Die Türkei ist nicht Russland: Deutsche Wahlkampfhilfe trotz Massenverhaftungen

Nato-Partnerland nicht nur durch Erdbeben in desaströsem Zustand. Präsident Erdogan bangt um seine Wiederwahl. Die Opposition lebt nun umso gefährlicher.
Am kommenden Sonntag wird in der Türkei gewählt. Der autokratisch herrschende Präsident Recep Tayyip Erdogan muss um seine Wiederwahl fürchten. Noch nie standen die Umfragewerte für ihn bei einer Wahl so schlecht wie jetzt. Faire Wahlen werden weder im Inland noch im Ausland erwartet.
Schlechte Wahlprognosen für Erdogans Parteienbündnis
Der Präsidentschaftskandidat des kemalistisch-konservativen Bündnisses "Sechsertisch", Kemal Kilicdaroglu liegt nach dem Meinungsforschungsinstitut ORC Arastirma mit 49,3 Prozent knapp vor Erdogan, dem lediglich 42,4 Prozent prognostiziert werden.
Erdogans Wahlbündnis Cumhur ittifaki (Volksallianz) mit seiner islamisch-konservativen AKP, der ultranationalistischen MHP, der nationalistisch-religiösen BBP sowie der islamistischen YRP käme im Parlament auf rund 40,3 Prozent der Stimmen. Der oppositionelle "Sechsertisch", bestehend aus der kemalistischen Partei CHP, der nationalkonservativen Iyi-Parti, sowie den konservativen Parteien DEVA, GP, DP und SP kann derzeit rund 43,7 Prozent für sich verzeichnen.
Das Bündnis der Grünen Linkspartei (Yesil Sol Parti), unter deren Dach auch die HDP Kandidat:innen aufgestellt hat, kommt den Umfragen zufolge auf 9,3 Prozent. Diesem Bündnis kommt die Rolle des Königsmachers zu, wenn es den "Sechsertisch" bei der Präsidentschaftswahl unterstützt. Die aktuelle AKP-MHP-Regierung wird dies mit allen Mitteln zu verhindern versuchen.
Bundesregierung schweigt zu Massenverhaftungen
In der letzten Woche gab es in 19 überwiegend kurdischen Provinzen im Südosten der Türkei mehr als 250 Festnahmen. Betroffen sind vor allem Journalist:innen, Rechtsanwält:innen und Kandidat:innen der Yesil Sol Parti. "Die Grundrechte der Menschen werden in höchst willkürlicher Weise beeinträchtigt", empörte sich die Anwaltskammer von Diyarbakir auf Twitter.
Wie üblich unterliegen die Ermittlungen der Geheimhaltung, die Angeklagten und ihre Verteidiger erfahren nichts über die Art und die Gründe der gegen sie erhobenen Anklage.
Die Bundesregierung hüllt sich dazu in Schweigen, auch ein Großteil der deutschen Medien reagiert bislang eher verhalten. Wäre dergleichen in Russland im Vorfeld der Wahlen passiert, würden alle unsere Medien berichten, schrieb der Kommunikationswissenschaftler Kerem Schamberger am 30. April auf seiner Facebook-Seite. Es gäbe Porträts der Verhafteten – und Politiker:innen aller deutschen demokratischen Parteien würden sich zu Wort melden.
Vergangene Woche hat zwar der Bundesvorstand der Grünen zur Abwahl Erdogans aufgerufen und die Freilassung aller politischen Gefangenen gefordert, allerdings wurden die in Deutschland inhaftierten kurdischen Oppositionellen dabei nicht erwähnt. In einem Kommentar der kurdischen Nachrichtenagentur ANF heißt es dazu:
Gemeint sind wahrscheinlich die in der Türkei Inhaftierten, nicht die derzeit 13 kurdischen Aktivist:innen in deutschen Gefängnissen. Sie sind angeklagt wegen des umstrittenen Paragraphen 129a/b, an dem die Bundesregierung eisern festhält und sich damit eben jene Definition von "Terrorismus" zu eigen macht, auf die sich auch Erdoğan beruft bei all seinen Verhaftungswellen gegen jedwede Opposition.
