Die Nato macht uns nicht sicherer, sondern unsicherer
Trump provoziert mit Nato-Bashing, die Europäer sind aufgeregt. Dabei zeigt ein Blick auf die Allianz, dass sie den Kontinent immer mehr destabilisiert. Ein Kommentar.
Trumps Bemerkungen, er würde Nato-Staaten nicht zur Hilfe kommen, wenn die nicht die geforderten zwei Prozent des BIP an Militärausgaben erreichen, haben Europa aufgeschreckt.
Man kann Trumps Nato-Bashing, seine impliziten Drohungen, die Nato im Zweifelsfall zu verlassen, sicherlich als unipolare Rhetorik, ausgerichtet auf seine Wählerschaft, abhaken.
Warum hängen die Europäer an der Nato?
Denn Trump und seine Berater wissen sehr wohl, dass das westliche Militärbündnis ein sehr effektives Instrument ist, um Europa an sich zu binden. Warum sollte ein US-Präsident es aus der Hand geben?
Die Frage ist vielmehr, warum die Europäer so an der Nato hängen.
Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine hat die Nato eine starke Aufwertung in den EU-Ländern erfahren. Ihr Ansehen und ihre Strahlkraft dringen heute selbst in gesellschaftliche Schichten vor, in denen "militärische Lösungen" und Aufrüstung früher strikt abgelehnt wurden.
Insofern funktionierte der Ukraine-Krieg wie ein intellektueller Durchlauferhitzer: Das Militärische, die Nato stehen heute hoch im Kurs.
Russland: Militärischer Koloss oder "Papiertiger"?
Aber das ist falsch, während die Annahmen, auf denen das positive Bild der Nato fußt, infrage gestellt werden sollten.
Eine Kernprämisse, mit der die Existenz der Nato, ihr Sinn, gerechtfertigt wird, ist, dass das atlantische Bündnis für Sicherheit und Verteidigung steht und sie garantiert.
Doch die Frage ist: Gegen wen benötigen die EU-Staaten, der reichste und wehrhafte Kontinent der Welt, den Schutz von den USA? Wer würde sich trauen, sie anzugreifen?
Russland hat es nicht einmal geschafft, das an der eigenen Grenze gelegene Kiew unter Kontrolle zu bringen. Im Vergleich zu den Nato-Staaten ist das Land eher "Papiertiger" als der heraufbeschworene militärische Koloss, der den Westen abräumen kann. In Europa gibt es Atomwaffen. Und so weiter.
Nato ist kein Verteidigungsbündnis
Wir brauchen die Nato nicht, um sicher in Europa zu leben. Die Militärallianz ist auch kein Verteidigungsbündnis, das auf die Sicherheit der Bevölkerungen in Europa ausgerichtet ist.
Sie wurde deswegen nicht gegründet und betrieben. Das wurde den Menschen zwar über Jahrzehnte erzählt. Aber dadurch wird es nicht wahrer.
Offiziell hieß es nach dem Zweiten Weltkrieg, die USA wollten damit der Gefahr aus der Sowjetunion begegnen.
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Doch erst die Wiederbewaffnung der BRD innerhalb der Nato führte zur Gegenreaktion, dem Warschauer Pakt. Die Russen und Osteuropäer konnten sich nämlich noch gut an die Zeit zwischen 1933 und 1945 erinnern.
Als die UdSSR der Nato beitreten wollten
Zuvor hatte die UdSSR versucht, der Nato beizutreten, da man eine erneute Militarisierung Deutschlands befürchtete. Auf der sogenannten Berlin Konferenz im Februar 1954 hatte der russische Außenminister Molotow zudem eine Alternative vorgeschlagen: eine pan-europäische, kollektive Sicherheitsarchitektur.
(Der französische Präsident Charles de Gaulles sollte einen ähnlichen Vorschlag machen, eine gemeinsame Sicherheitszone vom Atlantik bis zum Ural. Putin schloss vor der Ukraine-Krise immer wieder im Sinne der KSZE daran an, um ebenfalls eine pan-europäische Lösung politisch zu forcieren.)
Zugleich sollte dabei Deutschland wiedervereinigt und neutralisiert werden.
Es gab vor und nachher weitere Vorschläge vonseiten Moskaus, eine unabhängige europäische Lösung zu finden. Die USA lehnten alle ab, weil sie davon ausgeschlossen worden wären.
USA: Die Angst vor der europäischen Neutralität
Vor allem wollte Washington ein unabhängiges, neutrales Europa verhindern – egal, was das für die Sicherheit der Europäer bedeutete.
Fakt ist: Die Nato war eine Reaktion auf die "gefährlichen Angebote" Russlands, Europas Sicherheit unabhängig von den USA zu gestalten.
Der US-Außenminister Dean Acheson selbst stellte damals fest, dass die Gründung des Bündnisses weniger dadurch motiviert sei, dass man erwartete, dass Stalins Truppen möglicherweise Westeuropa angreifen würden, sondern aus Angst vor einem neutralen Europa, einer "dritten Kraft", eine "suizidale Abkürzung", so Acheson.
Außenpolitik-Analyst Melvyn Leffler stellt in einer wissenschaftlichen Untersuchung fest, dass die US-Planer damals davon "überzeugt waren, dass die Sowjets tatsächlich interessiert daran waren, einen Deal hinzubekommen, Deutschland wiederzuvereinigen und die Spaltung Europas zu überwinden."
Davor hatten die USA die größte Angst. Die Zerstörung von europäischer Neutralität war der Motor, der die Nato vorantrieb.
