"Die Staatsanwaltschaft hätte schon Ermittlungen gegen Herrn Steinmeier aufnehmen müssen"

Der Hamburger Rechtsanwalt Bernd Rosenkranz erklärt im Telepolis-Interview, warum er Strafanzeige gegen den amtierenden Außenminister gestellt hat

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Im Fall Kurnaz wird die Kritik an der damaligen SPD-Grünen-Bundesregierung lauter. Die Debatte um eine deutsche Mitschuld an dem Unrecht hat eine neue Qualität bekommen, nachdem der Hamburger Rechtsanwalt Bernd Rosenkranz Anfang dieser Woche Strafanzeige gegen den derzeitigen Außenminister und damaligen Chef des Kanzleramtes, Frank-Walter Steinmeier, gestellt hat. Ihm und drei weiteren hochrangigen Funktionären des Bundes wirft er unter anderem Beteiligung an Freiheitsberaubung und Körperverletzung vor. Nun prüft die Berliner Staatsanwaltschaft die Anklage. Im Interview mit Telepolis spricht Rosenkranz über seine Beweggründe, Strafanzeige zu erstatten, über das Vorgehen der ehemaligen Bundesregierung und über die Tatenlosigkeit der deutschen Staatsanwaltschaft in dem Fall.

Herr Rosenkranz, Sie haben im Fall Murat Kurnaz Strafanzeige gegen den amtierenden Außenminister Frank-Walter Steinmeier gestellt. Was erhoffen Sie sich davon?

Bernd Rosenkranz: Ich möchte mit der Anzeige erreichen, dass die Staatsanwaltschaft parallel zu den laufenden parlamentarische Untersuchungsausschüssen Ermittlungen aufnimmt.

Der Fall wird in Deutschland eigentlich von Ihrem Kollegen Bernhard Docke betreut. Was hat Sie zu der Anzeige bewogen?

Bernd Rosenkranz: Das stimmt, und ich will dem Kollegen da auch keine Konkurrenz machen. Ich habe die Strafanzeige allein aufgrund des Verhaltens von Herrn Steinmeier gestellt. Am Dienstag vergangener Woche hatte er in einem Interview erklärt, dass ihn die Leidenszeit von Herrn Kurnaz berührt habe. Ich halte diese Äußerung des Außenministers in Anbetracht seines Vorgehens für heuchlerisch. Deswegen habe ich diesen Schritt unternommen.

Auf welche Argumente stützen Sie sich dabei?

Bernd Rosenkranz: Die Berliner Staatsanwaltschaft wird mit der Strafanzeige aufgefordert zu untersuchen, ob ein Anfangsverdacht bezüglich einer Beteiligung Herrn Steinmeiers und anderer an Freiheitsberaubung gegeben ist. Zu prüfen ist auch eine mögliche Beteiligung an Körperverletzung im Amt. Das schließt nicht aus, dass noch andere Straftaten begangen wurden.

Sie haben die laufenden parlamentarischen Ermittlungen schon erwähnt. Derzeit sind zwei Ausschüsse im Bundestag damit befasst, eine mögliche Verstrickung deutscher Regierungsstellen in Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen. Kommt Ihre Anzeige da nicht zu früh?

Bernd Rosenkranz: Nein, das finde ich nicht. Sobald Fakten bekannt werden, die einen Anfangsverdacht begründen, sollte die Staatsanwaltschaft eigentlich von sich aus Ermittlungen aufnehmen. Offensichtlich hat sie im vorliegenden Fall aber darauf gewartet, dass sie dazu aufgefordert wird. Meiner Ansicht nach ist ein Anfangsverdacht gegen Herrn Steinmeier und andere gegeben und deswegen habe ich die Strafanzeige erstattet.

Sie drängen dabei nicht nur auf Ermittlungen gegen den amtierenden Außenminister, sondern auch gegen andere hochrangige Mitarbeiter der SPD-Grünen-Regierung.

