die Chancen, diese für den menschlichen Zivilisationsprozess potenziell desaströsen Umbrüche im Klimasystem zu vermeiden. Auch der Weltklimarat IPCC rät zum raschen Umsteuern in der Klimapolitik, noch sei es möglich (Klima: Die Zeit wird knapp)
Die in Klimaprojektionen gehegte Vorstellung und Hoffnung, wonach der Klimawandel ähnlich graduell und langsam ablaufen würde, wie die Erhöhung der globalen CO2-Emissionen und -Konzentration es nahelegt, sei durch geologische und klimageschichtliche Untersuchungen widerlegt worden, warnt die Studie. Das hochkomplexe Klimasystem reagiere keineswegs linear, sodass ein bestimmter Anstieg der Emissionen etwa in einen korrespondierenden Meeresspiegelanstieg umgerechnet werden könnte. Stattdessen hätten in der Klimageschichte immer wieder "relativ kleine Änderungen in einem Element des Klimas zu abrupten Veränderungen des gesamten Systems geführt". Sollte dieser Kipppunkt des Klimasystems überschritten werden, würde ein potenziell unaufhaltsamer Prozess in Gang gesetzt, der selbst bei einem totalen Stopp aller menschlichen Treibhausgasemissionen weiter ablaufen würde.
Solche plötzlichen, "qualitativen" Umwälzungen des Klimawandels, die durch langfristige, Jahrhundertelande "quantitative" Veränderungen des Klimawandels (Erhöhung der CO2-Konzentration) ausgelöst werden, würden selbst nach menschlichem Ermessen rasch ablaufen. Der plötzliche Umschwung würde in "einer kurzen Periode stattfinden, die in Dekaden oder sogar Jahren" gemessen werden könnte. Die weitverbreitete Gleichgültigkeit gegenüber dem Klimawandel, die sich in der Parole "Nach mir die Sintflut" wunderbar manifestiert, könnte sich somit an dem "dialektischen" Prozess des Klimawandels blamieren.
Die Studienautoren bemühen sich nach Kräften, dem Leser diese Gefahr einer in plötzlichen Schüben stattfindenden Umwälzung des globalen Klimasystems plausibel zu machen. Hierbei ziehen sie beispielsweise Parallelen zu dem plötzlichen, verheerenden Ausbruch der globalen Weltfinanzkrise 2008, die durch das Platzen der jahrelang aufsteigenden Immobilienblasen ausgelöst wurde. Während der Aufstiegsphase dieser verheerenden spekulativen Blasenbildung hätten sich die meisten Menschen in Sicherheit gewogen; die weinigsten Ökonomen konnten den Crash vorhersagen.
Wir haben nicht bemerkt, dass wir und in einer [Blase] befinden; die Dinge schienen stabil, bis sie es plötzlich nicht mehr waren.
Diese Tendenz zu einem schubweisen Ablauf des Klimawandels befördert übrigens auch immer wieder Berichte und Spekulationen, die eine "Pause" im Klimawandel postulieren, wenn bestimmte Werte über einen kurzen Zeitraum nicht mehr linear anwachsen.
In dem Bericht werden etliche klimatische Kipppunkte genannt, die eine plötzliche Umwälzung des scheinbar stabilen Klimasystems - oftmals auch als positive Rückkopplung bezeichnet - auslösen könnten. Hierzu zählt etwa ein Verschwinden der Eisdecke in der Arktis, die sich so von einem Kühlschrank zu einer Heizung des Weltklimas wandeln würde, ein massives Waldsterben im Amazonas oder das Absterben der globalen Korallenriffe.
Dabei sei es "verstörend", dass die Wissenschaft kaum zuverlässige quantitative Schwellenwerte nennen könnte, die einen solchen qualitativen Umschlag des Klimasystems auslösen würden. Es gebe "seine sehr geringe Zuversicht in die Schätzungen", bemerkten die Studienautoren. Auch hier wäre vielleicht ein Vergleich mit der Immobilienblase angebracht. Sobald eine Blasenbildung - etwa auf dem Immobilienmarkt - von einem Beobachter erkannt wurde, kann er mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit deren Platzen vorhersagen. Den konkreten Zeitpunkt, an dem dies geschieht, kann man aber kaum prognostizieren.
Die ahnungslose Wiederentdeckung der materialistischen Dialektik
Ohne es zu ahnen, haben die Studienmacher - wie auch viele andere Klimawissenschaftlicher, die auf Kipppunkte (Tipping Points) im Klimasystem hinweisen - hier alte Grundsätze der materialistischen Dialektik neu "entdeckt". Bekanntlich hat Karl Marx die idealistische, von Hegel formulierte Dialektik - die dort als das Bewegungsgesetz des Weltgeistes fungiert - "vom Kopf auf die Füße gestellt" und als ein Bewegungsgesetz der Materie in all ihren Formen erkannt.
