Die Linke am Rand der Spaltung: Welche Chancen hätten zwei neue Parteien?
Einer "Wagenknecht-Partei" werden in Umfragen gute Chancen eingeräumt. Auch die "Progressiven" wären dank enttäuschter Grünen-Wähler nicht chancenlos. Aber es gibt mehr als zwei Strömungen.
Als offensichtlich zerstrittener Haufen schaffte es die Partei Die Linke 2021 mit 4,9 Prozent nur dank ihrer drei Direktmandate in den Bundestag. Auf den ersten Blick gibt es zwei Hauptströmungen, die beide überzeugt sind, ohne die jeweils anderen besser dran zu sein – oder wenn die jeweils anderen leiser werden. Das haben die jeweils Wortführenden aber offensichtlich nicht vor. Wäre eine Spaltung am Ende für alle Beteiligten die beste Lösung?
Eine Partei mit der "linkskonservativen" Sahra Wagenknecht in einer Schlüsselposition könnte bei der nächsten Bundestagswahl sogar ein zweistelliges Ergebnis erreichen. Dies ergab im November eine Civey-Umfrage für den Spiegel. Bundesweit gaben 20 Prozent der Befragten an, sie könnten sich "auf jeden Fall" vorstellen, eine neue Partei von Wagenknecht zu wählen, weitere zehn Prozent gaben "eher ja" an.
Nicht zuletzt die AfD müsste dann laut der Umfrage um Stimmen fürchten. Wagenknecht selbst hatte mehrfach betont, dass sie Wähler, die Die Linke an die AfD verlor, nicht für Rassisten hält, sondern für Protestwähler.
Spekulativer ist, welches Potenzial die "progressive" Strömung alleine hätte. Aber auch sie könnte im Fall einer baldigen Trennung zumindest Chancen haben, 2025 über die Fünf-Prozent-Hürde zu kommen – zumindest gäbe es eine Zielgruppe, denn es dürften viele enttäuschte Grünen-Wähler nach Alternativen suchen, wenn die einstige Friedens- und Ökopartei in dieser Legislaturperiode so weitermacht wie bisher.
Wenn Partei-Promis nicht zum Programm stehen können
Viele haben die Grünen gewählt, weil sie sich von ihnen konsequentes Handeln gegen die Klimakatastrophe erhofft hatten. Die Linke hatte diesbezüglich zwar das ambitioniertere Programm, aber durch die frühere Fraktionschefin Wagenknecht und ihren Promi-Status wurde die Außenwahrnehmung diesbezüglich verschoben.
Denn Wagenknecht steht persönlich der Klimabewegung skeptisch gegenüber und zeigt meist mehr Verständnis für Ängste um den Industriestandort Deutschland als für die Angst vor dem weltweiten ökologischen Kollaps. In ihrem Buch "Die Selbstgerechten - Mein Gegenprogramm für Gemeinsinn und Zusammenhalt" kamen auch die besorgten Jugendlichen von Fridays for Future eher schlecht weg.
Dann wurde nach der Bundestagswahl auch noch Klaus Ernst, der zum "Wagenknecht-Lager" der Linken gezählt wird und wegen seines langjährigen Privatautos den Spitznamen "Porsche-Klaus" trägt, mit dem Segen der Bundestagsfraktion Vorsitzender des Klima- und Energieausschusses. Seither konnte Die Linke in Umfragen nicht von der Enttäuschung profitieren, die sich unter Grünen-Wählern schon seit Ende der Koalitionsverhandlungen mit SPD und FDP breit macht.
So gesehen ist es verständlich, dass die "Progressiven" nun klare Verhältnisse anstreben. Das Problem ist nur, dass sie genauer betrachtet selbst aus mindestens zwei Strömungen bestehen. Ein Teil der "Progressiven" ist auf Landesebene an Regierungen beteiligt und hat dies in den letzten Jahren auch auf Bundesebene schnellstmöglich angestrebt.
Lippenbekenntnisse wichtig, Abschiebepraxis verzeihlich?
Die Ergebnisse der bisherigen Regierungsbeteiligungen waren oft ernüchternd: Während Sahra Wagenknecht von Parteifreunden scharf kritisiert wurde, weil sie die Forderung nach offenen Grenzen als unrealistisch abtat, hatte der bundesweit einzige linke Ministerpräsident Bodo Ramelow in Thüringen sogar einen Winterabschiebestopp verweigert, ohne in seiner Partei vergleichbar scharfem Gegenwind ausgesetzt zu sein. Offenbar galt hier die Logik vermeintlicher Sachzwänge.