Nato und die globale Machtstellung der USA
Nach dem Ende des Kalten Kriegs hätte man, wenn man an die Kalte-Kriegs-Erzählung glaubte, die Nato sei dafür da, die "russischen Horden" von Westeuropa fernzuhalten, die Nato eigentlich auflösen müssen. Die Sowjetunion war zusammengebrochen. Keine russischen Horden mehr.
Das Gegenteil geschah. Die Nato wurde gegen Versprechen, die man Gorbatschow machte, weiter nach Osten ausgedehnt. Die westliche Militärallianz rückte immer näher an die russischen Grenzen, während Moskau warnte und deutlich signalisierte, dass Georgien und die Ukraine rote Linien seien für ihre eigenen Sicherheitsbedürfnisse.
Die Ausrichtung der Nato wurde auch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs weiter von Washington vorgegeben. In einem geleakten Pentagon-Papier von 1992 zur US-Verteidigungsstrategie wird die "globale Machtstellung" der USA reklamiert. Es dürfe kein unabhängiges europäisches Sicherheitssystem geben.
Vielmehr muss die von den USA dominierte Nato das "Hauptinstrument der westlichen Verteidigung und Sicherheit sowie das Instrument für den Einfluss der USA und ihre Beteiligung an europäischen Sicherheitsangelegenheiten" bleiben.
"Humanitäre Interventionen"
Zugleich wurde offen eingestanden, dass die Nato eine Interventionsarmee ist. Es fanden nun "Out-of-Area"-Einsätze oder "humanitäre Interventionen" zum Beispiel im Kosovo oder in Afghanistan statt.
Der damalige Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer teilte auf einer Nato-Tagung im Juni 2007 mit, dass "die Nato-Truppen Pipelines bewachen müssen, die Öl und Gas transportieren, das für den Westen bestimmt ist". Sie sollen insgesamt die von Tankern genutzten Seewege und andere "entscheidende Infrastrukturen" des Energiesystems schützen.
Ein Jahr später, auf der Nato-Tagung 2008, unterstrichen die USA ihr Bestreben, die Ukraine wie Georgien in die Nato aufzunehmen – um Russland einzudämmen. Vor allem Frankreich und Deutschland sperrten sich.
Daher wurde vorerst keine offizielle Einladung ausgesprochen. Doch die USA drängten weiter, was die Spannungen mit Moskau erhöhte.
Seit dem Ausbruch der Ukraine-Krise 2014 und dem Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar 2022 beherrscht in westlichen Ländern das Narrativ vom "unprovozierten Krieg" den Diskurs. Doch jeder kann wissen, dass er nicht unprovoziert gewesen ist (wenn auch kriminell und illegitim).
Ein zentrales, wenn auch nicht das einzige Element der Provokation war, die Ukraine enger an die USA und die Nato anzuschließen.
Ukraine-Krieg als Geschenk für die USA
Der Angriff von Putin war schließlich ein Geschenk für die US-Außenpolitik-Planer. Europa wandte sich von Russland ab und den USA zu.
Es folgten Aufrüstung, weitere Nato-Mitglieder (Finnland, Schweden), das vorläufige Ende der Idee europäischer Neutralität und eines unabhängigen Wegs, Sicherheit auf dem Kontinent zu garantieren.
Das Ergebnis: Europa ist heute unsicherer als viele Jahrzehnte zuvor, nicht trotz, sondern wegen der Nato, die Europa zunehmend von Russland abtrennte und Spaltprozesse in Gang setzte.
Die Ukraine erhielt beim Nato-Gipfel im letzten Jahr dann nur Sicherheitszusagen, weiter keine formelle Einladung. Für die Ukraine sieht es im Moment schlecht aus, weil das Land für die USA und Nato nicht von genuinem, sondern lediglich strategischem Interesse ist.
Diejenigen, die immer gesagt haben, dass man Russland nicht trauen darf, dass Moskau expansionistisch ausgerichtet ist und Europa, wenn der Zeitpunkt günstig erscheint, überfallen wird, scheinen nun in der veröffentlichten Debatte recht zu haben.
Moskau ist nicht irrational und suizidal
Wer jedoch Moskau unterstellt, Pläne zu hegen, EU-Länder zu attackieren, muss der russischen Führung Irrationalität und Suizidalität unterstellen. Machtambition (einmal unterstellt) reicht eben nicht, entscheidend ist Machtreichweite, die Putin wie jeder andere russische Präsident sicherlich einzuschätzen weiß. Und die reicht nicht mal bis Kiew.
Am Ende ist es so: Die Nato ist der falsche Weg, war es immer, um Sicherheit für die Bürger:innen in Europa herzustellen. Sie ist dafür nicht gegründet worden, ihre Organisation und ihre Ausrichtung dienen diesem Ziel nicht. Im Gegenteil. Das Militärbündnis ist ein stetiger Quell der Destabilisierung und Polarisierung.
Denn die Nato ist ein Militärbündnis der Starken, betrieben von den USA, mit imperialen Motiven, nicht derjenigen, die sich schützen müssten im Verbund.
Europa wird mit Russland leben müssen, das Land wird nicht einfach verschwinden. Es braucht daher eine pan-europäische Lösung, die wechselseitig Sicherheit garantiert.
Vielleicht sollten die Europäer Trumps Äußerungen zum Anlass nehmen, einen unabhängigen, neutralen Weg erneut ins Auge zu fassen.
Aber klar ist auch: Im Moment ist das ein bloßer Wunschtraum.