Proteste in Deutschland kommen hauptsächlich aus der Zivilgesellschaft: Anita Starosta, Referentin für Syrien, Türkei und Irak bei der NGO Medico international, berichtet, viele der Verhafteten hätten sich zuletzt in der Erdbeben-Nothilfe engagiert.
Der Nahostexperte der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV), Kamal Sido, ist überzeugt, dass es sich bei den Verhaftungen um Versuche der Wahlmanipulation handelt. Von der Bundesregierung erwartet Sido diesbezüglich ein Einwirken auf ihren Nato-Partner Türkei – insbesondere auf Präsident Erdogan: Der Terror gegen die friedliche Opposition und Zivilgesellschaft müsse eingestellt werden.
Mehmet Tanriverdi von der konservativen Kurdischen Gemeinde Deutschland (KGD) sieht das laut einem Bericht der Frankfurter Rundschau ähnlich: "Wenige Wochen vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Türkei will man in den kurdischen Gebieten mit solchen Maßnahmen selbstverständlich die Wahlen zugunsten Erdogans beeinflussen".
250 Verhaftete, das ist eine bloße Zahl. Doch dahinter verbergen sich Menschen, die sich für Demokratie engagieren. Inhaftiert wurden beispielsweise: Şahin Tümüklu, der Ko-Vorsitzende der Sozialistischen Partei (ESP), die Journalistin Nadiye Gürbüz (Nachrichtenagentur ETHA, die Yeşil Sol Parti-Kandidatin für İstanbul Burcu Ayyıldız, für Izmir Meryem Yıldırım, für Eskişehir Müslüm Koyun sowie Uğur Ok (ESP-Parteirat) und der YSP-Kandidat Bedran Çoğaltay, der mit dem Kölner Sozialwissenschaftler Adil Demirci vor fünf Jahren in der gleichen Gefängniszelle saß.
Der Journalist Sedat Yılmaz wurde zusammen mit der ebenfalls verhafteten Journalistin Dicle Müftüoğlu von Diyarbakır ins 1.000 Kilometer entfernte Ankara transportiert. Beide blieben während der 15-stündigen Fahrt in Handschellen und ohne Essen und Trinken. Yılmaz berichtete seinem Anwalt, dass er beim Ausstieg aus dem Auto von einem Polizisten so heftig gegen den Kopf geschlagen worden sei, dass er nun unter Hörverlust leide.
Auch seine Ehefrau Selma Yilmaz und seine Schwester Filiz Sedat wurden festgenommen. Am frühen Samstagabend wurden in Istanbul die sechs Agentur- und Zeitungsreporterinnen Pınar Gayıp, Zeynep Kuray, Eylem Nazlıer, Serpil Ünal, Esra Soybir und Yadigar Aygün festgenommen. Weitere Betroffene sind der kurdischen Nachrichtenagentur ANF namentlich bekannt.
Ein Staatsanwalt forderte inzwischen auch die Festnahme des in Istanbul beliebten Spitzenkandidaten der Yesil Sol Parti, Sırrı Süreyya Önder. Am 2. Mai wurden in Istanbul weitere 32 Mitglieder (HDP), des Demokratischen Kongresses der Völker (HDK) und des Jugendrats der Grünen Linkspartei (Yesil Sol Parti) verhaftet. Hinzu kommen weitere Personen, die zur Verhaftung ausgeschrieben sind.
Ist die Türkei ein "failed state"?
Das Land befindet sich nicht nur wegen des Erdbebens in einem desaströsen Zustand. Die Liste der Verfassungsbrüche, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, der Korruption und der Mafiastrukturen bis in die höchsten Regierungsstrukturen in der Türkei ist lang. Das Bildungssystem ist rückwärtsgewandt. Staatliche Ämter sind mit teils fachfremden, AKP-loyalen Personen besetzt. Aufgrund der desaströsen Wirtschaftspolitik der AKP ist die Mittelschicht nahezu verschwunden.
