Die "Karl-May-Frage": Rassismus oder kulturelle Aneignung?
Seite 2: Das Phänomen Karl May
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Die große Zahl seiner Veröffentlichungen ist kein Beweis für die Autorenschaft von Karl May.
In seinen letzten Lebensjahren führte May Prozesse gegen Herausgeber und Bearbeiter seiner Schriften um Anerkennung seiner Urheberschaft. Mays Universalerbin, seine Ehefrau Klara May (1864–1944), mit Hitler persönlich bekannt und mit Hitlers Halbschwester befreundet, gedachte sogar, Teile des Werks im nationalsozialistischen Sinn umschreiben zu lassen.5
Das Phänomen Karl May wurde erst möglich, nachdem die Rotationspresse im Jahr 1846 erfunden worden war. Mit Hochgeschwindigkeit wurden illustrierte Magazine gedruckt, die einen unstillbaren Hunger nach volkstümlichen Erzählungen möglichst nahe am Zeitgefühl stillen sollten.
Deutschland bewegte damals die Auswanderung in die Vereinigten Staaten, eine Frühform des deutschen Kolonialismus, denn Deutschland hatte zu diesem Zeitpunkt noch keine Kolonien. Der deutsche Auswanderer hatte überlegen und gütig zu sein und der farbige Ureinwohner schwach und hilflos.
Eine engere Verbindung zwischen Kolonialismus und Rassismus auf der einen und den Schriften Karl Mays auf der anderen Seite kann man sich kaum vorstellen.
Als mediengeschichtliches Phänomen ist Karl May unübertroffen. Der schreibgewandte Sachse gilt mit einer weltweiten Gesamtauflage von weit über 200 Millionen Exemplaren und Übersetzungen in 46 Sprachen als der meistübersetzte deutsche Autor, vielleicht einer der meistgelesenen Schriftsteller der Welt.6
Die Definitionsmacht seiner Schriften, was das Selbstwertgefühl und die Selbstdarstellung der Indianer anbetrifft, kennt keine Parallele. Man stelle sich einmal vor, wie es sich für einen indianischen Menschen anfühlt, mit "Kriegsgeheul" und Wörtern wie "Manitu", "Wigwam", "Squaw" und "Mokassin" begrüßt zu werden – Begriffe, die Karl May in Umlauf gesetzt hat und die den Indianern ihre Mitmenschlichkeit nehmen.
Wie deutsch sind Karl Mays Indianer?
Dass Mays Schriften wenig oder gar nichts über die Kulturen der amerikanischen Ureinwohner aussagen, dagegen sehr viel über einen bestimmten Zug deutscher Gesinnung, ist amerikanischen Anthropologen aufgefallen, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Mentalität der einstigen Kriegsgegner "aus der Ferne" studieren sollten (Studies of Culture at a distance).
In einem 1953 vom Defense Technical Information Center veröffentlichten Aufsatz Karl May, Living a Dream weist die Anthropologin Nelly S. Hoyt (1920-2015) darauf hin, dass May als Angehöriger der Unterschicht in seinem Lebenswerk eine Verwandlung vollzogen hat, die als typisch gelten kann. In seinen frühen Erzählungen flüchtete er aus einem freudlosen und beschädigten Leben in eine Traumwelt, in der er seine eigene Persönlichkeit und Lage vergessen und verdrängen konnte7:
Er übersetzte die Realität in einen Traum, und dieser Traum schien seinerseits Wirklichkeit zu werden. Damit erfüllte er das Bedürfnis der breiten Massen, ihre "beständige Sehnsucht (nach Zugehörigkeit) in eine Form zu gießen, die von den oberen Klassen akzeptiert werden konnte.
Mit zunehmendem Erfolg versuchte May, seinen Stoff durch mythologische Elemente aus heroisch-deutscher Vergangenheit zu veredeln. Er verknüpfte seine Gestalten mit der Siegfried-Legende und dem noch älteren Heiland-Motiv des Germanentums8:
Die Vermischung alter germanischer und christlicher Elemente in einer heroischen Legende – das ist es, was deutsch ist. (…) Hierin ist Karl May (…) ewig-deutsch.
Nelly S. Hoyt
Wie deutsch sind also Karl Mays Indianer? Ist es nicht an der Zeit, aus dem Karl-May-Komplex der Deutschen wieder eine Karl-May-Frage zu machen? Und ist die Unkenntnis namhafter Vertreter des öffentlichen Lebens, die einen verhängnisvollen Mythos trotzig über die reale Begegnung mit Menschen anderer Kulturen stellen, nicht erschreckend?9
Dem Ravensburger Verlag ist zu danken, die Diskussion – zum wiederholten Mal – angestoßen zu haben. Dem Karl-May-Verlag hat es nicht geschadet, denn der meldet gestiegene Verkaufszahlen für seine Bücher im Weihnachtsgeschäft.10