Die Impffrage und der neue Kulturkampf gegen die Philosophie
- Die Impffrage und der neue Kulturkampf gegen die Philosophie
- Die Pandemie als verhaltenspsychologisches Problem
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Diesmal ging es um die Freiheit selbst: Wie dysfunktional Medien heute mit Intellektualität umgehen – Protokoll einer sehr deutschen Debatte, Akt I
Was heißt das übersetzt? Sind das dumme Menschen, die sich nicht impfen lassen?
Markus Lanz
Dienstag, der 2. November 2021, war der Tag, an dem in Deutschland erstmals einigermaßen vernünftig über das Boostern geredet wurde. Davor hat fast niemand davon gesprochen, schon gar nicht der damals noch amtierende Gesundheitsminister Jens Spahn.
Da trat in der – im Rahmen des Formats außergewöhnlichen und unbedingt nachsehenswerten – Sendung "Markus Lanz" die Vorsitzende des deutschen Ethikrats, die Medizinethikerin Alena Buyx vors Publikum und sagte "das niedrigschwellige Impfen ist eine wichtige Sache, aber man muss auch nach-boostern".
Von diesem Tag an war auf einmal klar: zwei Impfungen reichen nicht, das schlichte 2G ist nicht genug.
Es gab es noch wichtigere Themen an diesem Abend. Denn eigentlich ging es angesichts der noch langsam, aber schon sicher und immer steiler steigenden "Vierten Welle" um die Frage einer möglichen Impfpflicht.
Und erstmals wurde eine Unterdebatte des allgemeinen Corona-Gesprächs, also der Neudefinition der modernen Gesellschaft im Angesicht einer globalen Pandemie, vorwiegend von Philosophen und mit philosophischen Argumenten geführt.
Freiheit oder Pflicht?
Entlang der Parameter Freiheit vs. Einschränkung, Sicherheit vs. Gefahr, Gesundheit vs. Krankheit, Leben vs. Tod, Materialismus vs. Imagination ging es immer schon; diesmal aber ging es um die Freiheit selbst.
Die Impffrage, also genau genommen die Entscheidung zwischen (Impf-)Freiheit und (Impf-)Pflicht ist zu einem Kulturkampf geworden.
Die sehr deutsche Debatte, die sich dabei in den Medien entzündete, ist ein Schul- und Paradebeispiel dafür, wie Philosophie und überhaupt Theorie in den Medien funktioniert, beziehungsweise, wie sie in den Medien eben nicht funktioniert. Wie dysfunktional heutige Medien mit allem umgehen, was in irgendeiner Form mit Intellektualität zu tun hat. Das Dysfunktionalste an dieser Geschichte ist natürlich bereits das Personal.
Komplexitätsforscher unter sich: Infragestellung von freiheitsverteidigenden Positionen
Auftritt: Svenja Flaßpöhler, Richard David Precht, Markus Lanz. In der Rolle der Hofnärrin: Margarete Stokowski. In weiteren Nebenrollen: Julia Encke (FAS), Jochen Huber (Der Tagesspiegel). Und Robert Pfaller, als er selbst, also als der einzige tatsächliche, seriöse Philosoph mit einem Philosophielehrstuhl und außerdem als Österreicher – das bedeutet, dass er sowieso in Deutschland nicht richtig ernst genommen wird. Und: Dass er andererseits auch Dinge sagen darf, die man Deutschen nie durchgehen ließe. So wie österreichische Filmemacher für Dinge gefeiert werden, die man deutschen Filmemacher nie durchgehen ließe. Und wie österreichische Politiker... Aber lassen wir das, das ist eine andere Geschichte.
Flaßpöhler, keine der "Markus Lanz"-Dauergäste, war eingerahmt von drei regelmäßigen Besuchern des Lanz' Stammtisch: Rechts von ihr der Moderator und Alena Buyx, links von ihr der "Komplexitätsforscher" (sind wir das nicht irgendwie alle?) Dirk Brockmann (im "bürgerlichen Beruf" ist er Physiker, der an der HU Berlin zu Mobilität und Massendaten forscht, einer der berüchtigten "Modellierer" der Pandemie) und Robin Alexander von der Welt, der in den Jahren 2018, 2019 und 2020 der meisteingeladene Journalist in deutschen Talkshows war und diesen Status bestimmt auch 2021 verteidigen kann. Erwartungsgemäß flankierten die übrigen Gäste auch inhaltlich Lanz' Infragestellung von Flaßpöhlers freiheitsverteidigenden Positionen.
