Die Ukraine – das hochgerüstete Armenhaus Europas

Verlassene Fabrik. Kiew, Ukraine. 2008. Bild: Ввласенко, CC BY-SA 3.0

Es ist an der Zeit, die Ukraine nüchtern zu betrachten. Sie ist ein Armutsstaat mit kaum einer Perspektive der Entwicklung

Um die Ukraine ranken sich viele Illusionen. Eine der größten ist die Vorstellung, dass die Ukraine bis zum Kriegsbeginn ein entwickelter Staat war, dessen Bevölkerung ein gutes Leben führte.

Nichts liegt weiter von der Realität entfernt. Die Ukraine war und ist das ärmste Land Europas. Ihre Wirtschaftskraft lag 2020 bei rund 3.700 US-Dollar pro Einwohner. (Vgl. Tab. 1) Vergleichbare Staaten mit ähnlicher Wirtschaftskraft sind der Hungerstaat Sri Lanka, das Bürgerkriegsland Libyen und die Drogenwirtschaft El Salvador.

Ein plakativer Vergleich: Das Bruttoinlandsprodukt der Ukraine von rund 155 Milliarden US-Dollar entspricht dem Berlins. Die Stadt hat aber weniger als ein Zehntel der Einwohner.

Die Bundesrepublik überwand das ukrainische Niveau der Produktivität bereits vor einem halben Jahrhundert – Anfang der 1970er-Jahre. Gemessen an der deutschen Wirtschaftskraft ist die Ukraine ein "Dritte-Welt-Land". Der Abstand zu Deutschland ist so gigantisch, dass der heutige deutsche Lebensstandard für die meisten Ukrainer nur ein unerreichbarer Traum bleiben wird – es sei denn, sie wandern aus.

Wirtschaftliche Stagnation

Ursache der wirtschaftlichen Unterentwicklung ist ein völliges Scheitern der volkswirtschaftlichen Transformation nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Die großen Nachbarn der Ukraine realisieren seit Ende der 1990er-Jahre eine vergleichsweise dynamische Wirtschaftsentwicklung. Bis in die Gegenwart vervielfachten sie ihre Wirtschaftskraft pro Einwohner. (Vgl. Tab. 2)

Die Ukraine hingegen blieb schon in den 1990er-Jahren zurück. In der zweiten Hälfte der 2000er-Jahre kam selbst der verlangsamte Fortschritt zum Erliegen. Seit rund 15 Jahren stagniert die Volkswirtschaft auf niedrigem Niveau. Die hohen Wachstumsraten in guten Jahren kompensierten gerade so die wiederholten massiven Wirtschaftseinbrüche.

Die dauerhafte Stagnation zeigt sich auch in der Lohnentwicklung Je nach konjunktureller Lage schwankte der durchschnittliche Bruttolohn seit 2009 zwischen 200 und 350 Euro im Monat. Für die Mehrheit der Ukrainer existieren kaum noch soziale oder wirtschaftliche Fortschritte.

Mangelnde zivilisatorische Entwicklung

Auch andere Indikatoren, wie der Human Development Index oder der Peace Index, dokumentieren eine umfassende Nichtentwicklung der ukrainischen Gesellschaft. (Vgl. Tabelle 3)

Kai Kleinwächter arbeitet als selbstständiger Dozent der Volkswirtschaftslehre.

Bis auf die Republik Moldau schufen alle Nachbarstaaten deutlich bessere Lebensbedingungen für ihre Bevölkerung. Das manifestiert sich vor allem in einer deutlich höheren Lebenserwartung. Seit Mitte der 1970er-Jahre stagniert diese in der Ukraine zwischen 72 und 67 Jahren. Gegenwärtig liegt nur noch Russland auf demselben Niveau.

Die sehr negative Bewertung für den gesellschaftlichen Frieden (Peace-Index) resultiert nicht nur aus dem permanenten Bürgerkrieg im Donbass und Luhansk - Hauptentschuldigung für alle Missstände.

Auch in anderen Bereichen, wie der Verbreitung von Waffen in der Bevölkerung, politischem Extremismus bzw. Terrorismus sowie Gewaltverbrechen und Morde "erreicht" die Ukraine negative Spitzenwerte. In Europa geht es nur der russischen Bevölkerung ähnlich.

Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung gehen kontinuierlich zurück. Lagen sie in den 1990er-Jahren noch bei über einem Prozent des BIP, schaffte die Ukraine 2018 gerade einmal 0,5 Prozent. Deutschland steigerte in diesem Zeitraum seine Ausgaben von rund zwei Prozent auf über drei Prozent.

Die sinkende Bedeutung der Forschung zeigt, dass die ukrainische Wirtschaft und mit ihr die Gesellschaft sukzessive den Anschluss an die modernen Hochtechnologien verliert. Nicht zufällig sind die Hauptexportgüter der Ukraine unverarbeitete Agrarprodukte, Eisen, Stahl sowie Kohle und andere Rohstoffe – zentrale Handelsgüter des 19. Jahrhunderts

Der demografische Niedergang der Ukraine

Die Bevölkerungssituation der Ukraine ist durch niedrige Lebenserwartung, geringe Geburtenzahl und hohe Abwanderung gekennzeichnet. Eine ausgleichende Zu- oder Rückwanderung existiert nicht. Entsprechend findet sich die Bevölkerungsentwicklung im freien Fall. Außer den ex-jugoslawischen Staaten verzeichnete kein europäisches Land in den letzten Jahrzehnten einen solchen Rückgang der Bevölkerung.

Die Anzahl der Einwohner ging von ihrem Höhepunkt 1990 mit fast 52 Millionen Einwohnern bis 2020 auf knapp über 37 Millionen zurück. Hinzu kommen noch circa drei Millionen Einwohner im Donbass, Luhansk und auf der Krim.

Durch den laufenden Krieg beschleunigt sich der Schrumpfungsprozess dramatisch. Bereits jetzt gingen über 6,5 Millionen Menschen ins Ausland Die wenigsten werden zurückkehren.

Ursache – schwacher Staat und Überrüstung

Eine Vielzahl von Faktoren beeinflussen den wirtschaftlichen Niedergang. Insbesondere zeigt die staatliche Regulierungspolitik massive Defizite. Ob die Effektivität und Qualität der Regulierung oder die Durchsetzung des Rechtsstaates – in diesen Dimensionen gleicht die Ukraine eher Russland, Belarus und der Türkei als ihren EU-Nachbarn.

Ähnlich Russland ist sie dabei noch von einer fest im Alltag verankerten Korruption gekennzeichnet. Selbst wenn die gesellschaftlichen Eliten eine positive Entwicklung der Gesellschaft zum Ziel hätten, wäre die Erreichbarkeit für die nächsten Jahrzehnte äußerst fraglich. Es fehlen schlicht die staatlichen Strukturen.

Zum schwachen Staat tritt eine forcierte Überrüstung. Die meisten osteuropäischen Staaten strebten seit den 1990er-Jahren an, mindestens zwei Prozent der Wirtschaftskraft für militärische Zwecke auszugeben. Die relativ hohen Militärausgaben – oft gekoppelt an umfassende Waffenimporte – sind eine zentrale Ursache für die volkswirtschaftliche Schwäche dieser Region.

Bei der Ukraine ging aber seit 2014 jedes Maß verloren. Sie realisierte einen Prozess der gezielten und umfassenden Hochrüstung. 2020 lagen die realen ukrainischen Militärausgaben bei knapp unter sechs Mrd. US-Dollar. Dazu kommt noch ausländische Militärhilfe.

Allein die USA transferierten seit 2014 durchschnittlich 400 Millionen US-Dollar pro Jahr. Zusammengenommen erreicht der ukrainische Militäretat eine Größenordnung wie jener der Schweiz oder von Schweden (bei nur einem Viertel der Wirtschaftsleistung).

Die Militärausgaben entsprachen drei bis vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Nur Russland und Griechenland steckten anteilig mehr in die Rüstung. Die Ukraine hat sich offenbar systematisch auf einen größeren Krieg vorbereitet. Ohne die monetäre Unterstützung von Wirtschaft und Militär durch den Westen, wäre die (zivile) Wirtschaft längst zusammengebrochen.