Um die Erdbebenschäden zu beseitigen und rund 6,5 Millionen Häuser zu sanieren, werden 100 bis 200 Milliarden Dollar benötigt, die das Land nicht hat. Durch Erdogans Politik wurden sämtliche Reserven aufgebraucht. Wahlkampfversprechen, wie zum Beispiel er nicht einhalten können. Die Nettoreserven der Zentralbank, ohne Swaps, belaufen sich auf etwa 40 bis 45 Milliarden US-Dollar.
Der Bankensektor ist handlungsunfähig, da er jeden Tag mit neuen Vorschriften und mündlichen Anweisungen aus dem Palast Erdogans konfrontiert wird. Die Auslandsverschuldung hat mittlerweile rund 450 Milliarden Dollar erreicht. Die Inflationsrate liegt offiziell bei 50 Prozent, in der Realität ist sie wahrscheinlich doppelt so hoch. Dies berichtet Mahfi Egilmez bei Mediascope.tv über den Nachlass der Erdogan-Regierung, sollte er die Wahlen verlieren.
Er überlässt der neuen Regierung nicht nur leere Kassen und einen gespenstischen Schuldenberg, sondern auch eine (reale) Arbeitslosenquote von 22 Prozent und ein Leistungsbilanzdefizit von etwa 5,5 bis sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Die Risikoprämie des Landes (CDS-Prämie) ist auf über 500 Basispunkte gestiegen (über 300 Basispunkte gelten als extrem risikoreich).
Eine neue Regierung kann den niedrigen Leitzins der Zentralbank, der Ursache vieler Probleme ist, nicht schnell korrigieren, da er weit unter der Inflationsrate liegt.
Das kollektive Verdrängen der Fakten zur Krise des Landes
Ein großes Problem ist nach Egilmez, dass sich die Bevölkerung der existenziellen Krise des Landes nicht bewusst ist. Obwohl sich viele nur noch das Nötigste leisten können, glauben die Menschen das Bild, das die regierungsnahen Medien von gut gefüllten Supermärkten, überfüllten Restaurants und Cafés für alle, zeichnen. Sie bringen ihre eigene Armut nicht mit der Politik der AKP-Regierung in Zusammenhang.
Das mag absurd klingen, ist aber auch bei uns in Deutschland bei Interviews vor den türkischen Wahlbüros zu hören. Präsident Erdogan habe der Türkei Wohlstand gebracht, Straßen, Autobahnen und Häuser bauen lassen, den neuen Flughafen in Istanbul – und, und, und.
Die vielen Toten und Obdachlosen durch das Erdbeben im Februar, deren neu gebaute Häuser wegen der Nichteinhaltung der Bauvorschriften wie Kartenhäuser einstürzten, scheinen vergessen, betreffen die türkischen Wähler:innen hierzulande nicht – oder sie werden nicht mit der AKP-Politik in Verbindung gebracht, weil die Folgen dieser Naturkatastrophe eben Schicksal sind.
So kommunizierten dies die Staatsmedien, die auch bei uns von morgens bis abends auf dem Bildschirm vieler Familien aus der Türkei flimmern. So setzen die Menschen ihre Hoffnung in die laut AKP-Regime "plötzlich" entdeckten Öl- und Erdgasfelder, obwohl völlig unklar ist, ob diese fossilen Energiereserven überhaupt längerfristig anzuzapfen sind – von den ökologischen Auswirkungen in der aktuellen Klimakrise ganz zu schweigen.
Aber Ökologie hat Regierende in der Türkei noch nie interessiert: für Großprojekte wurden Wälder abgeholzt und Ökosysteme zerstört, die Staudammprojekte im Südosten des Landes zerstörten nicht nur im Inland historisch wertvolle Stätten wie Hasankeyf und die Flora und Fauna. Syrien und der Irak leiden seit Jahren wegen der Aufstauung des Euphrat und Tigris aufgrund des Wassermangels.