Ausgehend vom grundlegenden Axiom der materialistischen Dialektik, dem zufolge die Bewegung die Daseinsweise der Materie bildet, orientiert sich dialektisches Denken an Prozessen, anstatt in einer statischen Weltsicht zu verharren. Die materielle Welt in ihrer Gesamtheit wird als eine Dynamik begriffen, die einem permanenten Wandel unterworfen ist - selbst wenn dieser in scheinbar statischen Zuständen nicht auf den ersten Blick sichtbar ist. Die Triebfeder dieser dynamischen Daseinsweise der Materie - vom Universum, über das Klima, bis zur menschlichen Gesellschaft - stellen Widersprüche dar. Aus dem Wechselspiel, aus dem Aufeinandertreffen der Gegensätze - in der klassischen idealistischen Dialektik als Dreiklang von These, Antithese und Synthese aufscheinend - ergebe sich erst jegliche Bewegung und Entwicklung. Für Marx und Engels fungierte diese "widersprüchliche Einheit" der Gegensätze noch als Quelle des Fortschritts, als ein Bewegungsprinzip, das zu Neuem und Höherem führt.
Für die materialistische Dialektik entwickelt sich diese von Widersprüchen angetriebene Dynamik der materiellen Welt nicht linear, sondern ebenfalls in Sprüngen. Hierbei wird dann von einem "Umschlag von Quantität in Qualität" gesprochen, bei dem quantitative Veränderungen beim Überschreiten eines bestimmten Schwellwertes qualitative Umbrüche zur Folge haben. Der positivistisch verödete Wissenschaftsbetrieb - dem alles suspekt ist, was nicht vermessen und in Zahlenform ausgedrückt werden kann - muss nun diese Marxschen Erkenntnisse erst mühsam aus einer Unmenge empirischen Materials wieder herausdestillieren.
Die materialistische Dialektik geht somit seit Marx' Zeiten davon aus, dass beständige, quantitative Änderungen in einem komplexen System - wie in diesem Fall der Anstieg der CO2-Konzentration in der Atmosphäre - ab einem bestimmten Punkt zu einem plötzlichen, qualitativen Sprung führen, der das System in einen gänzlich anderen Zustand überführt.
Wie dieses "Umschlagen von Quantität in Qualität" vonstatten geht, kann man seit 1878 im "Anti-Dühring" und seit 1883 in der "Dialektik der Natur" nachlesen. Das entsprechende Zitat aus der - durchaus auch innerhalb linker Kreise umstrittenen - "Dialektik der Natur" lautet:
Dies können wir für unsern Zweck dahin ausdrücken, daß in der Natur, in einer für jeden Einzelfall genau feststehenden Weise, qualitative Änderungen nur stattfinden können durch quantitativen Zusatz oder quantitative Entziehung von Materie oder Bewegung (sog. Energie). Alle qualitativen Unterschiede in der Natur beruhen entweder auf verschiedner chemischer Zusammensetzung oder auf verschiednen Mengen resp. Formen von Bewegung (Energie) oder, was fast immer der Fall, auf beiden."
Der "quantitative Zusatz" in unserem Klimasystem ist die permanent steigende CO2-Konzentration, die eben beim Erreichen eines bestimmten Punktes das besagte Umschlagen des Klimasystems mit sich bringt. In einem gewissen Sinne entdeckt die Naturwissenschaft somit tatsächlich gerade die Marxsche materialistische Dialektik neu - freilich ohne dies zu bemerken.
In den Jahrzehnten des Kalten Krieges geriet diese Denkschule im Westen in Misskredit, um nach dem Zusammenbruch des real existierenden Staatssozialismus endgültig in Vergessenheit zu geraten. Der orthodoxe Marxismus sah in dieser dialektisch-materialistische Gesetzmäßigkeit sogar die Grundlage seiner historischen Entwicklungstheorie, der zufolge Klassenkämpfe (Einheit und Kampf der Gegensätze) und Revolutionen (Umschlag von Quantität zu Qualität) als Triebfedern und "Lokomotiven" der menschlichen Geschichte fungierten. Mit dem Scheitern der materialistischen Geschichtsphilosophie, die den Sozialismus als eine historische Notwendigkeit imaginierte, geriet auch die materialistische Dialektik in Vergessenheit.
Dabei können die Gesetzmäßigkeiten der Marxschen Dialektik ohne größere Anstrengung auch im derzeitigen krisengeplagten Spätkapitalismus ausgemacht werden. Bei der obig erwähnten Immobilienblase haben ja tatsächlich quantitative Veränderungen, wie der durch fiktives Kapital befeuerte Anstieg der Immobilienpreise, zu einem qualitativen Umschlag des Gesamtsystems in eine schwere Finanzkrise geführt.
Mitunter sind es auch Selbstverständlichkeiten, die dem dialektischen Charakter der Dynamik in der Natur illustrieren können: Wenn etwa quantitative Veränderungen der Temperatur Wasser ab einem Kipppunkt urplötzlich in den festen oder gasförmigen Zustand überführen, findet eben ein Umschlag von Quantität (Temperaturveränderung) in Qualität (Aggregatszustand) statt. Es ist somit sehr wahrscheinlich, dass auch ein ungehemmter Klimawandel ähnliche dialektischen Sprünge vollführen wird - wenn auch nicht klar sein dürfte, wann konkret sie einsetzen werden.