Schlussfolgerungen

1. In der Ukraine stagniert seit etwa 15 Jahren die Wirtschaftskraft. Inzwischen ist sie das Armenhaus Europas. Auch bei anderen zentralen Indikatoren der gesellschaftlichen Entwicklung bleibt die Ukraine zurück. Folge des Niedergangs ist ein sich beschleunigender demografischer Rückgangs- und Auswanderungsprozess.

2. Ursache der Nichtentwicklung sind vor allem chronisch miserable Staatsstrukturen, strukturelle Korruption und eine permanente Überrüstung. Die Ukraine gleicht bei diesen Faktoren Russland bzw. den Staaten der GUS. Von ihren westlichen EU-Nachbarn trennen die Ukraine inzwischen zivilisatorische Welten. Ein Teil der ukrainischen Eliten nutzt die Fehlentwicklungen zur persönliche Bereicherung. Die Mobilisierung von politisch motivierten Geldströmen aus dem Ausland ist dabei ein essenzieller Teil der volkswirtschaftlichen Strategie. Ohne diese wäre die Ukraine längst zusammengebrochen.

3. Es ist schwer einzuschätzen, wie der gegenwärtige Krieg endet. Für die Ukraine gibt es jedoch keine Siegesoption im Sinne einer zukünftigen Wohlstandsentwicklung. Bereits jetzt hat sie fast alle Entwicklungspotentiale verloren. Die Wirtschaft ist um mehr als die Hälfte eingebrochen. Kommen noch Gebietsverluste, langfristig zerstörte Infrastruktur, eine verseuchte Umwelt, zehntausende Kriegstote und -versehrte sowie Millionen dauerhaft ins Ausland Geflüchtete hinzu, bleibt von der Ukraine nur ein Schatten zur Vorkriegszeit. Wahrscheinlich ein Schicksal wie das des Kosovo – dauerhafte Unterentwicklung und Alimentierung, Isolation und anhaltende Instabilität.

4. Bereits vor dem Krieg war ein zeitnaher EU-Beitritt eine lächerliche Illusion. Nehmen die EU-Staaten mit ihrem Veto-Recht die Beitritts-Kriterien Rechtsstaatlichkeit, gesellschaftliche Entwicklung sowie wirtschaftlicher Produktivität ernst, hat die Ukraine in den nächsten Jahrzehnten keine Chance auf Mitgliedschaft.

Setzen die gefährlichen Großmacht-Illusionisten trotzdem eine Aufnahme durch, ist es wohl das Ende einer vertieften EU-Integration. Möglicherweise droht dann sogar der Zerfall. Es wäre nicht das erste Imperium, das an "strategischer Überdehnung" zugrunde geht.

Es ist an der Zeit, die Ukraine nüchtern zu betrachten. Sie wird bis weit ins 21. Jahrhunderts brauchen, um sich auf ein akzeptables Niveau zu entwickeln. Bis dahin ist sie kein Kandidat für eine Aufnahme in die EU oder NATO. Die Ukraine muss einen eigenen, realistischen Weg zum Wohle ihres Volkes finden.

5. Deutschland darf sich nicht in einen Prozess der Verelendung hineinziehen lassen. Die bereits absehbare Zukunft – verstärkt durch den Krieg Russland-Ukraine und seine globalen Folgen – mit klimatischen Zusammenbrüchen, technologischen Umwälzungen, sozialen Konflikten und erratischen Niedergängen wird alle produktiven Kräfte zur Stabilisierung erfordern.

Beteiligungen an sinnlosen Kriegen wird keine der Herausforderungen lösen, sondern dringend benötigte Ressourcen verschleudern.

Die Forderungen der Friedensbewegung sind und bleiben zukunftsorientiert richtig – keine Waffenlieferungen, sofortiger Waffenstillstand und Verhandlungen für ein Ende des Krieges sowie der Aufbau einer neuen Friedensordnung in Europa mit allen Staaten unseres Kontinents.

Kai Kleinwächter arbeitet als selbstständiger Dozent (Themen: Volkswirtschaftslehre, Marketing, Unternehmensführung). Derzeit studiert er Politikwissenschaft / Geografie auf Lehramt an der Universität Potsdam. Er ist Mitarbeiter der Redaktion von WeltTrends – Zeitschrift für internationale Politik. Ebenfalls bloggt der Autor auf seiner Homepage zeitgedanken.blog. ORCID-Number: 0000-0002-3927-6245