Selbst Erdogans Palast mit 1.000 Zimmern wurde in einem Naturschutzgebiet illegal gebaut. Vergessen sind auch die Warnungen vieler Geologen vor neuen Erdbeben, besonders in der Marmararegion um Istanbul. Seit Jahren ist bekannt, dass sich die seismischen Spannungen stetig erhöhen.
Als sicher gilt, dass sich irgendwann in naher Zukunft ein großes Erdbeben bei der Millionen-Metropole Istanbul ereignen wird. Die Frage ist nicht ob, sondern wann genau die Katastrophe eintritt. Ohne sofortige Maßnahmen zur Sicherung von Häusern und der Infrastruktur ist eine weitaus größere Katastrophe als beim Erdbeben im Februar vorprogrammiert. Dies wäre das Ende der Türkei und jeder Regierung, egal welcher.
Stattdessen sind die Golfstaaten und Russland die neuen Hoffnungsträger der türkischen Regierung. Sie sollen Geld und Investitionen in Prestigeobjekte stecken. Dass sie das nicht uneigennützig tun, interessiert die Clique um Erdogan nicht. So oder so: Die Türkei wird weiter am Tropf hängen – die Frage ist nur, an wessen Tropf. Der Traum von einer türkischen Großmacht, einem großtürkischen Reich ist ausgeträumt – egal, wer künftig regieren wird.
Wahlkampfhilfe aus Deutschland: Fastenbrechen mit CSU-Granden
Der türkische Wahlkampf ist seit Tagen auch in unseren Medien Thema. Viele berichten durchaus kritisch über das Erdogan-Regime. In der deutschen Politik sieht das anders aus.
Keine Stellungnahmen zu den Massenverhaftungen, Schweigen zu den Wahlkampfveranstaltungen in den Ditib Moscheen und AKP-nahen Organisationen wie der vom Verfassungsschutz beobachteten AKP-Lobbyorganisation UID (Union Internationaler Demokraten). Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder und Ex-Innenminister Günther Beckstein (beide CSU) treffen sich sogar mit der UID zum Fastenbrechen.
Die Grünen veröffentlichen ein von ihnen gedrehtes Video über ein Kinderfest der Zweigstelle der türkischen Religionsbehörde Diyanet, der Ditib. Damit das nicht gleich auffällt, wird der Ditib-Verein als türkische Gemeinde Hilden bezeichnet. Die Stadt Nürnberg erlaubte sogar Wahlplakate der AKP bis zum 5. Mai.
Der Essener Politikwissenschaftler und Türkei-Experte Burak Çopur fragte empört im Gespräch mit der Redaktion Frankfurter Rundschau, ob Oberbürgermeister Marcus König (CSU) es im Gegenzug genauso befürworten würde, wenn Wahlplakate des russischen Präsidenten Wladimir Putin in seiner Stadt aufgehängt werden würden?
In einem offenen Brief an den Oberbürgermeister der Stadt forderte er das Abhängen der Plakate – "im Sinne des guten Rufs der Stadt". Eine solche Plakataktion gefährde das friedliche Zusammenleben der Kulturen. Oberbürgermeister König ergreife damit indirekt Partei an der Seite einer höchst aggressiven und christen- und europafeindlichen Diktatur, so Çopur.
Angesichts der Mitverantwortung der türkischen Regierung an den hohen Opferzahlen des Erdbebens im Februar sei es zudem moralisch höchst verwerflich und eine Verhöhnung aller Opfer des Erdogan-Regimes, nun ständig sein Konterfei auf den Straßen von Nürnberg zu sehen. Nach Protesten von Çopur und zivilgesellschaftlicher Organisationen soll nun die Sondernutzungssatzung in Nürnberg geändert werden. Für die aktuelle Wahlwerbung kommt das vermutlich zu spät, es sei denn, die unbestätigten Meldungen stimmen, dass die Plakate klammheimlich wieder abgehängt wurden.