Die Gefahr, dass auch erklärte "Progressive" bei Koalitionsverhandlungen und im Regierungsalltag wesentliche Inhalte aufgeben, wurde aber schon im Aufruf zu einem Vernetzungstreffen am vergangenen Wochenende als unwesentlich abgetan. Der Streit um die Frage des Mitregierens und die Voraussetzungen dafür sei "lange höher gewertet" worden "als der Kampf um den progressiven Charakter der Partei und die Grundwerte des Programms", heißt es in dem Aufruf.
Allianzen bildeten sich meist entlang der ersten Frage. Diese blockierten lange ein Zusammengehen in der zweiten und die Fähigkeit in offener Debatte, aus gemeinsamen Werten einerseits und differenten Ansichten andererseits, konstruktive und zukunftsfähige progressive Positionen zu entwickeln.
Aus dem Aufruf "Progressive Linke müssen reden"
Unterzeichnet hatten sowohl "Bewegungslinke" wie Parteivize Lorenz Gösta Beutin, der in der letzten Legislaturperiode als klimapolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion oft bei außerparlamentarischen Protestaktionen anwesend war, als auch "Regierungslinke" wie Elke Breitenbach, die in der "rot-grün-roten" Koalition des Berliner Abgeordnetenhauses sitzt, beziehungsweise "Reformer" wie der ehemalige Bundestagsabgeordnete Thomas Nord und die Bundessprecherin des "Forums demokratischer Sozialismus", Luise Neuhaus-Wartenberg.
Wer den progressiven Forderungen treu bleiben will, muss aber erfahrungsgemäß davon ausgehen, dass ein Bündnis mit den "Regierungslinken" fragil ist. Auf Landesebene können sie sich noch darauf berufen, keinen Einfluss auf Bundesgesetze zu haben. Auf Bundesebene – als kleinster Koalitionspartner an der Seite von SPD und Grünen – könnten sie das nicht.
Streng genommen müsste, wer Wagenknechts Äußerungen zur Flüchtlingspolitik als rechtsoffen oder rechtspopulistisch kritisiert hat, dann auch bei Koalitionsverhandlungen für offene Grenzen "fighten", um glaubwürdig zu bleiben. Er oder sie dürfte dann nicht einknicken, nur weil ein Minister- oder Staatssekretärsposten winkt.
So gesehen traf sich am Wochenende ein Wohlfühlbündnis, das vielleicht nur von Dauer sein kann, wenn es nie in die Verlegenheit kommt, von SPD und Grünen auf Bundesebene überhaupt als möglicher Partner gesehen zu werden.
Gemessen am Parteiprogramm kritisieren die Beteiligten Wagenknecht zum Teil aus den richtigen Gründen – zum Teil aber auch aus den falschen.
Burgfrieden mit der Nato?
Wagenknecht entfernt sich in Sachen Klimaschutz und Migrationspolitik von der programmatischen Grundlage – ein Teil ihrer Kritiker tut dies eher in außenpolitischen Fragen und will weg von jeder grundsätzlichen Kritik an der Nato. Im aktuell noch geltenden Erfurter Programm von 2011 heißt es dazu noch:
Wir fordern die Auflösung der Nato und ihre Ersetzung durch ein kollektives Sicherheitssystem unter Beteiligung Russlands, das Abrüstung als ein zentrales Ziel hat.
Parteiprogramm Die Linke
Angesichts des Krieges, den die Putin-Administration seit Februar dieses Jahres gegen die Ukraine führt, wird das so schnell natürlich nicht umsetzbar sein. Die Frage ist nur, ob die Nato, die vor allem im Nahen und Mittleren Osten selbst oft das Recht des Stärkeren vor das Völkerrecht gestellt hat, allein dadurch zu einer Art wehrhaftem Ponyhof wird, dass sich mit Russland nun eine weitere Großmacht ins Unrecht setzt.
Die Doppelmoral der Nato-Staaten ist offensichtlich: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan darf aktuell mitbestimmen, wer der Nato beitritt, weil sein Land bereits Mitglied ist – dabei ist es weder nach innen demokratischer als Russland, noch hält es wesentlich mehr vom Völkerrecht.
Selbst die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags haben schon vor vier Jahren Zweifel angemeldet, ob die türkische Operation "Olivenzweig" in Nordsyrien mit dem Völkerrecht vereinbar war. Das gilt laut Gutachten erst recht, nachdem inzwischen "besatzungsrechtliche Elemente" etabliert wurden. In Auftrag gegeben hatte das Gutachten eine Bundestagsabgeordnete der Linken: Sevim Dagdelen.