Bernd Rosenkranz: Ja, ich habe Ermittlungen auch gegen Innenstaatssekretär August Hanning, den ehemaligen Innenstaatssekretär Claus Henning Schapper und gegen den Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes, Ernst Uhrlau, gestellt.

Die Bundesregierung war zum Beistand verpflichtet

In der Presse wurden sie mit der Aussage zitiert, Minister Steinmeier habe als Chef des Kanzleramtes seine "Garantenpflicht" verletzt. Was bedeutet das?

Bernd Rosenkranz: Das ist ein juristischer Begriff, der die so genannten Unterlassungsdelikte betrifft. Man kann Straftaten aktiv begehen. Man kann sich aber auch strafbar machen, indem man etwas, wozu man verpflichtet war, unterlässt. Die Garantenstellung hat man dann, wenn man durch vorherige Handlungen eine Gewähr für die Betreffenden übernommen hat. Und eben das sehe ich als gegeben an. Allein durch die Tatsache, dass die damalige Bundesregierung im September 2002 Anlass gesehen hat, eine Delegation nach Guantánamo zu entsenden ...

... es wurden drei Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes geschickt ...

Bernd Rosenkranz: ... - und allein das hat eine Verpflichtung geschaffen. Herr Kurnaz wurde über zwei Tage hinweg mehrere Stunden lang verhört. Zunächst also wurde die Veranlassung einer direkten Kontaktaufnahme mit Herrn Kurnaz gesehen. Dann stimmte man mit den US-Amerikanern darin überein, dass keine weitere Veranlassung für eine Inhaftierung Herrn Kurnaz' bestehe. Und auf einmal hieß es: Das ist doch ein Türke, da soll sich die Türkei drum kümmern. Also: Die Entsendung der BND-Delegation und die anfänglichen Gespräche über eine Freilassung schaffen meiner Meinung nach ganz klar eine Garantenpflicht.

Die Bundesregierung war also zum Beistand verpflichtet, obwohl Murat Kurnaz türkischer Staatsbürger ist?

Bernd Rosenkranz: Ja, eben durch die Garantenpflicht. Die Bundesregierung hat Gewähr für Leib und Leben dieses Menschen übernommen. Hätte die Bundesregierung ihre Zuständigkeit von vornherein abgelehnt, stünde sie heute anders da. Sie hat aber nicht nur eine Verantwortung übernommen. Nach dem Verhör in Guantánamo wurde sogar erklärt, man stimme mit der US-amerikanischen Seite in der Einschätzung überein, dass es sich bei dem Inhaftierten um einen Naivling handelt, der wahrscheinlich gar nicht wusste, mit wem er es in Pakistan zu tun hatte und von dem keine Gefahr mehr ausginge. Nur einen Monat später hieß es dann in einer Sitzung in Berlin, an der Herr Steinmeier teilgenommen hat, man wolle ihn doch nicht zurück. Da waren ja selbst die US-Amerikaner wie vor den Kopf geschlagen.

Der Links-Abgeordnete und ehemalige Richter am Bundesgerichtshof, Wolfgang Neskovic, wirft der Bundesregierung zudem die "Herbeiführung einer Gefahrenlage" vor, weil deutsche Geheimdienste den USA vermutlich Informationen über Murat Kurnaz haben zukommen lassen.

Bernd Rosenkranz: Das muss natürlich auch untersucht werden. Im Frühjahr 2003 sollen neue Verdachtsmomente von US-amerikanischer Seite vorgebracht worden sein. Auf deutscher Seite war das offenbar durchaus gewollt. Darauf weisen auch andere Berichte hin: Nachdem eine US-Bundesrichterin Anfang 2005 festgestellt hat, dass von Herrn Kurnaz keine Gefahr ausgeht, soll Herr Steinmeier im Herbst noch einmal nachgefragt haben, ob noch doch noch irgendetwas gegen den Inhaftierten vorliegen würde. Eine Belastung von Herrn Kurnaz war offenbar gewollt.