Es ist vor diesem Hintergrund natürlich erst recht auch absurd, dass diese Frau – eine kluge Frau und promovierte Philosophin und Leiterin des Philosophie-Magazins also auch in dieser Hinsicht verdienstvoll – dass diese Frau von Markus Lanz in seiner Anmoderation als "die bedeutendste Philosophen Deutschlands" hingestellt wird. Denn das ist Flaßpöhler bei allem Respekt nun wirklich nicht. Sie ist noch nicht mal die bedeutendste lebende Philosophin Deutschlands. Sie ist allenfalls die einflussreichste lebende Philosophin Deutschlands, aber auch da müsste man mal hinschauen, wer noch alles Philosophie studiert hat und sich deswegen Philosophin nennen darf.
Dann sind eben die Voraussetzungen von gestern keine Voraussetzungen von morgen mehr
Es ist die erste Debatte zum Thema, es geht sehr konkret um Argumente, die pro oder contra Impfen sprechen. Um Impfpflicht geht es nur am Rande, und nicht um eine allgemeine, allenfalls um eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen.
Zu Beginn redet Flaßpöhler darüber, dass jetzt ein "Impfdruck" erzeugt werde, weil die Politik es nicht hinbekommen hat, "den Standard bezüglich Pflegepersonal in den Kliniken zu halten, geschweige denn, den Status sogar auszubauen". Ein falscher Start von ihrer Seite.
Denn das mag zwar alles sein. Es hat nur zu dem aktuellen Problem überhaupt nichts beizutragen und lenkt nur vom Thema ab. Genauso wie es zu dem Problem nichts beiträgt, festzustellen, dass das Virus mutiert hat und dass man damit nicht rechnen konnte. Denn dann sind eben die Voraussetzungen von gestern keine Voraussetzungen von morgen mehr. Dann muss man sich neu justieren. Man kann schließlich auch nicht, wenn man auf hoher See ist, auf die Wettervorhersage verweisen und sagen, dass es in der doch hieß, dass kein Sturm kommen werde. Sondern wenn der Sturm da ist, muss man dafür sorgen, dass das Boot nicht kentert.
Auch die Argumente gegen Flaßpöhler waren allerdings nicht besser begründet. Als Flaßpöhler darauf hinweist, dass der "Knochenjob" der Pflege mit 4.000 Euro brutto viel zu schlecht bezahlt werde und bessere Bezahlung einfordert, erwidert ihr Robin Alexander, der weitaus mehr verdient bei der Welt: "Glauben Sie nicht, dass diese Leute in der Pandemie auch die Faxen dicke haben? Und nicht mehr die Arbeit machen wollen für Menschen, die sich nicht impfen lassen?"
Ja, auch das ist ohne Zweifel so. Aber was folgt daraus? Dass bessere Bezahlung nicht trotzdem nötig ist? Auch syrische Ärzte haben vermutlich nach über zehn Jahren Bürgerkrieg schon lange "die Faxen dicke". Sie tun trotzdem ihre Pflicht – ich meine jetzt nicht die juristische Pflicht, sondern die moralische, ethische, politische, ästhetische (ja auch das!), menschliche. Hat Robin Alexander davon schon mal gehört?
Es ist auch schon deswegen Unsinn, weil es ja im ganzen Pflegebereich auch relativ viele Leute gibt, die sich nicht impfen lassen. Der rechts-konservative Journalist geht also tatsächlich davon aus, dass mit Geld Menschen nicht zu motivieren sind.
Das ist interessant, denn mehrere Jahrhunderte lang war es ja die These vor allem konservativer Denker und Politiker, dass Geld der einzige wirkliche Motivator der Menschen ist, dass Menschen letztendlich alles, was sie tun, nur aus Eigennutz tun. Jetzt aber, wo man staatlicherseits etwas bezahlen müsste, ist Geld auf einmal kein Argument mehr.
Anekdoten gegen Anekdoten
Alena Buyx differenzierte mit dem Hinweis, im Krankenhaus seien die Intensivkräfte nahezu alle geimpft. "Man hat eine fast hundertprozentige Impfquote." Die den Durchschnitt verderben, seien die Pflegekräfte im Altenheimen. Buyx: "Die Leute sind moralisch erschöpft. Etwa dass die Krebspatienten und die Herzpatienten nicht so gut behandelt werden, weil man zehn ungeimpfte Corona-Patienten auf der Station hat. Das müssen wir uns klarmachen, das wird nicht besser werden, sondern das wird schlechter werden."