Vor diesem Hintergrund müssen Linke nicht so tun, als sei die Nato nun zum Ponyhof mutiert – und sich nicht mit Aussagen wie "Wer nicht für die Nato ist, ist für Putin" moralisch erpressen lassen. Aus der Sicht linker Kriegsgegnerinnen und Kriegsgegner ist diese "Logik" so absurd wie die Behauptung, wer gegen die Hells Angels sei, müsse unbedingt die Bandidos unterstützen.
Wagenknecht wird aktuell von vielen Seiten vorgeworfen, eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur mit Russland sei weltfremdes Wunschdenken. Allerdings argumentiert sie ihrerseits gegen die Forderung der "Progressiven" nach offenen Grenzen auch damit, dass deren praktische Umsetzung in naher Zukunft schwierig sei.
Ihre Begründung ist, dass ein Gemeinwesen ohne nationalstaatlichen Geltungsraum nicht funktionieren könne: Schließlich seien Demokratie und Sozialstaat im nationalstaatlichen Rahmen erkämpft worden und würden mit ihm auch wieder verschwinden, ist sie überzeugt.
Ein Miteinander ohne soziale Verwerfungen trotz offener Grenzen verweist Wagenknecht also ebenso ins Reich der fernen Utopien, wie es viele ihrer Kritiker mit ihrer Vorstellung vom dauerhaften Frieden mit Russland tun.
Manche der innerparteilichen Gegner springen dabei über jedes Stöckchen, wenn Wagenknecht von politischen Gegnern außerhalb der Partei als "Kreml-Lobbyistin" diffamiert wird, so bald sie auch nur die Wirksamkeit von Sanktionen gegen Russland anzweifelt und sagt, Deutschland schade sich damit eher selbst und Putin lache darüber.
Nachdem bekannte Mitglieder der Partei – wie der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Ulrich Schneider – wegen Wagenknechts Äußerungen zum Ukraine-Krieg, seiner Vorgeschichte und den Sanktionen aus der Partei ausgetreten waren, folgte im September der ehemalige Bundestagsabgeordnete und Finanzpolitiker Fabio De Masi mit einer etwas anderen Begründung: Ihm gingen der Mangel an Streitkultur und die Unmöglichkeit einer sachlichen Diskussion über Sinn und Wirksamkeit der Sanktionen gegen den Strich. Sein Austritt sei "nicht Teil einer Flügelauseinandersetzung", betonte er.
Wenn sich programmatisch berechtigte Kritik an Wagenknecht in Sachen Klimapolitik und Internationalismus ausgerechnet mit Pro-Nato-Opportunismus mischt, wird es kompliziert – und um das einzugestehen, sind viele der "Progressiven" wohl zu harmoniebedürftig.
In der "Berliner Erklärung", die nun als Ergebnis des Vernetzungstreffens veröffentlicht wurde, wird eine Positionierung zur Nato vermieden – sie wird nicht einmal erwähnt. Auf folgende Sätze zum Ukraine-Krieg konnten sich auf dem Vernetzungstreffen unter dem Motto #DieLinkeMitZukunft am 3. Dezember aber alle einigen:
Unsere Solidarität gilt den Menschen in der Ukraine, die leiden, Widerstand leisten oder flüchten müssen. Wir erkennen das Recht des ukrainischen Volkes auf Selbstverteidigung gegen den russischen Angriff entsprechend der UN-Charta Art. 51 an.
Zur Beendigung des russischen Krieges gegen die Ukraine fordern wir den vollständigen Rückzug russischer Truppen aus der Ukraine und einen entsprechenden Waffenstillstand, der den Weg zu ernsthaften Friedensverhandlungen freimacht. Unsere Solidarität gehört ebenso den Menschen in Russland, die sich gegen den Krieg stellen, desertieren und dafür Verfolgung befürchten müssen.
Aus der "Berliner Erklärung"
Im Bundestags-Wahlprogramm der Linken von 2021 hatte die Partei klargestellt, dass sie die Aufrüstungsverpflichtungen der Nato in Höhe von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für ihre Mitgliedsstaaten ablehnt. Zum Thema Aufrüstung und erhöhten Militärausgaben im Zuge der im Februar verkündeten "Zeitenwende" findet sich in der "Berliner Erklärung" allerdings kein Wort.