Zur Begründung ihrer Impfdruck-These nahm Flaßpöhler dann einen neuen Anlauf: "In der Schule meiner Tochter, die ist 13, gibt es fast keine Luftfilter. Also das heißt: nach fast zwei Jahren Pandemie hat es Berlin nicht geschafft, dass diese Schule mitten im Prenzlauer Berg mit Luftfiltern ausgestattet wird. Stattdessen wird jetzt aber auch der Druck auf die Kinder, auch auf die 13-jährigen, sich impfen zu lassen, erhöht."
Dann schwenkt sie auf die Impfpflicht in bestimmten Pflegebereichen: "Es klingt erstmal verlockend, zu sagen, man verordnet das für bestimmte Bereiche. Aber man sieht ja auch in Frankreich, in Italien, dass die Leute auf die Barrikaden gehen. Die Leute kommen einfach nicht mehr zur Arbeit. Dann kann man fragen: Was ist denn unterm Strich besser?"
Das Argument lautet also: Weil ein Gesetzesgehorsam nicht gewährleistet werden kann, soll man besser gar kein Gesetz machen. So ungefähr geht die sächsische Polizei (#Sucksen) seit zwei Jahren gegen die Querdenker vor.
Traurigerweise wurde dann alles schnell derart diffus und subjektivistisch. Robin Alexander, ebenfalls in Berlin wohnhaft, konterte mit seinen Kindern. Zwei davon sein geimpft, nur der jüngste nicht, und "dem hat das richtig zu schaffen gemacht".
Warum, sagt er nicht? Haben ihn die Eltern nicht mehr ohne Schnelltest ins Wohnzimmer gelassen?
Alles betrifft alle immer irgendwie "unterschiedlich"
Sind die Leute, die sich nicht impfen lassen wollen, alles dumme Leute?" fragte Lanz rhetorisch. Oder muss man es so ausdrücken wie Flaßpöhler in der Sendung: "Es betrifft die Menschen auch unterschiedlich"? Flaßpöhler meint "Man braucht Spielräume in der Pandemie" und verweist auf Körpergefühl, Umwelt, Mitmenschen.
Das ist eine gefährliche Argumentation, weil es eine sehr klare Fragestellung (Sollte man nun eine Impfpflicht einführen, oder ist der Druck schon jetzt zu hoch?) ins Diffuse, Persönliche, Subjektivistische und Gefühlige verschiebt. Weil hier die kühle Analytikerin der neuen Sensibilität selbst plötzlich sensibilistisch argumentiert.
Denn es ist ja so: Alles betrifft alle immer irgendwie unterschiedlich und für alles gibt es bei allen immer gewisse Spielräume. Nur folgt daraus überhaupt nichts. Gesellschaften müssen mit bestimmten Regeln und Gesetzen, die möglichst klar argumentieren, geführt werden, ansonsten werden sie überhaupt nicht geführt.
Eine Ampel in acht Farben?
Vielleicht ist es in einer Theokratie, einer Gottesherrschaft, noch ein bisschen anders. Aber in modernen Gesellschaften gibt es Gesetze und Regeln, es gibt eine Ampel mit Rot und Grün, möglicherweise noch mit Gelb, wobei das Gelb ja schon – wie jeder Verkehrsteilnehmer genau weiß – Spielräume eröffnet, die im Einzelfall gefährlich sind: Kann ich bei Gelb gerade noch über die Ampel fahren? Oder sollte ich gerade schon eine Vollbremsung einlegen, weil es gleich rot wird?
In beiden Fällen kann es zu Unfällen kommen, und in einem gewissen Sinn habe ich im konkreten Fall einfach Pech gehabt, je nachdem, wofür ich mich entschieden habe. Wenn wir aber in die Farbskala einer Ampel auch Dunkelrot und Orange und Rosa und außerdem noch Grüngelb und Türkis einführen würden, dann hätten wir sehr bald ein einziges Verkehrschaos und das Ganze würde ohne Ampel besser funktionieren, weil dann die Leute komplett auf Selbstverantwortung, also auf Vorsicht und Pragmatismus setzen.
Ob man Lust hat oder nicht, aber man muss in diesem Teil der Debatte Robin Alexander komplett recht geben. Weil er sehr nüchtern argumentiert, und auch Flaßpöhlers diffuse Behauptungen – "wir tun so, als ob wir alle gleich wären" – einfach mal kühl zurückschiebt:
"Das stimmt nicht. Niemand hat je gesagt, dass Kinder besonders gefährdet sein."